Ever – Wann immer du mich berührst
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Ich atme einmal tief durch. Okay, ich kriege das hin. Ich muss einfach nur professionell sein. Ohne Rachegedanken, ohne Emotionen. Ich mache ein paar Übungen mit ihr, bringe sie dazu, sich zu entspannen, und danach übergebe ich sie wieder an Kadence. In spätestens zwei Wochen ist sie weg. Hoffentlich für immer.
Jetzt sehe ich auch, was passiert ist: Der Bademantelgürtel hat sich im Reifen ihres Rollstuhls verheddert. Abigail Hayden versucht verzweifelt, ihn herauszuziehen, und blickt dann in meine Richtung. Dieser Blick. Es ist kein hilfloser Blick, sondern eher ein «Bleib mir bloß vom Leib!»-Ausdruck. Als ich das begreife, fühle ich mich noch mieser. Sie hat überhaupt keine Ahnung. Sie ist einfach nur ein verletztes Mädchen. Frustriert hole ich Luft und gebe mir einen Ruck.
Professionell, ohne Emotionen, David.
Ich gehe auf sie zu und schlage einen freundlichen Ton an. «Warte, ich helfe dir.»
3. Kapitel
Abbi
«Warte, ich helfe dir.»
Im ersten Moment nehme ich nur die weißen Hosen wahr, als er an mir vorbeigeht, und dann erst die Hand, die meine Armlehne packt. Er geht neben mir in die Hocke, und plötzlich bin ich frei. «Danke», murmle ich, ohne aufzublicken, weil sein Reha-Shirt einen viel zu tiefen V-Ausschnitt hat und ich keinesfalls auf seine muskulöse Brust starren will. Wer trägt denn heute noch V-Ausschnitt? Ich hoffe, er kann sich das nicht aussuchen, wenn es seine Arbeitskleidung ist.
«Ich bin David», sagt er, und jetzt muss ich doch zu ihm hochgucken. «Kann ich dich irgendwo hinfahren?»
Er hat kurzes braunes Haar, nur vorne fällt es ihm bis in die Stirn. Und helle Augen, deren Farbe ich nicht identifizieren kann. Ich würde gerne etwas Scherzhaftes antworten. Einmal nach Prag bitte, ich war noch nie in Europa. Aber er macht auf mich nicht den Eindruck, als würde er so was witzig finden. Er hat sich nicht mal so angehört, als würde er mich das überhaupt aus freien Stücken fragen. Eher so, als drückte ihm jemand einen Revolver an die Schläfe.
«Abbi. Und ich möchte nach diesem peinlichen Rollstuhl-Zwischenfall eigentlich nur noch in mein Zimmer», murmle ich und weiche seinem Blick aus.
«Kein Problem. Also erst mal in dein Zimmer, danach kannst du dir ja immer noch überlegen, ob dir nichts Besseres einfällt. Die Glen Ellis Falls zum Beispiel», sagt er. «Kann ich sehr empfehlen, die Wasserfälle dort sind wirklich schön.»
Mein Kopf fährt hoch, und ich öffne den Mund, halte dann aber für einen Moment inne, weil er aussieht, als würde er erst ein negatives Gefühl abschütteln müssen, um dann zu lächeln. Es verunsichert mich genug, dass ich kurz angebunden antworte: «Mein Zimmer reicht, danke. Und ich schaff das eigentlich auch allein.» Was ich gerade eindrucksvoll bewiesen habe. Gescheitert an einem Bademantelgürtel, na großartig.
David tritt ohne ein weiteres Wort hinter mich, und eine Sekunde später bewegen wir uns in Richtung meines Zimmers. Ich drücke die Tür für uns auf, aber anstatt mich zum Bett zu schieben, bleibt er nach wenigen Metern mitten im Raum stehen. «Kurze Frage», sagt er. «Wer hat denn dein Bett so bescheuert hingestellt?»
Ich habe keine Ahnung, warum er das bescheuert findet. Und was daran so wichtig ist. «Das war meine Mutter. Sie dachte, es wäre schöner, wenn ich vom Bett aus auf den Mount Washington sehen kann.»
Er umrundet mich mit langen Schritten und deutet auf meinen Rollstuhl. «Das Problem ist doch dein rechtes Bein. So kommst du nur umständlich ins Bett rein und wieder raus. In deinem eigenen Interesse sollte es an der anderen Wand stehen. Was dagegen, wenn ich es umstelle?»
«Was? Nein. Wenn du meinst, dass es so besser ist?»
