by Laura Kneidl
Ich schwang die Beine über die Bettkante und ging ins Badezimmer. Das erste Mal seit Tagen konnte ich mein Spiegelbild ansehen, ohne Trauer, Enttäuschung oder Einsamkeit in meinen Augen zu lesen.
Als ich nach unten kam, saßen Lucien und Amicia bereits am Tisch in der Küche. »Guten Morgen«, begrüßte ich die beiden, schnappte mir einen Teller und begann, die Rühreireste aus der Pfanne zu kratzen.
»Da hat aber jemand gute Laune«, stellte Amicia fest.
»Mhm«, brummte Lucien in seine Kaffeetasse hinein, die Augenbrauen spöttisch hochgezogen.
Ich setzte mich. »Du hast den Beitrag gesehen, oder?«
Lucien nickte. »Micah hat ihn mir geschickt.«
Ich verdrehte die Augen. »Natürlich, was auch sonst.«
Nachdem wir fertig gefrühstückt hatten, stiegen wir zu dritt in Luciens Wagen. Zuerst fuhren wir Amicia in die Schule und anschießend weiter zum MFC. Lucien parkte am Straßenrand, und gemeinsam schlenderten wir über den Campus zu unseren Vorlesungen.
Erst fiel mir nichts Merkwürdiges auf, doch dann bemerkte ich, dass einige Leute mich anstarrten. Das war mir zuvor noch nie passiert. Ich war praktisch unsichtbar unter all den Studierenden. Zumindest war ich das gewesen – bis Auri gleich zwei Fotos von mir mit seinen Tausenden von Followern geteilt hatte. Ich beschleunigte meine Schritte, da mir die Aufmerksamkeit nicht gefiel.
Lucien hielt problemlos mit mir Schritt und erzählte mir dabei irgendetwas von einer neuen Silikonmasse, die er ausprobieren wollte. Das mochte ich so an ihm. Er machte aus nichts eine große Sache, es sei denn, man wollte es.
»Würdest du Auri an meiner Stelle verzeihen?«, fragte ich in eine seiner Redepausen hinein.
Lucien schob den Träger seines Rucksacks hoch. »Das kann ich dir sagen, aber wenn ich dir einen Rat geben darf: No reason to stay, is a good reason to go .«
»Das Zitat kenne ich.« Ich runzelte die Stirn. »Woher war das noch mal?«
»Aus einem Camila-Cabello-Song.«
»Du hörst Camila Cabello?«, fragte ich ein wenig überraschter, als ich es vielleicht hätte sein sollen. Ja, Lucien liebte Metal, aber ich hatte schon ein paar seiner Playlists gesehen, und diese waren verdammt vielseitig.
»Nein, aber Brooklyn, und seitdem hört Amicia das rauf und runter.« Er zuckte mit den Schultern. »Ich muss allerdings zugeben, dass es ein wirklich guter Song ist, und das Zitat passt. Hör dir an, was Auri dir zu sagen hat. Wenn er dir einen guten Grund nennen kann, bei ihm zu bleiben, versuch, nicht nachtragend zu sein. Und wenn dem nicht so ist, ist er deine Zeit nicht wert. Du hast Besseres verdient.«
Ich hob eine Braue. »Wann war ich jemals nachtragend?«
»Ich mein ja nur.« Lucien machte eine vage Handbewegung.
Kurz darauf gaben unsere Handys beinahe synchron ein Surren von sich. Ich griff in meine Hosentasche. Es war eine neue Nachricht von Micah. Ich verdrehte die Augen, stutzte aber, als ich erkannte, was sie mir geschickt hatte: einen weiteren Link zu Instagram. Ich klickte darauf.
R. I. P. Tolkien
36. Kapitel
Ich starrte auf die zwei kleinen Wörter, die mir vom Display meines Handys entgegenleuchteten: R. I. P. Tolkien.
In den Kommentaren unter dem Bild rätselten die Leute, was es mit der kurzen Textzeile und dem Foto auf sich haben könnte. Manche hielten die Betitelung für einen Fehler. Andere glaubten, Auri hätte versehentlich ein falsches Foto gepostet. Nur ich erkannte die geheime Botschaft.
Tolkiens Todestag.
Herr der Ringe .
Der Film-Marathon.
Unser Date.
