Er will nicht mehr, dass ich ihm in die Augen sehe? Ich nicke und beiße mir auf die Unterlippe. Und dann warte ich auf eine Stimme, die mir ins Ohr flüstert, was ich tun soll. Oder Meditationsmusik. Oh Gott. Bitte keine Meditationsmusik. Klangschalen oder Ähnliches sind einfach nur furchtbar. Ich werde lachen oder weinen müssen, und dann wird mein Bein wieder schmerzen.
«Wenn du weiter nur an diesen dämlichen Kommentar denkst oder an das, was ich gleich mache, wird das nichts. Aber vielleicht lenkt dich das hier ab», sagt er und berührt das Display. In der nächsten Sekunde zucke ich zusammen, weil die E-Gitarre von Eye of the Tiger an mein Ohr dringt. Als David nun die Augenbrauen anhebt und im Rhythmus der Musik den Kopf bewegt, muss ich so unvermittelt lachen, dass ich mir vorsorglich das Knie festhalte. Ich schüttle den Kopf.
Davids Grinsen wird breiter. «Okay. Das motiviert dich also nicht. Dann trifft das hier vielleicht eher deinen Geschmack.» Die Musik bricht ab, er spult mit dem Regler den nächsten Song ein Stück vor, und dann höre ich die unverkennbare Stimme von Britney Spears: You want a hot body? … You better work, bitch!
Stöhnend halte ich mir beide Hände vors Gesicht, weil ich wahrscheinlich vor Lachen sterbe, wenn ich jetzt auch noch sein Gesicht ansehe.
«Das gefällt dir also auch nicht. Wie wär’s dann mit Ava Max?», fragt er und startet Blood, Sweat & Tears.
Eigentlich mag ich den Song, aber dabei im Bett Knieübungen machen? Ich schüttle wieder den Kopf, und David stoppt die Musik nach wenigen Takten. «Sie sind wirklich nicht leicht zufriedenzustellen, Ma’am.»
«Wie auch, wenn du so einen grauenhaften Musikgeschmack hast?» Das meine ich nicht ernst, was er hoffentlich merkt. «Lass mich lieber etwas aussuchen.»
Er reicht mir sein Handy, und ich überfliege die Playlist. Er hat sie ‹Best Workout Songs für Jane› genannt, und ich frage mich, ob Jane seine Freundin ist. Wahrscheinlich. Und dann überlege ich, wie süß es ist, dass er für seine Freundin eine Trainings-Playlist erstellt hat. Als ich auf Anhieb nichts finde, gehe ich seine Bibliothek durch und stoße weiter unten auf eine Playlist mit dem Namen ‹Mom’s Favs›. Eine Playlist mit den Lieblingsliedern seiner Mutter? Ich muss schlucken.
Es sind fast alles Lieder aus den Achtzigern, und einer davon ist auch der Lieblingssong meines Dads. Ich tippe den Sänger Black an, weil das etwas Ruhiges ist, wenn ich mich richtig erinnere. Etwas, bei dem ich vielleicht tatsächlich abschalten und mich entspannen kann.
Doch sobald die ersten Takte der typischen Achtziger-Jahre-Synthesizer-Melodie erklingen, merke ich, dass ich einen Fehler gemacht habe, weil Davids Lächeln in sich zusammenfällt. Er öffnet den Mund, schließt ihn aber sofort wieder. Seine Kiefer spannen sich an.
Ein Lieblingslied seiner Mom auszusuchen, war wohl eine ganz und gar blöde Idee. Ich sollte die verdammte Musik abstellen.
«Warte, es tut mir leid, ich mach was anderes …», fange ich an, da hält er meine Hand fest. Als sich unsere Blicke treffen, schüttelt David den Kopf und sagt: «Schon okay.» Und dann mit einem betont scherzhaften Unterton: «Wenn es das ist, was Ihnen gefällt, Ma’am.»
Und weil ich nicht weiß, was ich darauf sagen soll, schließe ich einfach die Augen.
6. Kapitel
David
«Schon okay. Wenn es das ist, was Ihnen gefällt, Ma’am», höre ich mich sagen. Ich lasse die Hand sinken, während Abbi mit geschlossenen Augen mein Handy festhält. Ich könnte mir selbst in den Hintern treten, dass ich ihr die Wahl überlassen habe.
Wieso ausgerechnet dieser Song? Was soll das? Das Schicksal lacht sich vermutlich gerade den Arsch weg, weil es damit ordentlich Zucker aufs Popcorn gestreut hat.