«Allerdings.» Er fackelt nicht lange, schiebt meinen Nachttisch zur Seite und zieht den Stecker meines elektrischen Betts aus der Wand, bevor er das schwere Teil einmal im Raum dreht und das Kabel an der anderen Wand wieder einsteckt. Mit ausgestreckter Hand lässt er mir den Vortritt, und ich rolle mich zum Bett. Und … Er hat recht. Wenn das Bett hier steht, muss ich beim Aus- und Einsteigen nicht erst umständlich umgreifen, weil ich mein rechtes Bein nicht belasten darf, und ich kann mich so viel besser am Bettgitter festhalten. Warum ist mir das eigentlich nicht selbst aufgefallen? «Danke. Den Rest schaffe ich allein.»
Er nickt nur.
Unschlüssig warte ich darauf, dass er geht, aber das tut er nicht. Stattdessen streckt er die Hand nach meinem Bademantel aus.
Ich keuche überrascht auf, aber er wartet nicht ab, sondern zieht den Bademantel einfach von meinem Schoß, um ihn aufzuhängen. Sofort schießt mir die Hitze ins Gesicht, weil ich an nichts anderes denken kann als an die Haare an meinen Beinen. Will er mir nun unbedingt dabei zusehen, wie ich umständlich in mein Bett steige? Langsam manövriere ich mich so dicht wie möglich an die Bettseite, weil ich ihn wohl so schnell nicht loswerde. Ich stelle die Bremsen fest und versuche, mich hochzustemmen.
«Hey, Moment.» Mit einem Satz ist David bei mir, und ich lasse mich im Sitz wieder zurückfallen, was meine Hüfte sofort mit einem fiesen Stechen beantwortet.
«Es wäre leichter für dich, wenn du erst einmal das Bett tiefer stellst.» Er betätigt einen Druckknopf am Bettgitter und lässt es damit runterfahren, dann dreht er sich zu mir um. Für eine Sekunde bilde ich mir wieder ein, dass er sich einen Ruck geben muss. Dann sagt er: «Nicht erschrecken.» Aber als er sich zu mir runterbeugt und mich ohne weitere Vorwarnung mit den Händen an den Hüften packt, ziehe ich dennoch überrascht die Luft ein. Ganz automatisch weiche ich mit dem Oberkörper zurück, weil Davids Gesicht mir so nah kommt, dass ich ein paar Sommersprossen auf seiner Nase sehen kann und dass seine Augen grau sind. Nicht so hell, wie ich im ersten Moment gedacht habe, sondern wie ein Gewitterhimmel. Ich rieche sogar das Waschpulver, mit dem er seine Klamotten gewaschen hat. Mein Blick bleibt nun doch an dem tiefen V-Ausschnitt hängen, und ich schicke ein Stoßgebet zum Himmel. Bitte lass diese absolut peinliche Situation ganz schnell vorübergehen. Bitte gib mir Kadence zurück.
Kadence hat eine Vorliebe für Übungen, die sie Hands off nennt. Übungen, die ich selber machen kann, bei denen sie mich nicht anfassen muss. Leider hat dieser David da wohl ganz andere Vorstellungen. Und er hat auch kein Problem mit Körperkontakt. Seine Hände schieben sich ein Stück unter meinen Hintern, was mein Gesicht, nein, mein ganzer Körper mit einem deutlichen Temperaturanstieg beantwortet.
«Wenn du erst mal nach vorne rutschst, wird es ebenfalls leichter für dich, aufzustehen.» Abwechselnd zieht er erst die eine, dann die andere Seite meiner Hüfte nach vorn.
«Okay», stammle ich. «Danke. Aber das bekomme ich wirklich alleine hin.» Zum Beweis stelle ich den linken Fuß auf, und als er daraufhin endlich ein Stück zurückweicht, stemme ich mich an den Armlehnen des Rollstuhls hoch. Nur eine Vierteldrehung und ich sitze auf der Bettkante. Das war leicht. Ich hoffe, er hat gesehen, wie leicht, und geht endlich.
Aber stattdessen tritt er näher an mein Bett. «Ich nehme deine Beine, okay?» Im selben Atemzug streift er meinen linken Schuh ab und hievt meine Beine ins Bett. Ich gebe einen erschrockenen und viel zu lauten Quietschlaut von mir und robbe sofort auf der Matratze von ihm weg.
«Hey, hiergeblieben. Wir sind noch nicht fertig.» Er hält mich am rechten Unterschenkel fest. Sein Griff ist fest und seine Hände deutlich wärmer als die von Kadence. Trotzdem stellen sich die Haare an meinen Beinen auf.
