Ever – Wann immer du mich berührst
Page 4
«D…danke», stottere ich. «Das tut überhaupt nicht weh.» Ich kann es immer noch nicht fassen.
«Das ist großartig. Du hast das großartig gemacht.»
Ich habe überhaupt nichts gemacht, und dass er mich so lobt – für nichts –, ist mir irgendwie peinlich. Mein Blick heftet sich auf einen Punkt hinter seiner Schulter. Aber als plötzlich die Zimmertür ins Schloss fällt, zucke ich zusammen, weil ich gar nicht gemerkt habe, dass jemand reingekommen ist. David offenbar auch nicht, denn für einen Moment erstarrt er. Unter dem mehr als überraschten Blick meines Dads zieht er langsam sein Bein unter meinem weg. Er hält mich fest. Vorsichtig, damit es für mich nicht unangenehm ist, lässt er mein Bein zurück auf die Matratze gleiten.
«Hallo, Dad.» Ich bin verwundert, dass er heute doch gekommen ist. Noch vor seinem wichtigen Interview. Davon hat er eben am Telefon gar nichts gesagt.
David nickt ihm knapp zu. «Sie können gerne reinkommen, wir sind für heute fertig.»
Dabei ist mein Vater schon mitten im Zimmer. Dass David ihm nachträglich die Erlaubnis erteilt, klingt fast wie ein Vorwurf. Und mit einem Mal ist auch jeder Humor aus Davids Augen verschwunden. Er starrt meinen Dad an wie … ich weiß nicht. Einen Tsunami? Etwas Zerstörerisches und Unausweichliches?
«Wer sind Sie? Ein … Therapeut?» Mein Vater wirkt nicht einfach bloß überrascht, sondern beinahe sprachlos, was ich von ihm gar nicht kenne.
«Ja, Sir.» David reißt sich sichtbar zusammen und nickt. «Ich studiere an der Franklin Pierce. David Rivers.» Scheinbar widerwillig streckt er ihm die Hand hin, die mein Dad ergreift.
«Und so was steht in Ihrer Stellenbeschreibung? Dass Sie zu Patientinnen aufs Bett steigen müssen?» Er hält Davids Hand dabei immer noch fest, und ich werde schlagartig rot. Obwohl Dad plötzlich auflacht, ist die Situation seltsam feindselig, und ich suche erfolglos nach Worten, um diese absurde Frage abzumildern. Auch David öffnet den Mund, aber ihm fällt darauf wohl auch nichts Passendes ein.
«Wir sehen uns morgen wieder», sagt er schließlich in meine Richtung, bevor er meinem Vater seine Hand entzieht und steif aus dem Zimmer geht.
4. Kapitel
David
Selbst schlimme Dinge passieren aus gutem Grund, hat meine Mom immer gesagt, wenn etwas richtig beschissen lief. Als würde es hinter allem einen geheimen Sinn geben, der sich einem irgendwann später offenbart. Zum Beispiel, als ich das Stipendium für die UNH nicht bekommen habe, an der ich eigentlich Jura studieren wollte. Heute weiß ich, dass dieser Schreibtisch-Job mich umgebracht hätte.
Aber ich bin mir auch absolut sicher, dass nicht mal Mom zu dieser Begegnung eben ein Grund eingefallen wäre. Erst recht kein guter.
Drei Wochen, verdammt. Drei Wochen habe ich es geschafft, diese Begegnung zu umgehen. Drei Wochen habe ich dieses Zimmer gemieden, als wäre es verseucht. Drei Wochen, in denen ich mich verhalten habe, wie ein beschissenes Erdmännchen. Ich habe den Kopf eingezogen und bin untergetaucht. Jede noch so unangenehme Arbeit habe ich gemacht, um nicht zufällig auf dem Flur Mr. Hayden in die Arme zu laufen. Den ganzen Geräteraum habe ich geschrubbt, verdammt noch mal. Und dann brummt Kadence mir ausgerechnet Abigail Hayden als Patientin auf.
Es wäre okay gewesen, wenn ihr nicht diese Angst im Gesicht gestanden hätte. Wirklich. Ich hätte es einfach durchgezogen, hätte ihr nur ein paar Übungen gezeigt, die sie selbst machen kann. Ohne groß Mitleid mit ihr zu haben. Aber Abbi Hayden hatte blanke Panik im Blick, bevor ich sie auch nur angefasst habe. Als würde ich sie gleich mit einer Hand zerquetschen. Und deshalb konnte ich nicht anders. Ich habe mir Mühe gegeben, um ihr zu helfen. Sehr viel Mühe.