Ich hätte einfach sagen sollen, dass sie einen Song aus einer anderen Playlist nehmen soll. Nicht ausgerechnet aus dieser, die ich für Moms letzten Geburtstag erstellt habe. Warum habe ich sie nicht längst gelöscht? Ich sollte den verfluchten Kopfhörer rausnehmen und sie den Song allein hören lassen. Aber das wäre zu einfach, oder? Und ich hab es mir noch nie leicht gemacht. Zumal ich mich ohnehin daran gewöhnen muss. Warum also nicht gleich jetzt lernen, damit klarzukommen. Wo ich gerade in der besten Gesellschaft dafür bin. Fuck, es wäre zum Totlachen, wenn es nicht so traurig wäre.
Mom stand auf britische Musiker, und dieses Lied hat sie früher ständig gehört, weil es sie daran erinnert hat, dass das Leben ein Geschenk ist, auch wenn es einem gerade nichts schenkt.
No need to run and hide, it’s a wonderful, wonderful life.
Und weil das Leben gerade ach so wundervoll ist, mache ich einfach meinen Job und fange mit der Therapie an. Halte Abbis Bein fest und konzentriere mich nur auf die Muskeln, die ich unter ihrer Haut ertaste. Und das macht es echt leichter, weil es das ist, was ich am besten kann. Lesen, wie es einem Körper geht, wo ein Gelenk eingeschränkt ist, wo Muskeln verhärtet sind. Meistens sehe ich das schon an der Art, wie jemand zur Tür reinkommt. Nun konzentriere ich mich ganz auf meine Patientin, streiche erst einmal über das gesamte Bein nach oben, um ihr die Chance zu geben, mit mir warmzuwerden. Ich verdränge alles, was mit ihrer Familie zu tun hat, und denke nur noch daran, dass Abbi Hilfe braucht. Lege dann ihre Ferse in meine linke Hand, um mit den Fingerspitzen der rechten Hand den Knöchel zu umfahren, bevor ich mit beiden Händen nach oben bis zu Abbis Leiste gleite. Dabei ignoriere ich nicht nur die Musik, sondern auch sonst alles, was nicht mit meinem Job zu tun hat. Ich krieg das hin. Trotzdem fällt mir auf, wie weich Abbis Haut ist. Sie hat zwei winzige Muttermale auf dem Oberschenkel, die am Rand ihrer Shorts rausgucken. Und sofort frage ich mich, ob da noch mehr sind.
Was mich nicht interessiert.
Was mich nicht interessieren sollte. Verdammt, geht’s noch unprofessioneller, David?
Ich presse die Kiefer aufeinander und beobachte Abbis Reaktion. Das ist mein Job. Ich muss sofort spüren, wo ihre Schmerzgrenze ist. Ihre Augenbrauen sind gerunzelt und viel dunkler als ihr Haar. Sie hält die Augen noch immer geschlossen, und nun spannt sie sich an. Deshalb atme ich tief aus und lockere ihr Bein oberhalb des Knies, erst dorsal, also hinten, dann Richtung ventral. Ihre Oberschenkelmuskulatur ist verkürzt, was daran liegt, dass sie ihr Bein immer noch nicht richtig beugen kann.
Danach gehe ich zum Pes anserinus, wo unterhalb ihres Knies gleich drei Muskeln ansetzen, und streiche quer zum Muskelfaserverlauf, was für sie etwas schmerzhaft sein muss, aber sie lässt sich nichts anmerken. Mit den Daumen rolle ich vorsichtig mehrmals über die Narben an ihrem Knie, danach setze ich mich zu ihr aufs Bett und hebe ihren Unterschenkel an. Okay, ich hätte sie vermutlich warnen sollen, denn sofort reißt sie die Augen auf. Sie sind dunkelbraun. Ganz anders als die von Jane, und ich überlege, ob mich das erleichtert.
Nein, tut es nicht.
Denn dieser Blick – als warte sie nur darauf, dass ich ihr Schmerzen zufüge. Dabei bin ich vorsichtig. Ultravorsichtig. Ich sollte etwas sagen, um sie zu beruhigen, aber weil immer noch Moms Playlist läuft, krieg ich die Zähne nicht auseinander. Wenn ich jetzt was sage, habe ich meine Stimme garantiert nicht unter Kontrolle. Ich klemme mir ihren Unterschenkel unter meinen Arm, was Abbi überrascht die Luft anhalten lässt. Es ist alles in Ordnung, sage ich stumm mit jedem Zentimeter, den mein linker Handballen den Fibularis nach oben knetet, und ich hoffe, sie spürt das. Es ist alles in Ordnung, du kannst mir vertrauen.