«Du machst das alles sehr gut, Abbi. Wirklich. Aber wenn du dich das nächste Mal so laut beschwerst, wäre es super, wenn du in mein linkes Ohr quietschst.»
«Tut mir leid.»
«Ich meine das ernst», sagt er, aber als ich hochgucke, bin ich mir da nicht so sicher, weil er lächelt. Was ich verlegen erwidere. Zumindest so lang, bis er sagt: «Ich höre kaum etwas auf meinem linken Ohr.» Er deutet mit der Hand darauf. «Wenn du mich also mal anbrüllen willst, nimm einfach die Seite. Dort tut es nicht so weh.»
Meine Mundwinkel erschlaffen. «Du hörst nichts auf deinem linken Ohr», wiederhole ich, weil es etwas ist, was ich nicht mit diesem sportlichen Typ in Einklang bringe. «Wieso?»
Er zuckt mit den Schultern. «Mit neun habe ich einen Schlag drauf be
kommen, und das Trommelfell ist geplatzt. Hat sich entzündet, und seitdem …» Er lässt den Satz unbeendet.
Er hat einen Schlag auf sein Ohr bekommen? Aber …? Meine Gedanken fangen an zu rotieren, weil seine Worte ein Dutzend Fragen durch meinen Kopf rasen lassen. Aus Versehen? Beim Spielen? Aber wie kann man aus Versehen einen so harten Schlag auf sein Ohr bekommen, dass einem das Trommelfell platzt? Hat ihn jemand mit Absicht geschlagen? Wer schlägt denn bitte ein kleines Kind aufs Ohr? Und dann auch noch so heftig, dass es hinterher taub ist? Also fast taub. Meine wilden Gedanken müssen mir anzusehen sein, denn David schüttelt den Kopf. «Es geht jetzt um dich», sagt er, und seine Finger fangen an, mein Bein vorsichtig abzutasten. «Erzähl mir von deinem Unfall.»
Ich bin immer noch so perplex, dass ich nicht zurückweiche, als seine Hände an meinem Unterschenkel über die Operationsnarben nach oben fahren. Hände, die kräftig sind und warm. Stammelnd antworte ich ihm. «Ich bin … mit dem Auto … gegen einen Baum gefahren. Kannst du das nicht einfach in meiner Akte nachlesen?»
«Ich habe deine Akte gelesen. Aber ich würde es gerne von dir hören. Wie ist es passiert?»
«Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich weiß noch, wie ich zu einer Party gefahren bin, aber danach ist alles weg, bis ich im Krankenhaus aufgewacht bin.»
«Du hattest ein Schädel-Hirn-Trauma.»
«Ja.» Ich schlucke.
«Und drei gebrochene Rippen, aber deine Lunge war nicht verletzt.»
Er kennt meine Patientenakte offenbar auswendig.
«Tut es noch weh, wenn du atmest oder wenn du lachen musst?»
«Nein, eigentlich nicht. Also nicht meine Rippen. Aber mein Bein tut weh, wenn ich lachen muss. Oder niesen.»
«Okay, verstehe. Dann verspreche ich dir, ich werde versuchen, dich nicht zum Lachen zu bringen. Oder zum Niesen.» Dabei sieht er völlig ernst aus, und ich bin jetzt schon kurz davor zu lachen. Aber dann fängt er an, mein Bein zu massieren.
«Es tut mir leid, ich weiß, ich bin total verspannt. Ich kann nicht …»
Er lässt mich los, schnappt sich die Tube, die auf meinem Nachttisch liegt, und drückt etwas von der Creme in seine Handfläche. «Du kannst dich nicht auf Knopfdruck entspannen. Kein Mensch kann das. Also hey, mach dich nicht verrückt. Du machst das großartig. Erzähl mir einfach, was du weißt. Was genau ist mit deinem Bein?»
Mein Bein, ja. Wahrscheinlich hat er mir deshalb die Sache mit seinem Ohr erzählt. Vielleicht ist das seine Masche. Quid pro quo. Ich erzähle dir ein Problem von mir, dafür erzählst du mir etwas von dir. So stellen wir ein Vertrauensverhältnis her. Wer weiß, vielleicht ist das mit seinem Ohr sogar gelogen, und er will mir damit nur weismachen, dass bei ihm auch nicht alles perfekt ist. Dass er nicht einfach nur groß und durchtrainiert ist und einen makellosen Body hat. Mit fünf Sommersprossen auf der Nase.
Und lachenden Augen.