Das Foto war Erinnerung und Einladung zugleich. Auri wollte sich mit mir am Kino treffen. Und ich musste keine Sekunde darüber nachdenken, ob ich der Einladung folgen wollte oder nicht. Vielleicht war es ein Fehler, aber ich musste mit Auri reden. Ich brauchte Klarheit, was auch immer das am Ende bedeutete. Außerdem vermisste ich ihn schrecklich. Wir waren noch nie so lange voneinander getrennt gewesen. Nicht einmal während der Footballsaison. Manchmal war Auri tagelang mit seinem Team verreist, aber er war immer schnellstmöglich zu mir zurückgekommen. Und wir hatten telefoniert. Häufig und lang, und seine Stimme hatte mir geholfen, die Meilen zwischen uns zu vergessen. Aber wenn bei unserem Treffen irgendetwas schieflief, blieb mir nicht mal mehr das, sondern nur die Erinnerung.
Mit wild pochendem Herzen näherte ich mich dem Kino. Mir war kalt und warm zugleich. Mein Oberteil war durchgeschwitzt, während sich meine Kehle anfühlte, als hätte ich die Sahara verschluckt.
Ich entdeckte Auri sofort. Er lehnte an der Hauswand neben dem Eingang zum Kino. Zu seinen Füßen stand eine Tasche, in die er wahrscheinlich Kissen und eine Decke gestopft hatte, immerhin würden die Filme mit Pausen über zwölf Stunden laufen. Er trug eine locker sitzende Jogginghose und ein Herr der Ringe -Shirt, das unter seiner Jeansjacke nur zu erahnen war.
Sein Anblick brachte meine Schritte ins Stocken, doch ich zwang mich weiter vorwärts.
Als ich nur noch ein paar Meter von ihm entfernt war, hob Auri den Kopf. Zielgenau fing er meinen Blick auf, und ein warmes Gefühl durchströmte meinen Körper.
Gott, hatte ich diesen Mann vermisst.
Auri stieß sich von der Wand ab und kam mir entgegen, ein schüchternes Lächeln auf den Lippen, wie ich es an ihm noch nie gesehen hatte. »Hey«, begrüßte er mich. »Du … du bist gekommen.«
»Was soll ich sagen?« Ich blieb vor ihm stehen. »Ich liebe Herr der Ringe einfach.«
Ich konnte sehen, wie Auris Kehlkopf nervös auf und ab hüpfte. »Ist das der einzige Grund?«
»Nein«, gab ich zurück. »Aber der einzige, über den ich jetzt nachdenken möchte. Lass uns die Filme anschauen und anschließend reden. Bitte?« Ich wusste nicht, was das Gespräch mit Auri bringen würde. Ob ich danach mit ihm in unsere gemeinsame Wohnung zurückkehren würde. Oder ob ich Lucien darum bitten musste, meine verbliebenen Sachen von dort abzuholen. Falls Letzteres eintraf, wollte ich zumindest noch eine schöne Erinnerung schaffen.
»Was immer du möchtest«, erwiderte Auri.
Einen langen Moment rührte sich keiner von uns. Wir standen einfach nur da und starrten einander an, als wäre der jeweils andere ein Weltwunder, das wir zum ersten Mal sahen.
Schließlich räusperte ich mich. »Wir sollten …« Ich zeigte Richtung Eingang.
»Ja. Ja, natürlich. Nach dir.« Auri bedeutete mir vorzugehen.
Er zog die Tür auf, und gemeinsam betraten wir das nach Popcorn duftende Foyer. Nachdem wir unsere reservierten Karten am Schalter abgeholt hatten, reihten wir uns in der Schlange für die Snacks ein. Jeder bezahlte für sich selbst, da ich mich dabei nicht wohl gefühlt hätte, den Tag vollkommen auf Auris Kosten zu verbringen.
Wir gingen in den Saal und suchten uns gute Plätze ziemlich weit hinten. Auri saß gerne in der letzten oder vorletzten Reihe, da er mit seiner Größe niemandem die Sicht versperren wollte. Schweigend richteten wir uns gemütlich ein, und ich zog meine Schuhe aus, wie ich es im Kino immer tat, bevor ich die Füße auf den Sitz zog.
Es dauerte nicht lange, bis der erste Film startete. Die Leute klatschten vor Begeisterung, als das Licht im Saal gedimmt wurde und wir schließlich von Dunkelheit eingehüllt wurden.