Weil sie jetzt die Augen wieder schließt und mich nicht ansieht, kann ich so tun, als wäre das alles hier normal. Dass ich ihr helfe, obwohl ihr Vater fast unser Leben ruiniert hat. Die nächsten Minuten mache ich genau so weiter. Dann stehe ich auf, packe sie am Fuß und beuge ihr Knie. Dabei vermeide ich jede Rotation nach außen. Abbi ist jetzt so entspannt, ihre Muskeln so weit relaxiert, dass eine passive Flexion unter neunzig Grad ganz leicht möglich ist, und sogar weniger als achtzig, siebzig, bis ich an den Punkt komme, wo ich Widerstand spüre. Langsam bewege ich ihr Bein, verändere die Achse ein wenig nach außen und merke sofort, dass an ihrer Hüfte was nicht stimmt. Aber um das genau zu untersuchen, müsste sie sich ausziehen.
Und das … werde ich definitiv an Kadence abgeben. Nicht, weil ich ein Problem dami
t hätte – es ist mein verdammter Job! –, sondern weil Abbi das garantiert lieber ist.
«Setz dich mal auf die Bettkante», sage ich und gehe dann vor ihr in die Hocke, als sie sich mühsam aufgerichtet hat. Abbi guckt auf mich runter, als hätte ich sie aus dem Tiefschlaf geweckt und nicht gerade ziemlich heftig ihr Bein bearbeitet. Ihre Haare sind am Hinterkopf ganz zerzaust.
Meine Handflächen sind von der Massage noch warm, und ich lege sie nun auf ihre Schienbeine. «Halte jetzt mal dagegen, als würdest du meine Hände wegdrücken wollen. Versuch einfach, etwas Druck aufzubauen und zu halten.»
Mit einem Nicken spannt sie die Beine an, und ich spüre sofort, wie wenig Kraft sie hat. Trotzdem hält sie tapfer einige Sekunden durch.
«Noch mal.»
Wieder spannt sie die Beine an.
«Reicht das?», fragt sie mit einem Keuchen, und ich schüttele den Kopf.
Das sind Isometrie-Übungen, die sie wirklich täglich machen müsste. Scheiße, was hat sie eigentlich die letzten Wochen hier getan? «Ganz sicher nicht.»
«Dein Ernst?» Sie sieht entgeistert aus.
Genau das fragt Jane mich auch immer. «Mein absoluter Ernst. Mach es noch mal.»
Okay, jetzt guckt sie mich nicht mehr verschlafen an, sondern eher so, als würde sie mir ein Messer reinrammen, sobald ich ihr den Rücken zukehre. Gegen meinen Willen muss ich grinsen und gucke zu Boden, damit sie es nicht sieht. Wir wiederholen das noch zweimal, dann zieht Abbi den Kopfhörer aus ihrem Ohr, was die Musik sofort stoppt. Die plötzliche Stille fühlt sich an, als würde der Luftballon platzen, in dem mein Kopf die letzten Minuten gesteckt hat, und auf einmal sind alle Gedanken wieder da. Kreisen um ihren Vater wie ein Schwarm Fliegen. «Okay.» Ich räuspere mich. Professionell, David! Sie ist deine Patientin. «Lass uns für heute aufhören. Das hast du gut gemacht, Abbi. Sehr gut sogar. Ich schätze, du kannst bald nach Hause, wenn du so weitermachst.» Und bei Gott, ich hoffe, dass es so ist. Damit ich das hier abhaken kann und nichts mehr mit der Familie Hayden zu tun haben muss.
Abbi sieht unschlüssig aus, ihr Lächeln ist schief. «Also eigentlich hast du ja die ganze Arbeit gemacht. Danke. Ich … Es fühlt sich jetzt schon so viel leichter an, und ich werde das üben, versprochen. Außerdem … ich mag die Playlist von deiner Mom. Sie hat einen tollen Musikgeschmack.»
«Hatte», verbessere ich mit trockener Kehle und spüre dann eine völlig absurde Befriedigung, als ich sehe, wie Abbi zusammenzuckt. Und wie scheiße ist das eigentlich von mir? Ich will nicht, dass sie über meine Mom redet oder auch nur irgendwas über sie weiß, trotzdem konnte ich das nicht zurückhalten. Weil … vielleicht will ich es doch. Dass sie weiß, wie müde meine Mutter immer war, wie hart sie arbeiten musste. Und dass ihr Vater daran schuld ist, weil er ein gewissenloses Arschloch ist. Und nicht okay, so wie sie das von ihm behauptet. Zum Mitschreiben: William Hayden ist kein netter Kerl.