Ich kenne ihre Krankengeschichte. Weiß, welche Knochen sie sich gebrochen hat, welche OPs hinter ihr liegen, weiß wahrscheinlich mehr über sie und ihre Familie als sie selbst. Aber was nicht in ihrem Krankenblatt steht, ist die Sache mit dem Einrenken ihres Hüftgelenks ohne Narkose. Und dass sie solch unfassbare Angst hat. Aber trotz ihrer Furcht hat sie doch alles zugelassen, was ich mit ihr angestellt habe. Verdammt. Sie hat mir vertraut. Sie hat sich nur auf mein Gesicht konzentriert und mir vertraut. Einfach so.
Weil sie es nicht weiß. Weil sie keine Ahnung hat, dass es auf diesem Planeten wahrscheinlich niemanden gibt, der ihre Familie mehr hasst als ich. Sie ist eine Hayden. Die leibliche Tochter von Maree und William Hayden. Ihr Hintern ist quasi mit Goldstaub gepudert worden, als sie ein Baby war. Und wenn mir ein Mensch auf der Welt nicht leidtun muss, dann …
David, du hast doch ein weiches Herz.
Ich höre die Stimme von Mrs. Browning in meinem Ohr, obwohl sie jetzt wieder drei Zimmer weiter im Bett liegt. Sie hat recht, und das ist der Grund, warum ich am liebsten etwas zertrümmern würde. Weil Abbi Hayden mir jetzt vertraut, dabei möchte ich sie und ihren Vater einfach nur zum Teufel jagen. Ihm plötzlich gegenüberzustehen, hat sich angefühlt, als wäre ich an ein Bahngleis gekettet und könnte den Zug schon sehen.
Wie er mich betrachtet hat, während er meine Hand wie in einem Schraubstock zusammengedrückt hat – als hätte ich gerade seine Tochter entehrt. Dabei war ich einfach nur professionell. Während er ein gewissenloser Mistkerl ist.
Ich schnappe mir den Wagen auf dem Flur, auf dem das Lymphdrainagegerät steht und der dort schon eine ganze Weile im Weg ist, und schiebe ihn in Richtung Waschraum. Werde ich das verdammte Teil eben auch noch desinfizieren, was soll’s. Hauptsache, ich habe was zu tun und komme für einen Moment aus der Schusslinie und vor allem aus Kadence’ Blickfeld. Ganz sicher will sie gleich wissen, wie es gelaufen ist, und wenn ich die Wahrheit sage, werde ich das Hayden-Mädchen nie wieder los. Weil es gut gelaufen ist, wahrscheinlich noch besser, als Kadence es erwartet hat.
Du hast wirklich goldene Hände, mein Junge.
Danke, Madame Mustache. Das ist genau der Satz, den ich jetzt in meinem verdammten Kopf brauche. Ich schließe die Tür hinter mir, leise und vorsichtig, weil ich mir den Gefühlsausbruch, dem ich gern nachgeben würde, hier nicht erlauben kann. Dem Wagen gebe ich einen Schubs, und er landet auf der anderen Seite des Raums, wo er einige Rollstühle touchiert. Ich stelle einen Eimer in das tiefe Waschbecken und lasse ihn mit dem Desinfektionsmittel volllaufen, das hier direkt aus dem Hahn fließt. Dann werfe ich einen Einmallappen in die Lösung, obwohl es mir wahrscheinlich besser ginge, wenn ich meinen Kopf in diesen Eimer tunken würde. Mehrmals.
Ich fange an, das Gerät zu putzen. Wische vorsichtig über das Display, weil das Kompressionsgerät allein schon an die fünftausend Dollar wert ist. Ich reinige die Verkabelung und nehme mir anschließend die Beine vor, die aufgepumpt aussehen, als würden sie zu einem Weltraumanzug gehören, im Augenblick aber schlapp zusammengefallen sind.
Weil ich viel zu schnell damit fertig bin, es aber immer noch in mir brodelt, desinfiziere ich danach auch noch ein paar Rollstühle und Gehwagen, um sie dann in den Raum zu schieben, wo wir die gereinigten Geräte aufbewahren. Die Handschuhe ziehe ich mit einem Schmatzen ab und desinfiziere mir die Hände. Ich habe noch mehr als eine halbe Stunde, bevor ich unten im Fitnessraum einigen Schreibtischtätern zeigen darf, wie sie gegen ihre Rückenschmerzen antrainieren können, und diese Pause sollte ich nutzen, um endlich an die frische Luft zu kommen. Aber als ich ein paar Minuten später aus der Umkleidekabine trete, wo ich meine Dienstkleidung gegen abgeschnittene Jogginghosen und ein einfaches T-Shirt getauscht habe, werde ich von Mr. Hayden auf dem Flur abgefangen. Er hat ganz offensichtlich auf mich gewartet.
