Liebe ist so viel mehr

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Liebe ist so viel mehr Page 3

by Lee Winter


  Mi Na schrie auf, als als Requiem noch einmal an der Angelschnur zog.

  »Antworte!«

  Die Frau presste ein »ja« hervor, ihr Gesicht war schmerzverzerrt.

  »Nun ja, Pluspunkte gibt es für deine Kreativität. Die Ausführung war jedoch mehr als mangelhaft.«

  Eines der Peace-Zeichen hinterließ einen bizarren Abdruck auf der Wange der Asiatin. Requiem hätte beinahe gelacht.

  »Warum hast du mich nicht einfach getötet, als ich auf der Liege lag. Zu viel Sauerei? Zu schwierig, die Schweinerei hinterher wegzuputzen?«

  »Während du mir den Rücken zudrehst?« Mi Na bekam kaum genügend Luft zum Sprechen. »Du glaubst, dass ich keine Ehre besitze?«

  »Keine Ehre?«, wiederholte Requiem. »Du klingst ja sogar wie sie. Wer hat dich angeheuert? Der Abschaum von der Fleet Crew? Oder jemand anderes?«

  »Keiner. Das hier ist nur für mich. Für die Ehre meiner Familie.«

  Familienehre. Requiem lockerte ihren Griff. Sie hatte recht gehabt: Das dumme Mädchen war keine Killerin. Wundervoll. Eine Zivilistin auf Rachefeldzug, die offensichtlich ein gewisses Training genossen hatte.

  »Die Ehre deiner Familie? Was soll das heißen? Nabi und ich waren zum Schluss keine Feinde mehr.«

  »Du hast ihr das Herz gebrochen. Sie hat es mir erzählt. Du hast sie gebrochen zurückgelassen. Und dann … habe ich herausgefunden, dass du sie umgebracht hast. Du hast sie erschossen, als sie versucht hat, deinen Auftraggeber zu beschützen.«

  Requiem schwieg für einen Moment und ließ die Anschuldigung sacken.

  »Ich habe sie nicht getötet.« Den Rest konnte sie schlecht leugnen. Aber sie trug nicht die Verantwortung für Nabis unerwiderte Gefühle.

  »Du hast sie benutzt! Sie wie Dreck behandelt. Und Sal hat gesagt, dass du sie umgebracht hast. Ich habe jedes Recht, ihren Tod zu rächen. Er hat mich ausgebildet, um gegen dich zu kämpfen.«

  Requiem seufzte. Saliya Govi. Das neue Oberhaupt der Fleet Crew. Frisch aus dem Gefängnis entlassen, wenn man ihren Quellen Glauben schenken konnte. Nachdem Requiem die gesamte australische Unterwelt hintergangen hatte, war er von den übrig gebliebenen Gangmitgliedern der Klügste gewesen. Schon lange hatte sie sich gefragt, wann jemand herausfinden würde, dass sie hinter all dem gesteckt hatte. Natürlich hatte Sal das nicht mit Sicherheit wissen können. Aus diesem Grund musste er Mi Na manipuliert und Requiem auf den Hals gehetzt haben. Sollte sie scheitern, konnte er seine Hände in Unschuld waschen.

  Hinterlistiges Schwein.

  »Ich habe deine Schwester nicht getötet«, sagte Requiem ärgerlich. »Sal führt nie etwas Gutes im Schilde. Sie ist an ihren Wunden gestorben, als sie auf der Flucht vor der Polizei angeschossen wurde.«

  »Erzähl keinen Scheiß! Sie hatte es nicht verdient, in einer schmutzigen Seitengasse zu verrecken, als wäre sie Müll. Ihr Leben hat etwas bedeutet. Sie hat mir etwas bedeutet.«

  Mit ein paar schnellen Handgriffen befreite sich Mi Na. Requiem ließ die junge Frau los und sprang zurück.

  Mi Na tat es ihr gleich und rieb sich über die roten Linien auf ihrem Hals. Die beiden betrachteten sich abschätzend.

  »Ich habe sie nicht getötet«, wiederholte Requiem. »Mi Na, deine Schwester und ich, wir konnten uns nicht töten. So war die Beziehung zwischen uns. Ungesund und kompliziert, aber für Auftragsmörder kommt das fast einer Freundschaft gleich.«

  Mi Na vergrub das Gesicht in den Händen. Tränen quollen zwischen ihren Fingern hervor und sie schluchzte leise.