Die ersten Minuten konnte ich mich kaum auf den Film konzentrieren. Ich war mir Auris Gegenwart nur allzu bewusst und nahm jede seiner Regungen wahr. Doch dann zog mich die Geschichte um Mittelerde wie jedes Mal aufs Neue in ihren Bann. Nur ab und an lenkte mich Auri ab, wenn er begann, die Dialoge leise mitzusprechen, aber es war eine gute Art der Ablenkung, die mich zum Lächeln brachte. Wir hatten die Filme schon so oft zusammen gesehen, dass ich seine Reaktion auf jede einzelne Szene vorhersehen konnte. Ihn so gut zu kennen, hatte etwas Befriedigendes an sich, das ich nicht wirklich beschreiben konnte. Auri war nicht meine bessere Hälfte, aber wir waren zwei verbundene Seelen.
Die erste Pause fand nach der Hälfte des ersten Films statt. Als die Lichter angingen, fühlte es sich an, wie aus einem Traum gerissen zu werden.
»Wow«, sagte Auri. »Ich finde, es sollte ein Gesetz geben, das
vorschreibt, dass HdR immer im Kino gespielt werden muss.«
»Oh ja«, pflichtete ich ihm bei. Die Bilder waren einfach gewaltig, nicht zu vergleichen mit der Wiedergabe auf unserem Fernseher.
Auri sah mich an. »Möchtest du noch etwas von draußen?«
»Nein, ich bin versorgt.« Ich deutete auf den Eimer Popcorn, der beinahe ganz voll war, da ich vor Anspannung kaum etwas hatte essen können.
»Okay.« Auri lehnte sich in seinem Sessel zurück.
Wir schwiegen, während sich die Leute um uns herum angeregt unterhielten, was die Stille zwischen uns nur noch merkwürdiger machte.
Ich räusperte mich. »Wie haben deine Teamkameraden auf den Cosplay-Beitrag reagiert?«
Auri hob die Augenbrauen. »Ich dachte, wir wollten erst später über uns reden.«
Ich lächelte. »Wir reden auch nicht über uns, sondern über dich.«
»Ach so.« Er wischte sich die Hände an seiner Jogginghose ab. »Den meisten war es egal. Ein paar haben sogar richtig nette Sachen gesagt, aber natürlich waren auch einige dämliche Kommentare von irgendwelchen Arschlöchern dabei, allen voraus Colby, aber damit komm ich klar. Es ist nur das College. Eine Zwischenstation. In spätestens zwei Jahren bin ich weg von hier, und Typen wie er gehören der Vergangenheit an.«
Ich schürzte die Lippen. »Glaubst du, es liegt an dem Buchstaben ›C‹?«
»Was?«
»Na ja … Colby. Cornell. Ich erkenne da ein Muster.«
Auri sah mich erwartungsvoll an. »Richtig, Cassie , Menschen mit C-Namen sind böse.«
»Oh … Okay.« Ich lachte. »Das war vielleicht eine eher undurchdachte Theorie.«
Als Auri in mein Lachen einstimmte, wurde mir ganz warm ums Herz. Augenblicke wie diesen hatte ich vermisst.
Ein Signalton ertönte, der die Leute zurück in den Saal rief. Kurz darauf wurde es wieder dunkel, und die Pause war zu Ende.
Wir schauten die Filme, und in den Unterbrechungen redeten wir über alles, nur nicht über uns. Mittelerde war auf der großen Leinwand ein Erlebnis. Alle drei Filme am Stück zu gucken, war allerdings wirklich eine Herausforderung. Nach dem Ende von Die zwei Türme war ich ziemlich müde und konnte nicht mehr aufhören zu gähnen. Auri besorgte uns einen Kaffee, ehe wir in den dritten Film starteten. Es war atemberaubend, und als der letzte Abspann lief, brach erneut Jubel im Saal aus.
Wir packten unsere Sachen zusammen und torkelten mehr aus dem Kino, als dass wir liefen. Unsere Beine waren steif und unsere Hintern eingeschlafen. Als ich testweise eine Kniebeuge machte, knackte irgendetwas in meiner Hüfte.
»Oh mein Gott, ich werde alt.«
Auri schnaubte. »Du wirst in ein paar Wochen einundzwanzig.«
»Vor fünfhundert Jahren wäre ich jetzt schon tot gewesen.«
»Ja, und vor achtzig Millionen Jahren hätte dich ein Velociraptor gefressen.«
Die Anspielung auf sein merkwürdiges Buchcover brachte mich abermals zum Lachen, aber ich wurde schnell wieder ernst. Der Filmabend war vorüber, und wir beide wussten, was jetzt kam.