«David», ruft er über den Flur, und als ich nicht reagiere, weil … scheiße, das kann doch jetzt nicht wahr sein … verbessert er sich. «Mr. Rivers. Haben Sie einen Moment?»
Was kommt jetzt? Will er mich verklagen, weil ich ein Bein auf dem Bett seiner Tochter hatte? Ich beiße die Zähne zusammen und drehe mich zu ihm um. Ich bin immer noch an Gleise gekettet, und der Scheißzug ist jetzt da.
«Verzeihung», sage ich wie auf Autopilot meine Standardentschuldigung, «auf diesem Ohr höre ich leider nicht gut.» Was er interpretieren kann, wie er will. Und während er diese Info verarbeitet, suche ich sein Gesicht nach irgendwelchen Ähnli
chkeiten ab, wie ich das schon Hunderte Male gemacht habe. Bisher allerdings nur mit Fotos von Wahlplakaten oder von der Firmenseite der Hayden Paper Group. Die Haarfarbe hat seine Tochter definitiv von ihm geerbt. Er ist dunkelblond und so akkurat frisiert, als käme er gerade frisch aus der Maske für eine Fernsehübertragung. Und als er nun vor mir stehen bleibt, kann ich nur daran denken, dass dieser Mann mich noch dazu bringen wird, die verdammten Republikaner zu wählen. Weil ich einfach alles an ihm verabscheue. Wie er mich auf einmal betont freundlich anlächelt. Wie er mir dann tatsächlich auf die Schulter klopft, auf diese gönnerhafte, betont joviale Art, die den Wunsch in mir auslöst, meine Faust in sein Gesicht zu rammen. Ich umkrampfe mit den Fingern die kleine Kopfhörerbox in meiner rechten Tasche und atme tief durch.
«Ich habe ganz vergessen, mich vorzustellen», sagt er. «William Hayden.»
Lächerlich. Als würde es irgendjemanden in diesem Bundesstaat geben, der ihn nicht kennt. «Ich weiß, wer Sie sind, Sir.»
Ich weiß ziemlich viel über ihn. William Hayden stammt als einziger Sohn aus einer Familie mit vier Kindern. Er hat seinen Bachelor of Arts an der UNH gemacht und seinen Master an der Harvard Business School. Und er hat einen verdammten Juris Doctor aus Georgetown, einer der renommiertesten Universitäten der Welt. Von dem Geld, das seine Ausbildung gekostet hat, hätte man wahrscheinlich ein Jahr lang einen Dritte-Welt-Staat ernähren können. Nach seinem Studium und dem Tod seines Vaters hat er die Leitung der Hayden Paper Group übernommen, einer der größten Papierfabriken an der Ostküste. Wahrscheinlich macht er das jetzt nur noch als Hobby.
Ach ja, und er hat meine Familie zerstört.
William Hayden räuspert sich nun und wischt sich mit zwei Fingern über die rechte Braue. Eine Verlegenheitsgeste, die bei mir nicht zieht. Er ist ein Schauspieler wie alle Politiker.
«Ich war eben sehr unhöflich zu Ihnen.»
Ach, das hat er gemerkt? Es zuckt in meinem Gesicht, aber ich reiße mich zusammen, weil ich ihn mit keiner Regung erkennen lassen will, ob mich sein Gerede auch nur die Bohne interessiert. Nur fürs Protokoll: Tut es nicht.
«Meine Tochter hat mir gerade gehörig den Kopf gewaschen. Sie haben ihr sehr geholfen, und wir sind Ihnen wirklich dankbar. Ich bin Ihnen dankbar. Meine Bemerkung war weiß Gott nicht angebracht. Ich war schlicht überrascht und habe die Situation fehlinterpretiert. Mr. Rivers, würden Sie meine Entschuldigung annehmen?» Jetzt streckt er die Hand aus und wartet darauf, dass ich einschlage.
Und verdammt, das … das kommt unerwartet. William Hayden entschuldigt sich bei mir. Scheiße, es gäbe eine Million Gründe, sich zu entschuldigen, aber das eben mit seiner Tochter ist im Vergleich dazu ein Witz. Wenn er wüsste, wer ich bin, und nur den Hauch eines Gewissens hätte, müsste er sich ein Loch graben.
«Wir schätzen die Arbeit Ihrer Kollegin Ms. Sawyer sehr. Und Sie setzen offenbar erfolgreich ganz andere Techniken ein. Deshalb wäre ich wirklich froh, wenn Sie meine Entschuldigung annehmen würden. Zumal ich mich sonst bei meiner Tochter nicht mehr blicken lassen darf.» Jetzt lacht er auf.