Wann hört man eigentlich auf, seine Eltern anzuhimmeln? Ist man erwachsen, wenn man kapiert hat, dass sie genauso beschissene Fehler machen wie jeder andere Mensch auch? Wenn es so ist, dann bin ich schon mit neun erwachsen geworden, als mein Trommelfell geplatzt ist. Dann ist damals noch viel mehr kaputtgegangen als nur das.
«Das tut mir leid.» Sie sieht ehrlich betroffen aus, und ich brauche einen Moment, um zu kapieren, dass sie noch vom Tod meiner Mom spricht.
«Das muss dir nicht leidtun», presse ich hervor. «Du konntest es ja nicht wissen.» Sie weiß gar nichts. Was noch einmal mehr ein Grund ist, sie meine Abneigung gegen ihren Vater nicht spüren zu lassen.
«Trotzdem», fängt sie an und verzieht den Mund. «Ich hätte ihre Playlist besser nicht angemacht. Du hättest was sagen sollen. Es tut mir leid.»
«Ich komme damit klar. Ist schon ein paar Wochen her. Herzinfarkt.» Dabei beschreibt dieses einzelne Wort nicht annähernd die Hölle, die dadurch über Jane und mich hereingebrochen ist. Dass ich vielleicht mein Stipendium verliere, weil ich den Nachholtermin für meine Klausur versäumt habe, ist dabei nur eine Randnotiz.
In ihren Augen sehe ich die Fragen so überdeutlich, dass ich mich abwenden muss. Erst ein paar Wochen? Erst ein paar Wochen, und du tust so, als wäre es Jahre her?
«Wir sehen uns morgen», sage ich schnell, weil ich ihren mitfühlenden Blick nicht ertragen kann. Nicht von ihr. Nicht von Haydens Tochter. «Kann aber wieder spät werden, weil Kadence freihat und ich ihre Patienten übernehme.»
«Das macht nichts. Ich kann dir ja nicht weglaufen.»
Ich nehme den Kopfhörer von ihr entgegen und schiebe ihren Nachttisch zurück ans Bett, weil ich den eben zur Seite gerückt hatte, um mehr Platz zu haben. Mir fällt die Mappe mit leeren Blättern wieder auf, die sie vorhin nur notdürftig geordnet hat. Das Papier erinnert mich an die Zeit, als Jane im Krankenhaus war und ich ihr Origamis gefaltet habe, um sie abzulenken. Deshalb muss ich verdammt tief einatmen, um die Bilder loszuwerden. Aus einem Impuls heraus stecke ich heimlich das einzelne lose Blatt ein, das obenauf liegt, bevor ich aus dem Zimmer gehe.
In der Umkleidekabine werfe ich mein Handy auf die Ablage meines Spinds und werde endlich die Klamotten los, die ich seit mehr als zehn Stunden trage. In der Metalltür meines Schranks kleben drei Fotos. Eins von Mom und zwei von Jane und mir. Wir stehen im Vorgarten des großen Hauses im Merrimack County, in dem wir gewohnt haben, als mein Dad noch bei uns war und ich noch nicht wusste, dass Jane eigentlich nur meine Halbschwester ist. Sie ist höchstens vier und schleift eine monsterhässliche Puppe hinter sich her. An die Puppe kann ich mich so gut erinnern, weil ich ihre riesigen Augen gruselig fand und sie irgendwann heimlich zugeklebt habe. Jane hat geheult, weil sie meinte, dass Pru jetzt tot wäre. Und ich hab es echt bereut. Auf dem zweiten Foto posieren wir vor einem anderen Haus. Es sieht längst nicht mehr so gepflegt aus, und ich weiß noch genau, wie es sich angehört hat, wenn diese verdammte Fliegentür, vor der wir stehen, gegen den Rahmen geknallt ist. Jedes Mal, wenn man raus und rein ist.
Das Foto wurde nach Janes letzter Chemo aufgenommen, als sie das erste Mal zur Schule gehen durfte. Nur für das Bild hat sie den Mundschutz abgenommen. Ihre blauen Augen kann man kaum erkennen, weil sie sie gegen das Sonnenlicht zusammenkneift. Ich erinnere mich daran, wie fest ich ihre Hand gehalten und was ich mir in diesem Moment geschworen habe, auch wenn ich erst zehn war und ein Wicht, meine Beine in den kurzen Hosen so dünn wie zwei Pommes. Dass ich Jane vor allem beschützen würde, egal was.