Die Leute, die mit uns das Kino verließen, hatten sich längst in alle Richtungen zerstreut. Vermutlich, um nach Hause zu gehen und ins Bett zu fallen, denn über uns war längst ein sternenklarer Nachthimmel zu sehen.
»Wollen wir uns auf die Bank dort drüben setzen?«, fragte Auri vorsichtig.
Ich nickte, auch wenn ich fröstelte. Es war merklich frischer geworden, ein kühler Wind blies durch die Straßen von Mayfield. Ich verschränkte die Arme vor der Brust, aber das half nichts. Trotz meiner Strickjacke erschauderte ich.
Auri entging nicht, dass ich fror. Kommentarlos zog er seine Jeansjacke aus und legte sie mir um die Schultern.
Wir setzten uns. In der Stille, die zwischen uns herrschte, hörte ich das Rauschen des Blutes in meinen Ohren und vernahm das darin mitschwingende Pochen meines viel zu schnellen Pulsschlags. Während der Filme hatten sich meine Nerven beruhigt, aber jetzt war ich noch viel nervöser als zuvor.
»Ich muss mich bei dir bedanken«, sagte Auri aus dem Nichts.
Damit hatte ich nicht gerechnet.
»Du hast mir die Augen geöffnet«, fuhr er fort. Auf seinen Lippen ruhte die Andeutung eines Lächelns, dennoch waren die Sorge und der Schmerz in seinem Blick nicht zu übersehen. »Was du im Haus meiner Mom zu mir gesagt hast, hat mir das Herz aus der Brust gerissen, Cassie. Du bist der wichtigste Mensch in meinem Leben. Die Wochen ohne dich waren furchtbar, aber sie haben mich erkennen lassen, dass ich mich viel zu sehr von den Meinungen und Erwartungen irgendwelcher Leute, die mich einen Scheiß interessieren, habe ablenken lassen. Obwohl in Wahrheit nur eine Meinung zählt. Deine.«
Ich konnte fühlen, wie sich wie so häufig in den letzten Wochen ein Kloß in meinem Hals bildete. Doch dieses Mal waren es keine Tränen der Trauer und Enttäuschung, die sich einen Weg an die Oberfläche bahnten, sondern der Freude.
Auri holte tief Luft und griff nach meiner Hand. Seine Finger waren kalt und feucht wie meine eigenen. »Ich will, dass du in mir den besten Menschen siehst, der ich für dich sein kann.« Er blickte auf unsere Hände hinab, bevor er mir wieder in die Augen sah. »Denn wenn ich dich anschaue, Cassie, seh ich genau diesen Menschen. Du bist perfekt. Vielleicht nicht für andere, aber für mich. Du hast nichts weniger verdient. Und du solltest dich auch nicht mit weniger zufriedengeben.«
Bei seinen Worten wurde mir schwindelig.
»Ich bin vielleicht noch nicht ganz an dem Punkt, dieser Mensch für dich sein zu können, aber eines verspreche ich dir. Ich …« Auri stockte, als würde auch er mit den Tränen kämpfen. »Ich werde nicht aufhören, an mir zu arbeiten, bis ich es bin.« Er hob unsere Hände an seine Lippen, wie er es in jener Nacht im Hotel getan hatte, und hauchte einen sanften Kuss auf meine Knöchel. »Ich liebe dich, Cassandra King, mehr als Herr der Ringe . Und ich hoffe, du kannst mir verzeihen.«
»Auri …« Tränen ließen meine Sicht verschwimmen. Wie oft hatte ich mir vorgestellt, diese drei Wörter von Auri zu hören, und nun hatte er sie wirklich ausgesprochen.
Auri hob die andere Hand an mein Gesicht, um die salzigen Rinnsale, die sich einen Weg über meine Wangen bahnten, wegzuwischen. Seine Finger waren rau und liebevoll zugleich. »Bitte sag mir, dass das gute Tränen sind.«
Ich schniefte und lachte und nickte, und das alles gleichzeitig. Denn ich wusste nicht, wohin mit mir. Ich hatte das Gefühl, vor Glück platzen zu müssen. Ja, Auri hatte einen Fehler begangen, aber jedes seiner Worte ließ mich spüren, wie ernst er es meinte. Er liebte mich wirklich.