  Requiem beobachtete das gefühlsduselige Schauspiel reichlich angewidert und ihr wurde übel. Sie war nicht gut in so etwas. Die emotionalen Abgründe der Menschen hatte sie nie wirklich verstanden. Sie wusste lediglich, wie man sie ausnutzte. Langsam baute sich auch das Adrenalin wieder ab, als die unmittelbare Bedrohung schwand. Sie fühlte, wie sie wieder ruhig wurde und sich der wilde, ungezähmte und gefährliche Teil von ihr zurückzog, bis Requiem wieder in den Hintergrund trat.

  Natalya ging vor Mi Na in die Knie und wartete, bis die Frau sie anschaute. »Ich war da. Ich hielt Nabi in den Armen, als sie starb«, erklärte sie ruhig. »Ich habe sie festgehalten, als sie ihren Frieden mit der Welt schloss und auch mit mir. Sie hatte zu viel Blut verloren, um noch gerettet werden zu können. Sie hatte einen guten Tod. Ohne Angst, voller Stärke, und ich glaube, ihre Familie wäre stolz auf sie gewesen. Ich war es zumindest, und das habe ich ihr auch gesagt.«

  Mi Na schaute sie aus verweinten Augen misstrauisch an.

  »Ich hätte dich eben problemlos töten können«, fügte Natalya hinzu. »Aber das habe ich nicht. Das sollte dir Beweis genug sein, dass ich keinen Grund zum Lügen habe. Das weißt du.«

  Mi Na wurde ganz still und ließ ihre zitternden Hände in den Schoß sinken.

  »Ich habe Unsummen bezahlt, um ein Profil von Requiem zu bekommen. Hab mein Medizinstudium abgebrochen und meine kompletten Ersparnisse aufgebraucht.« Die Worte waren kaum mehr als ein leises Flüstern, wie ein lange gehütetes Geheimnis, und Mi Na senkte den Blick auf ihre Hände. »Ich musste herausfinden, wie ich an dich herankomme, was dich verletzlich macht. Um zu verstehen, wer du bist. Was dir wichtig ist. Um zu erkennen, was du brauchst. Was du dir wünschst. Der Profiler hat sich mit einigen der Frauen unterhalten, mit denen Requiem … gespielt hat. In diesem Bericht wurde immer wieder betont, dass dir einzig und allein Macht wichtig ist. Die Macht der Jagd. Macht über Konkurrenten und die, die dich herausfordern. Das bist du. Aber du … du bist … nicht sie. Ich verstehe nicht, warum du abgelehnt hast. Was ich falsch gemacht habe. Du hättest ja sagen müssen. Er hat gesagt, dass du ja sagen wirst.«

  Der wehleidige, verwirrte Tonfall hallte in Natalyas Kopf nach. Sie seufzte und stand auf. »Geh nach Hause, Mi Na«, meinte sie und klang wieder gefährlich. »Wenn du noch einmal mich oder jemanden in meinem Leben bedrohst, werde ich keine Gnade zeigen. Ich weiß, wo deine Familie lebt. Ich kenne deinen Vater persönlich und weiß, in welchem Krankenhaus er liegt.«

  Mi Na starrte sie entsetzt an.

  Natalya hielt weiterhin Kontakt zu ihrem früheren Netzwerk an Informanten. Man wusste nie, welches Detail sich irgendwann einmal auszahlen würde. So hatte sie auch sofort davon Wind bekommen, als ein Profiler vor sechs Monaten damit begann, Requiem nachzuschnüffeln. Obwohl ihr sein Tod gelegen kam, hatte sie nichts damit zu tun gehabt. Der Mann war nicht nur Requiem auf die Zehen getreten.

  »Lass es nicht drauf ankommen«, fuhr sie fort. »Du würdest es für den Rest deines Lebens bereuen. Sag, dass du wenigstens das verstanden hast.«

  Mi Na schluckte und nickte.

  Missbilligend verzog Natalya den Mund. Anscheinend wurde sie weich. Mi Na ließ den Kopf hängen und noch mehr Tränen rannen ihr über die Wangen, vermischten sich mit dem Blut ihrer verletzten Nase und hinterließen auf dem Boden unappetitliche rote Flecken.

  Natalya schaute sich in dem verwüsteten Raum um, betrachtete das Blutbad auf dem Boden und schüttelte den Kopf. Leise verließ sie den Raum.

  Draußen blieb sie kurz stehen und fragte sich, wo wohl der Wandschrank lag und wie sie die bewusstlose Masseurin am besten befreite, ohne dass jemand etwas davon mitbekam … Vor allem nicht das Opfer selbst.

  Mit einem entnervten Seufzen rollte sie die Schultern vor und zurück. Zu allem Überfluss brauchte sie nun wirklich eine ordentliche Massage.