Mein Handy vibriert auf der Ablage, als ich mir die Schuhe zubinde, und mir wird eine Erinnerung angezeigt:
18.00 Uhr Janes Kontrolltermin!
Verdammt, den hab ich ganz vergessen. Der Termin ist in einer halben Stunde, und wie ich Jane kenne, hat sie sich noch nicht mal fertiggemacht. Im Rausgehen wähle ich ihre Nummer und fluche dann, weil sie nicht abhebt und die Mailbox schon nach dreimal klingeln angeht.
«Jane? Ich hoffe, du bist fertig. Ich fahre jetzt erst los und bin in einer Viertelstunde da. Pack was zu trinken ein, wir müssen Wartezeit einplanen, hat mir die Praxis geschrieben. Stell dich am besten schon an die Straße.»
Ich werfe meinen Rucksack in den Kofferraum und kurble beide Fenster runter, weil ich heute Morgen keinen Schattenparkplatz bekommen habe und der Innenraum so heiß ist wie ein Backofen. Das Lenkrad fühlt sich an, als könnte man darauf grillen. Ich krame das Hörgerät aus der Mittelkonsole heraus und stecke es mir ins linke Ohr. Ich hasse dieses Teil. Was der Grund ist, warum ich es vermeide, mit dem Auto zu fahren, und mir jede Fahrt zweimal überlege.
Noch einmal versuche ich, Jane zu erreichen, aber sie geht nicht ran. Erst als ich schon in unsere Straße einbiege, ruft sie mich zurück.
«Lass dir Zeit, ich bin schon in der Praxis.»
«Okay. Gib mir fünfzehn Minuten, dann bin ich bei dir.» Ohne auch nur vor dem Haus zu halten, wende ich mitten auf der Straße.
«David.» Sie seufzt. «Du musst nicht herkommen. Ich kann das auch allein. Ich sitze hier nur rum, und du hast den ganzen Tag gearbeitet. Außerdem habe ich eh schon ein schlechtes Gewissen, weil ich dich neulich Nacht geweckt habe.»
«Aber allein
im Wartezimmer rumzusitzen, ist doch langweilig.» Ich fahre die Straße bis zum Ende hinunter und setze erneut den Blinker.
«Ach was. Macht superviel Spaß.» Sie schnaubt und wird dann wieder ernst. «Es bringt doch nichts, wenn wir uns beide langweilen. Das schaffe ich allein, wirklich.»
«Und wer soll dann mit dir das negative Ergebnis feiern?»
«Das Ergebnis bekomme ich heute sowieso noch nicht, das weißt du doch. Wir können uns auch einfach nachher im Diner treffen wie immer.»
Sie meint den Laden, in dem Mom bis zu ihrem Tod gearbeitet hat. Wir haben ihn als unseren Treffpunkt beibehalten, auch wenn es sich die ersten Male echt scheiße angefühlt hat.
«Vergiss es, ich komme. Ich hab es Mom versprochen, also hör auf zu meckern.» Ich lege auf und biege zehn Minuten später auf dem Parkplatz der Gemeinschaftspraxis ein. Unten ist eine Notfallpraxis für Kinder, weshalb dort immer ein Heidenlärm herrscht. Die Praxis für Hämatologie und internistische Onkologie ist im zweiten Stock, und es ist jetzt genau ein Jahr her, dass ich zuletzt mit Jane hier war. Trotzdem erkennen uns die Angestellten dort noch.
«David», begrüßt mich die Sprechstundenhilfe freundlich. Sie heißt Gabriella und arbeitet bestimmt seit sechs Jahren hier. Ich kenne allerdings auch noch ihre Vorgängerin. «Deine Schwester ist schon bei der Blutabnahme. Ihr müsst nicht lange warten, ein anderer Patient hat seinen Termin kurzfristig abgesagt.»
«Danke.» Ich will mich schon abwenden, da sehe ich, wie sie an ihrem Kaffee nippt, und scheiße, auch wenn es draußen sechsundzwanzig Grad sind, ich brauche dringend Koffein. «Gabriella, was muss ich tun, um von Ihnen auch eine Tasse Kaffee zu bekommen?»
«Ist nur fürs Personal.» Sie lächelt milde.
Das kann sie mir nicht antun. Nicht nach diesem Tag. «Okay, verstehe ich. Die Sache ist nur die: Für einen Kaffee würde ich fast alles tun. Wie zum Beispiel singen. Auch wenn ich echt ein beschissener Sänger bin, ich treffe keinen einzigen Ton. Aber ich könnte trotzdem was singen und …»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 6