Mit zitternden Händen beugte ich mich vor und gab ihm einen Kuss. Er wirkte überrascht, als meine Lippen sanft über seine strichen. »Ich liebe dich auch«, wisperte ich dicht an seinem Mund und schlang meine Arme um seinen Hals, um ihn an mich zu ziehen und festzuhalten. Ich vergrub mein Gesicht an seinem Hals und atmete seinen vertrauten Duft ein. »Und ich hab dich vermisst.«
»Ich hab dich auch vermisst«, raunte Auri mit heiserer Stimme, als wäre er von meinem Liebesgeständnis ebenso überrumpelt wie ich von seinem. Er umfasste mein Gesicht mit beiden Händen und sah mir tief in die Augen. Sein Blick war erfüllt von Liebe. »Ich werde dich nie wieder so verletzen, Cassie. Lieber sterbe ich. Du stehst für mich an erster Stelle, von jetzt an und für immer.«
»Für immer«, hauchte ich, bevor ich Auri erneut küsste.
Epilog
Ein Monat später …
Das Surren der Tattoonadel verstummte.
Ricky wischte die überschüssige Tinte weg und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Mit zufriedenem Gesichtsausdruck musterte er sein neustes Werk. »Fertig. Wie gefällt es dir?«
Auri richtete sich auf und hob den rechten Arm, um sein Handgelenk zu betrachten. Seine Miene war die ganze Zeit über hart und verbissen gewesen, da ihm das Stechen des neuen Tattoos ziemliche Schmerzen bereitet hatte. Doch während er den Schriftzug betrachtete, der sich nun wie ein Armband um sein Handgelenk zog, hellte sich sein Gesicht auf. »Es sieht fantastisch aus.« Er wandte sich zu mir um. »Was meinst du?«
Aufgeregt beugte ich mich vor, um das Motiv zu bewunde
rn, das ich ausgewählt hatte. Vorsichtig nahm ich Auris Hand und drehte seinen Arm, um das Tattoo von allen Seiten zu betrachten. Es war ein Satz auf Quenya verfasst, einer von Tolkien erfundenen Sprache, dessen Bedeutung nur Auri und ich kannten. »Es ist toll geworden.« Ich ließ Auris Hand los, damit Ricky das frische Tattoo versorgen konnte.
»Und ihr wollt mir wirklich nicht verraten, was da steht?«, fragte er, nachdem er fertig war.
Auri und ich wechselten einen wissenden Blick und schüttelten gleichzeitig den Kopf.
»Nein.«
Ich schmunzelte. Der Schriftzug hatte gar keine besonders ungewöhnliche Bedeutung, aber das Geheimnis, das Auri und ich darum gestrickt hatten, machte die Leute neugierig. Und wir genossen den kleinen Insider viel zu sehr, um unser Wissen mit jemandem zu teilen.
Ricky seufzte. »Schade. So oder so bin ich fertig.«
Wir bedankten uns für die wunderbaren Tattoos – um mein linkes Handgelenk schlängelte sich der gleiche Schriftzug –, bevor Auri meine Hand in seine nahm, sodass die beiden Kunstwerke einander zugewandt waren.
Beim Hinausgehen warf Auri fünfzig Dollar in die Trinkgelddose, da Ricky uns die Tattoos umsonst gestochen hatte. »Mitarbeiter bezahlen nicht«, hatte er gesagt, und anscheinend schloss das auch deren Partner ein.
Ricky hatte mich fest angestellt, nachdem Julian seinen Job gekündigt hatte. Er hatte eine Aushilfsstelle in der Architekturfirma angeboten bekommen, in der er sein Praktikum absolviert hatte. Er arbeitete dort nun fünfzehn Stunden die Woche neben dem Studium. Keine Minute mehr, das war Micahs Bedingung gewesen.
»Wollen wir noch was essen gehen?«, fragte ich Auri und deutete zu dem Mexikaner auf der anderen Straßenseite.
Er zog mich weiter. »Wir haben noch genug zu Hause.«
Ich stutzte. Das war merkwürdig. Auri war riesig, er aß praktisch immer für zwei, weshalb er sich eigentlich keine Gelegenheit für eine Mahlzeit entgehen ließ.