Weil … ich sehe genau, dass seine Augen lachen. Auch wenn er etwas müde wirkt. Das Gewitter darin hat sich verzogen. Jetzt sind sie nur noch grau, leuchtend grau.
«Am linken Bein hatte ich einen Kreuzbandriss, weil sich beim Stoß gegen das Armaturenbrett meine Kniescheibe verschoben hat.» Ich ziehe scharf die Luft ein, als sein Griff mit einem Mal fester wird und er die Muskelstränge an Wade und Schienbein bearbeitet. Wenn er gleich höher geht, wird es unfassbar weh tun, dann muss ich ihm ganz sicher in sein gesundes Ohr schreien.
«Hast du links noch Beschwerden?»
«Nein. Das ist wieder völlig in Ordnung. Ist ja auch schon eine ganze Weile her.»
«Aber deine Hüfte, damit hast du noch Probleme, oder?»
«Manchmal. Aber vielleicht bilde ich mir das auch nur ein. Meine Mutter denkt das zumindest. Ich … ich habe einfach unglaubliche Angst vor Schmerzen. Die Ärzte haben beim ersten Mal versucht, mir das Hüftgelenk ohne Narkose einzurenken.»
Stand das etwa nicht in meiner Akte? So entsetzt, wie David mich jetzt ansieht, muss diese Info neu für ihn sein.
«Das ist unfassbar schmerzhaft, würde ich meinen. Und ganz bestimmt bildest du dir das nicht ein.» David will noch etwas sagen, nickt mir dann aber doch nur aufmunternd zu. Seine Daumen berühren die Stelle an meinem Knie, wo die kleinen runden Narben noch zu sehen sind, an denen nach der Operation das Wundsekret abgelaufen ist. Er macht das so sanft, dass ich mich tatsächlich entspanne. Und einfach weiterrede. «Das Blöde ist mein Schienbein. Der Schienbeinkopf war gebrochen, deshalb haben sie mir eine Platte eingesetzt. Eine Metallplatte mit mehreren Schrauben.»
David nickt wieder, und dann lässt er mich auf einmal los und … hebt völlig unerwartet sein eigenes Knie zur mir aufs Bett, was die Matratze an der Stelle nach unten drückt. Ich bin so geschockt, dass ich diesmal nicht mal ein Quietschen von mir gebe, sondern erstarre. Mehrere Sekunden lang halte ich die Luft an. Und mein Herz – ganz bestimmt hat mein Herz kurz aufgehört zu schlagen.
Er macht das alles ganz anders als Kadence. Kadence hat mich immer vorgewarnt. Vor jeder Bewegung hat sie mir gesagt, was sie gleich tun wird, damit ich mich nicht erschrecke. Lernt man das nicht so im Studium? Ich schlucke meine Panik hinunter, aber dann schiebt David sein Knie einfach unter mein Bein, und jetzt gebe ich doch ein panisches Quietschen von mir.
«Es ist alles in Ordnung, Abbi. Du machst das ganz toll.»
Sein Bein unter meinem zu spüren, ist … seltsam. Und viel zu intim. Aber es tut nicht weh. Es tut kein bisschen weh. Er muss wissen, was er da tut, denn es fühlt sich gut an. Fest, aber gut.
«Die Platte in deinem Bein ist übrigens aus Titan. Wusstest du, dass Titan eine Zugfestigkeit hat wie Baustahl?»
«N…nein.»
«Es ist extrem stabil, dabei aber sehr leicht, und es gibt keine Allergien dagegen. Das heißt, dass es nicht vom Gewebe abgestoßen wird. Du musst also keine Angst haben, dass es nicht hält. Und du hattest echt Glück, dass deine Weichteile kaum verletzt wurden.»
«Okay.» Auch wenn ich das eigentlich weiß, ist Dankbarkeit nicht wirklich das vorherrschende Gefühl, wenn ich Schmerzen habe. So wie jetzt. Obwohl es, wenn ich ehrlich bin, gerade gar nicht schlimm ist. Ich weiß nicht, wie er das macht, aber die Art, wie er mich berührt, gleichzeitig unnachgiebig und vorsichtig, sorgt dafür, dass meine Angst nachlässt. Bis zu dem Moment, wo ich an mir runterblicke und kapiere, was er da genau macht. Wie er mit seinem Bein mein Knie immer weiter anhebt. Weil das kein bisschen sanft aussieht. Und es gleich ohne Ende weh tun wird, weil er damit mein Kniegelenk jeden Moment in Flammen setzt.
«Wie alt bist du, Abbi?»