  TEIL 2: GEFALLENE MASKEN

  NATALYA

  »Hey, du bist ja früh wieder da!«, schallte Natalya Alisons Stimme entgegen, als sie wieder nach Hause in ihre luxuriöse Penthousewohnung kam. »Alles in Ordnung?«

  »Meiner Masseurin ging es nicht gut«, rief Natalya zurück. Sie hängte ihre Schlüssel an einen der Haken hinter der Tür und beugte sich zu ihrem uralten, dösenden Australien Cattle Dog namens Charlotte, um ihn hinter den grauen Ohren zu kraulen. »Wir haben heute früher Schluss gemacht. Was riecht hier denn so gut?«

  »Komm her und find’s raus.«

  Natalya ging über den Parkettfußboden in Richtung Küche und ließ den Blick dabei über die weiß gestrichenen Wände, die sorgfältig ausgewählten Bilder mit moderner Kuns
t, Musikinstrumenten und den gerahmten Fotos von Alisons Familie schweifen. Den Ehrenplatz nahm eine Aufnahme von Alison, ihrer Schwester Susan und ihrer Nichte Hailey ein, die sie auf dem Sofa hier im Wohnzimmer zeigte. Es hatte sich seltsam angefühlt, als sie zu Besuch gekommen waren. Damals hatte Natalya sich noch daran gewöhnen müssen, nicht mehr allein zu sein. Und plötzlich saß sie auf engstem Raum mit den Ryans zusammen. In dieser surrealen Situation kam noch hinzu, dass keiner von ihnen Alison mit dem Namen ansprach, unter dem Natalya sie kennengelernt hatte. Es war ihr zweiter Vorname aus einer Vergangenheit, über die sie nicht sprachen.

  Schließlich hatte Natalya sich auf die Dachterasse ihres Wohnhauses geflüchtet, um ein bisschen Ruhe und Frieden zu bekommen.

  »Ich gehe mal Luft schnappen«, hatte sie ihre kleinen Fluchten entschuldigt. Dann hatte sie dort oben gesessen, die Arme um ihre angewinkelten Knie geschlungen und wie ein Racheengel auf die Stadt hinuntergeblickt.

  Einmal hatte sie sogar einen Einbrecher erwischt. Natalya musste bei der Erinnerung grinsen, wie sie ihn über die Brüstung hatte baumeln lassen, während er sich in die Hosen pinkelte und ihr in drei verschiedenen Sprachen schwor, dass er dem Gebäude nie wieder zu nahekommen würde. Das war etwas, das sie durchaus vermisste – diesem Ungeziefer die Konsequenzen seiner Handlungen aufzuzeigen.

  Nicht, dass sie Alison davon erzählt hatte. Ihre Partnerin musste nicht wissen, dass die Dunkelheit noch immer in ihr wohnte. Was, wenn Alison Angst bekam? Was, wenn sie so viel Angst bekam, dass sie ging?

  Das war ein Gedanke, den Natalya nicht weiterverfolgen wollte.

  Sie ging weiter den Gang hinunter. Von Natalya selbst gab es keine Fotos, abgesehen von einem Bild ihres Vaters, vor dem sie kurz stehenblieb. Es stammte aus der Zeit, bevor Vadim nach Australien ausgewandert war. Auf dem Bild trug er noch die Uniform der russischen Armee. Stolz und aufrecht schaute er direkt und gelassen in die Kamera. Sie hatte noch ein Hochzeitsfoto von ihm und Lola, das versteckt auf dem obersten Regalbrett in ihrem Schrank lag. Aber sie konnte sich nicht überwinden, es aufzuhängen. Die Art und Weise, wie ihre Stiefmutter gestorben war … wie sie gelebt hatte … das war alles so falsch.

  Natalya betrachtete die buschigen Augenbrauen ihres Vaters und sein längliches, schmales Gesicht. Seine glänzenden Orden. Und sie vermisste ihn. Er hatte sie überwiegend alleine großgezogen und war zuletzt die einzige Verbindung zu ihrer Vergangenheit gewesen. Sie war gerade erst seit sieben Monaten in Europa auf Tournee gewesen, als das Altersheim sie angerufen hatte. Die Nachricht seines Todes hatte sie zutiefst erschüttert, auch wenn sie nicht unerwartet gekommen war.