Seine Tochter hat ihn also um den kleinen Finger gewickelt. Noch mehr Goldpuder auf ihrem Hintern. Ich frage mich, wie lange Mr. Hayden die Hand ausstrecken kann, bis ihm der Arm lahm wird. Aber dann atme ich tief durch, öffne die Faust in meiner Tasche und ziehe sie heraus. Als ich einschlage, wirkt er fast erleichtert, aber das wird zu seiner üblichen Show gehören.
«Nicht der Rede wert», sage ich, und es ist verdammt schwer, überhaupt die Zähne auseinanderzukriegen. Sein Händedruck hat diesmal genau die richtige Intensität. Nicht so schlapp, dass er phlegmatisch wirken könnte, aber auch nicht so fest, dass es unangenehm wird. Ich schätze, so was übt man als Demokrat, um nicht so peinlich und offensichtlich nach Macht zu ringen wie Donald Trump.
Als mir sein teurer Anzug ins Auge fällt und der Manschettenknopf, der aus dem Ärmel rauslugt, wird mir bewusst, wie er mich jetzt ohne Dienstkleidung wahrnehmen muss. Draußen sind es sechsundzwanzig Grad, und er trägt verdammt noch mal einen Designeranzug. Ich hingegen habe sogar die Ärmel meines Shirts hochgekrempelt, weshalb ein Teil des Tattoos auf der Innenseite meines Oberarms zu sehen ist. Meine Jogginghose ist ein uraltes Teil von Under Armour. Im Sale gekauft und eine Handbreit über den Knien abgeschnitten, als der Stoff dort zu dünn wurde. «Bitte entschuldigen Sie mich, ich habe noch andere Patienten.» Dann wende ich mich von ihm ab, weil ich jetzt sofort hier rausmuss.
«Danke für Ihr Verständnis, Mr. Rivers.»
Wenn er weiter so freundlich ist, werde ich wirklich etwas zertrümmern. Bevorzugt sein Jochbein. Ich verschwinde so schnell aus dem Flur, wie es gerade noch als normaler Gang durchgehen kann, dann springe ich im Treppenhaus gleich mehrere Stufen auf einmal nach unten. Nur raus hier. Nur weg von diesem Arschloch.
Ich kapiere nicht, warum er sich bei mir entschuldigt hat, wo es ihm eigentlich scheißegal sein kann, was ich von ihm halte. Es sei denn, ihm ist gerade eingefallen, dass ich ein potenzieller Wähler bin. Vielleicht bringt er mir beim nächsten Mal einen Anstecker mit oder eine billige Blume mit Demokratenfähnchen. Mit zusammengebissenen Zähnen stöpsle ich mir den rechten Kopfhörer ins Ohr, um mich abzuschotten, und drehe die Musik schon auf, kaum dass ich durch die Tür in den Hinterhof trete. Hier befindet sich der nicht ganz so schöne Teil des Klinikgeländes. Die Wäscherei, aus der ununterbrochen heiße Dampfwolken austreten, die Müll- und Glascontainer, die Mitarbeiterparkplätze. Ein paar Laternenmaste, die nachts den Hof beleuchten, damit die Zulieferer ihren Weg finden.
An all dem jogge ich vorbei Richtung Klinikpark, lege zwischendurch einen Sprint ein, bis mein Atem keuchend geht und ich spüre, wie mein Körper aufheizt. Vor dieser Begegnung hatte ich seit Wochen den größten Horror. Aber nicht, weil Hayden mir Angst machen würde, nein. Es ist die Wut, die jetzt wieder in mir hochkocht, die mir Angst macht. Erst auf der Wiese unterbreche ich meinen Lauf für ein paar Air Squats und Push-ups, bei denen ich bis zwölf zähle und dann noch einmal bis zwanzig, weil es nicht ausreicht, um runterzukommen. Mit gespreizten Fingern stütze ich mich auf das trockene Gras, und nach dem nächsten Liegestütz hebe ich die Beine hoch bis in den Handstand, bis jeder Muskel in meinem Körper anfängt zu brennen. Was mir willkommen ist. Es kann gar nicht genug in mir brennen, damit ich meine Gefühle wieder unter Kontrolle kriege. In meinem rechten Ohr singt Jarryd James: Do you remember the way it made you feel? Do you remember the things it let you feel?
Und ich kann mich genau erinnern. Hölle, ich weiß genau, was ich gefühlt habe. Kann mich an jede verfickte Nuance des Schmerzes erinnern.