«Ein…undzwanzig!» Mit jeder Silbe wird meine Stimme lauter, weil ich panisch auf den Schmerz warte. Der aber nicht kommt.
«Abbi?»
«Ja?»
«Sieh mich an.»
Ich gucke hoch und direkt in Davids Gesicht. Ein entschlossenes Gesicht, das mir sagt: Wir ziehen das jetzt durch.
«Ich werde dir nicht weh tun.»
Ich nicke.
«Nicht sehr», verbessert er sich. «Ich höre auf, bevor es zu schlimm wird.»
Ich nicke noch einmal. Schneller. Vermutlich zu schnell, denn er fängt an zu grinsen. «Nicht auf dein Bein gucken. Schau einfach mich an. Und dann erzähl mir, was du so machst. Hast du gearbeitet vor deinem Unfall? Studiert?»
«Ja.» Ich räuspere mich. «Ich wollte eigentlich nächstes Jahr meinen Bachelor an der UNH machen. In Soziologie.»
«Und was gefällt dir an deinem Studium am besten?»
Hört er mir überhaupt zu, oder lässt er mich nur reden, damit ich irgendwas zu tun habe? Seine Hände schieben sich unter meine Kniekehle und lockern den Muskelstrang, der sich von dort bis zu meinem Oberschenkel hochzieht.
«Dass es … das echte Leben betrifft. Wie wir als Gesellschaft im Ganzen funktionieren und auch im Kleinen. Familien. Wie Familien funktionieren. Und wie sich das a…alles verändert.» Was macht David da? Ich habe das Gefühl, er lockert nicht nur meine Muskeln, er lockert alles. Muskeln, Sehnen, Faszien, was auch immer. Meine rechte Hand greift nach dem Bettgitter, mit der anderen fasse ich unwillkürlich nach Davids Arm, um … ich weiß es auch ni
cht. Ihn festzuhalten? Aufzuhalten? An dem zu hindern, was er da gerade tut?
«Abbi?» Er löst meine Hand von seinem Unterarm.
«Ja?»
«Welche Augenfarbe habe ich?», fragt er.
«Was?» Ich versuche, meine Atmung wieder unter Kontrolle zu bekommen. «Ich weiß nicht. Grau.»
Er nickt. «Und wie viele Sommersprossen sind in meinem Gesicht?»
«Da … sind fünf.»
Er schüttelt langsam den Kopf. «Guck noch mal genau hin.»
Ich bin ziemlich atemlos, als meine Augen sein Gesicht abscannen. Da sind drei Sommersprossen direkt auf seiner Nase und zwei etwas seitlich. Er hat ein winziges Muttermal unter dem linken Auge und direkt daneben …
«Sieben.»
David nickt wieder und grinst. So breit, dass es von einem Ohr zum anderen reicht. Meine Freundin Willow hat irgendwann mal für die verschiedenen Arten zu lächeln Kategorien erstellt und ihnen Schauspieler zugeordnet. Sie reichen vom unentschlossenen, nachdenklichen Lächeln à la Chris Evans über ein stilles, seltenes Lächeln von Daniel Craig bis hin zu einem Lachen mit einem spöttischen, psychopathischen Zug wie bei Jack Nicholson. Aber an diesem Lächeln von David ist gerade gar nichts spöttisch oder schief – es ist einfach nur ein richtig breites Sam-Claflin-Grinsen. Ein ehrliches, eins, das über das ganze Gesicht geht. Und erst jetzt merke ich, dass eine Hand nun meinen Fuß umfasst. Nicht fest, ganz entspannt. Und dass es etwas kitzelt, weil er mit den Fingern leichten Druck auf meine Fußsohle ausübt.
«Das ist ein guter Anfang, Abbi. Darauf lässt sich aufbauen.»
«Auf deinen Sommersprossen?», frage ich.
«Auf dem, was du heute erreicht hast.»
Und als ich es endlich schaffe, meinen Blick von seinem Gesicht zu lösen, fällt mir auf, dass mein Bein in einem völlig ungewohnten Winkel über seinem liegt. Das sind keine hundertzwanzig Grad, keine hundert. Es sind sogar weniger als neunzig, was mich so überrascht, dass ich nur ein Keuchen ausstoßen kann. Er hat mein Bein so weit angewinkelt, wie ich es seit dem Unfall nicht geschafft habe. So weit, dass ich vielleicht wirklich bald nach Hause darf, was ich kaum begreifen kann. Weil es nicht schmerzt. Überhaupt nicht. Ich spüre nur ein leichtes Ziehen und die Wärme von Davids Bein an meiner Kniekehle.