  Aus Sicherheitsgründen hatte sie nicht zu seiner Beerdigung fahren können. Der Grund dafür stand ein paar Schritte entfernt. Natalya und Alison hatten bis jetzt nicht darüber gesprochen. Sie sprachen über vieles nicht. Was brachte es auch, die Vergangenheit immer wieder aufzuwühlen? Es war unnötig. Die Gegenwart gehörte ihnen. Das hier gehörte ihnen. Aber der Schmerz kam immer wieder zurück, sobald sie das freundliche Gesicht ihres Vaters betrachtete.

  »Ich probiere ein neues Rezept aus, das ich im Kochkurs gelernt habe. Komm, koste mal.« Alisons Stimme klang aufgeregt.

  Natalya musste lächeln, als sie in die Küche trat.

  Offenbar war gerade jeder Topf und jede Pfanne die sie besaßen in Betrieb, und der ganze Raum war mit Dunst erfüllt. Überall waren Spritzer von Tomatensoße gelandet, lagen Eierschalen und Gemüsereste herum. Aber Natalya sah einzig und allein die Begeisterung in Alisons strahlend blauen Augen. Das Haar stand ihr wirr vom Kopf ab. Mit gekräuselter Nase betrachtete sie konzentriert ihr Werk.

  Alison hielt ihr einen Holzkochlöffel hin. Natalya inspizierte den tomatigen Brei. Das roch gar nicht mal so schlecht. Vorsichtig streckte sie die Zunge aus und kostete: Zwiebeln, Tomaten und Knoblauch. Und dann kam der Nachgeschmack.

  »Wie viel Alkohol hast du denn da reingemacht?« Sie zog überrascht die Augenbrauen nach oben.

  »Genug, damit es einen kleinen Kick bekommt. Dabei habe ich ein bisschen improvisiert. Warum? Ist es zu viel?«

  Natalya schmunzelte. »Ich glaube, dieser Kick würde ein Pferd außer Gefecht setzen. Aber sonst schmeckt es gut.«

  »Verdammt. Ich wollte, dass es perfekt wird. Für unseren Jahrestag.«

  Natalya runzelte verwirrt die Stirn. Vor knapp zwei Jahren war Alison nach Wien gezogen. Sie wusste noch genau, wann. Ebenso erinnerte sie sich an alle anderen Daten, Zeiten und Orte. Details waren ihr wichtig.

  »Heute ist der 16. Oktober«, klärte Alison sie auf. »Vor genau fünf Jahren haben wir uns vor diesem alternativen Musikclub kennengelernt.«

  »Aha. Kennengelernt trifft es wohl nicht so ganz«, meinte Natalya. »Ich erinnere mich noch ziemlich gut daran, dass du Mundspray als Pfeffersprayersatz benutzt und mein Leben damit bedroht hast.«

  Alison grinste verschmitzt. »Schon, aber wir können ja schlecht feiern, dass du mich gestalkt hast, weil du mich umbringen wolltest. Klingt für einen Jahrestag nicht besonders prickelnd.«

  »Wenn du es so ausdrückst …« Natalya lächelte. Wenn Alison der Erinnerung an diesen ersten Moment etwas Positives abgewinnen konnte, dann würde sie das auch können.

  Sie verzog das Gesicht, als sie ihren Blazer auszog und über die Lehne eines der hölzernen Küchenstühle hängte.

  »Hast du dich verletzt?«

  Natalya sah auf. Sie sollte inzwischen wissen, dass Alison nicht viel entging. »Meine Masseurin hat heute der Narbe auf meinem Rücken eine Sonderbehandlung zukommen lassen.« Sie streckte sich ein wenig. »Ich glaube, sie hat sich mit dem ganzen Körpergewicht auf diesen Punkt geworfen.«

  »Autsch«, sagte Alison mitfühlend, legte den Deckel auf den Topf und drehte dann die Hitze der Herdplatte runter.

  Natalya ließ den Blick über ihre Partnerin wandern, über die enge Jeans und das blaue Hemd mit den aufgerollten Ärmeln. Sie spürte das vertraute, erregende Ziehen in ihrem Körper, das bei dem Anblick dieser Frau wohl nie nachlassen würde. Alle Befürchtungen, dass das Leben mit Alison irgendwann langweilig werden könnte, waren nur alte Ängste, die sie noch nicht überwunden hatte.

  Alison trat auf sie zu und der Duft ihrer frisch gewaschenen Haare und der Haut, vermischt mit dem Aroma der Tomatensoße, steigerte Natalyas Verlangen nach ihr nur noch mehr. Noch nie hatte sie jemanden so sehr begehrt.

  Wie hatte Mi Na Alison genannt? Entzückend? Tatsächlich war sie aber eine Frau, die eine Auftragsmörderin dazu gebracht hatte, ihr Leben von Grund auf zu ändern, und das allein durch ihre Anwesenheit.