Langsam beuge ich die Arme, lasse mein Gewicht nach unten sinken, bis das Gras mich am Mund kitzelt, und stemme mich wieder hoch. Zweimal, fünfmal, zehnmal mache ich die Liegestütze im Handstand. Ich hebe eine Hand an, halte mich nur noch mit rechts hoch und balanciere meinen Körper aus.
Es gibt keine Schwerkraft.
Nicht für mich, nicht in diesem Moment.
Irgendwann fängt mein Arm an zu zittern, da gebe ich nach, komme erst auf die zweite Hand runter und dann auf die Füße. Sprinte wieder los, laufe bis zum Teil des Parks, wo für Patienten ein Übungsparcours aufgebaut worden ist, der momentan aber menschenleer ist, weil die Sonne vom Himmel brennt und der Platz nicht von Bäumen beschattet wird. Ich gehe zum ersten Gerät und hänge mich an die Reckstange, kneife die Augen gegen die Sonne zusammen und mache Klimmzüge im Rhythmus des Songs in meinem Ohr, den ich in Endlosschleife laufen lasse.
Die Anstrengung hilft mir, klarzukommen. Das mache ich seit acht Jahren. Seit ich fünfzehn bin, trainiere ich mit meinem eigenen Körpergewicht. Und seit drei Monaten wieder hier auf dem Klinikgelände.
Als ich schließlich abspringe und auf dem Boden lande, bin ich schweißgebadet, aber das Pochen hinter meinen Schläfen ist zu einem erträglichen Druck abgeflacht. Trotzdem kann ich die Gedanken an William Hayden nicht vollständig abstellen. Weil ich alles erst vor ein paar Wochen erfahren habe. Und weil ich mir wünschte, ich hätte nie etwas davon herausgefunden.
5. Kapitel
Abbi
In d
er Nacht habe ich kaum ein Auge zugemacht. Ich musste die ganze Zeit an die letzte Physiotherapie-Sitzung denken. Weil ich einerseits unendlich erleichtert bin, dass es ohne Schmerzen vonstattengegangen ist, es mir andererseits aber schrecklich peinlich ist, wie Dad reagiert hat. Er hat mir hoch und heilig versprochen, sich bei David zu entschuldigen, trotzdem fühle ich mich nicht wohl in meiner Haut. Das mag an der Müdigkeit liegen oder daran, dass ich seit ein paar Stunden alle paar Minuten auf die Uhr starre. Ich glaube nicht, dass David heute noch kommt. Es ist schon halb fünf, und Kadence hätte jetzt normalerweise schon Feierabend. Wahrscheinlich kommt er überhaupt nie wieder. Und ganz ehrlich: Ich hoffe es! Denn falls David sich doch noch einmal blicken lässt oder ich ihm zufällig auf dem Flur begegnen sollte, werde ich den Zwischenfall mit Dad ansprechen müssen, weil … Ich bin erwachsen. Das ist es, was Erwachsene tun, oder? Sie sprechen Dinge an.
Um mich abzulenken, nehme ich die Mappe von meinem Nachttisch, die Kadence mir gestern Nachmittag noch vorbeigebracht hat. Ich klappe den Deckel auf, ziehe die Blätter auf meinen Schoß und befühle die unterschiedlichen Grammaturen. Es sind ganz zarte dabei, deren Gewicht auf den Quadratmeter gerade einmal siebzig Gramm betragen, aber auch dicker Karton. Ich mag die traditionellen Papiersorten, aber noch mehr mag ich meine eigenen, weil sie nicht mit Streichmasse behandelt, sondern naturbelassen sind. Dadurch ist das Papier griffig und ein klein wenig rauer. Ich liebe es, die neuen Musterblätter anzufassen. Sie brauchen in der Herstellung im Vergleich zu gestrichenem Papier viermal so lang zum Trocknen, aber der Aufwand ist es definitiv wert, weil es sich so natürlich anfühlt, so puristisch.
Anstatt hier in der Rehaklinik zu liegen, würde ich jetzt tausendmal lieber durch Dads Fabrik laufen, um zu sehen, wie das Papier auf den Tambour rollt. Ich möchte nach Hause, auch wenn meine Eltern die meiste Zeit sowieso nicht dort, sondern in Concord sind. Ich habe eine solche Sehnsucht nach meinem Zimmer, dass ich manchmal heulen könnte. Ich möchte meine Bettwäsche riechen, meine Bücher, etwas aus meinem Kleiderschrank anziehen, das ich mag und in dem ich mich hübsch fühle, und nicht etwas, womit ich bequem im Bett liegen kann.