  Alison sah die Erregung in Natalyas Blick und errötete.

  »Sind wir etwa in Stimmung?«, fragte sie.

  Ich bin immer in Stimmung. Für das hier und für dich.

  Natalya hatte noch nie solche Sehnsucht nach jemandem empfunden. Aber mit dieser Frau, die nie mehr von ihr verlangt hatte, als sie zu geben bereit war, war alles anders. Sie hatte allem, wonach sich Natalyas Körper sehnte, eine neue Dimension hinzugefügt. Sie hatte Natalyas Körper völlig neue Bedürfnisse beigebracht.

  Natalya lächelte verführerisch. Schon lagen Alisons Lippen auf ihren und ihre Zunge suchte begeistert nach Natalyas. Alison presste sich an sie und drängte sie gegen die Wand, bis kein Blatt Papier mehr zwischen sie passte.

  Freudig überrascht stöhnte Natalya auf. Sie liebte es, wenn Alison die Initiative übernahm. Oh, sie mochte es genauso gerne, Alison zu überwältigen und so lange zu erregen, bis sie vor Lust verging und um Erlösung flehte. Aber dieses brennende Verlangen war etwas Besonderes. Und es verfehlte nie seine Wirkung.

  Alison zog sie in Richtung Schlafzimmer, ihr gemeinsames Schlafzimmer – Natalya war so lange allein gewesen, dass die Vorstellung eines gemeinsamen Bettes, eines Badezimmers und einer Küche, die sie sich teilen mussten, ihr immer noch ein wenig fremd waren.

  Als Alison schließlich die Schlafzimmertür öffnete, riss Natalya erstaunt die Augen auf.

  Rote Blütenblätter. Auf dem Fußboden. Auf den Laken. Aus dem iPod, der in einer Ecke stand, erklang ein Streicherduett. Die beiden Instrumente schienen umeinander zu tanzen
, sich sachte zu berühren und zu verführen. Natalya erkannte Philip Glass’ Doppelkonzert für Violine, Violoncello und Orchester, das Duett Nr. 2. Wie passend: eine Cellistin und eine Violinistin. Sie schaute zu Alison, die frech zurück grinste.

  Und dann lagen Alisons Lippen schon wieder auf Natalyas. Ihre Zungen umspielten einander auf geradezu obszöne Weise. Natalya seufzte zufrieden und schloss die Augen. Schnell rissen sie sich die Kleidung vom Körper. Viel Finesse gab es nicht, nur pure Leidenschaft.

  Natalya dachte zurück an jenen Tag, an ihr erstes Mal, das richtige erste Mal. Nicht wie bei ihrem letzten Treffen, bevor Natalya Australien verließ, bei dem sie Alison zum Abschied erlaubt hatte, von ihr zu kosten. Alison hatte sie damals mit Blicken angebettelt und Natalya hatte ihr nachgegeben, obwohl sie wusste, dass es eine schlechte Idee war. Riskant. Um sich zu schützen hatte sie sich zurückhalten wollen, doch es hatte nicht funktioniert. Sie hatte weit mehr von sich gegeben als beabsichtigt. Nicht alles, aber mehr.

  Ein Jahr lang hatte Natalya Abstand bewahren können, dann war sie zurückgekehrt und hatte Alison mit wild klopfendem Herzen gebeten, mit ihr nach Europa zu kommen.

  Das war der Wendepunkt gewesen. Zum ersten Mal in ihrem ganzen Leben, das sie damit verbracht hatte, mit anderen Menschen zu spielen und diese zu kontrollieren, hatte sie jemanden geküsst. Auf den Mund.

  Es war beängstigend gewesen und hatte sie süchtig gemacht.

  Damals hatten sie es kaum in Alisons Wohnung geschafft, bevor sie übereinander hergefallen waren. Und dann … sie schluckte bei der Erinnerung an eine Zeit, in der sie so verletzlich gewesen war, dass sie kaum atmen konnte.

  Alison, das Haar noch feucht vom Regenschauer der Nacht, hatte Natalya auf das Bett gedrückt. Sie hatte ihren Blick keine Sekunde gelöst, während sie ihre Hände über ihren Körper hatte gleiten lassen, jeden Zentimeter der nackten Haut mit einer Begeisterung erforscht hatte, die dem Wissen entsprang, dass Natalya nun ihr gehörte. Alison hatte sie berührt. Überall. Unendlich lange. Weil sie es konnte. Weil Natalya es ihr erlaubt hatte, als einer Frau, die mit ihr auf Augenhöhe war.

 

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