«Um Gottes willen!», unterbricht sie mich.
«… und höre erst auf, wenn ich einen heißen Kaffee kriege.» Jetzt grinse ich breit und kann sofort sehen, wie es wirkt.
«Du bist genauso unmöglich wie deine Schwester.» Sie schüttelt lachend den Kopf, was ihren Afro zum Wippen bringt, steht von ihrem Drehstuhl auf und verschwindet in ein angrenzendes Zimmer. «Milch und Zucker?», ruft sie um die Ecke.
«Bitte schwarz, Ma’am.»
Kurz darauf kommt sie zurück und schiebt mir eine dampfende Tasse über die Theke. «Wie schnell das Jahr rumgegangen ist, nicht wahr?»
Ich nicke und merke, dass der Kaffee wirklich verdammt heiß ist. Und stark. Mit einem Wort: perfekt.
«Ich hab das von eurer Mom gehört. Es tut mir schrecklich leid. Das ist so plötzlich passiert.»
Natürlich tut es ihr leid – sie ist mit Abstand die netteste Person in diesem Ärztehaus –, nur dass ich mit Mitleid schon immer schlecht umgehen konnte. Ich brumme etwas Zustimmendes und puste in die Tasse.
«Wir waren alle so geschockt.»
Nickend reibe ich mir mit der freien Hand über den Ellbogen. Was sie zwischen den Zeilen sagt, kann ich auch so hören, ohne dass wir weiter darüber reden. Jetzt bist du ganz allein verantwortlich für deine Schwester. Das ist bestimmt hart. Wie macht ihr das mit der Miete? Habt ihr noch Verwandte? Was ist eigentlich mit Janes Vater?
«Wir kommen schon zurecht. Danke für den Kaffee! Ich bringe Ihnen die Tasse gleich zurück.» Ich schiebe die Tür zum Wartezimmer auf und sehe sofort, wo Jane gesessen hat, weil sie immer einen Berg Zeitschriften durchblättert und ihn dann liegen lässt. Deshalb lege ich den Packen zurück auf den Tisch und setze mich auf den Platz neben ihrem. Außer mir wartet nur noch ein alter Herr, und ich könnte schwören, dass er eingepennt ist. Ein paar Minuten beobachte ich ihn, wie er, das Kinn auf die Brust gesunken, so dasitzt, und trinke meinen Kaffee. Dann stelle ich mir die Tasse zwischen die Füße, hole das rechteckige Blatt Papier aus der Tasche, das ich Abbi Hayden geklaut habe, und glätte es auf meinem Oberschenkel. Danach falte ich es einmal diagonal zu einem Dreieck, klappe es wieder auf und dann noch einmal zur anderen Seite. Das habe ich früher so oft gemacht – immer wenn wir mit Jane im Krankenhaus waren –, dass ich es wahrscheinlich für den Rest meines Lebens im Schlaf kann.
Mom hatte einmal nichts zum Spielen mitgenommen, und meinen uralten Nintendo wollte Jane nicht. Deshalb mache ich jetzt genau das, was ich vor vierzehn Jahren das erste Mal aus einer alten Zeitung gemacht habe.
Ich falte die Ecken des Dreiecks zur Mitte, klappe es zu einem noch kleineren Dreieck um und bilde die spitzen Ohren aus. Das Papier fühlt sich gut an. Vertraut. Ich darf nur nicht daran denken, woher es stammt. Obwohl diese Ironie echt was hat.
Der Origami-Fuchs ist das simpelste Tier, und den konnte ich schon mit neun. Mit der Zeit musste ich schwierigere Origamis falten, damit Jane sich nicht langweilte. Als sie nach der Chemo aus dem Krankenhaus entlassen worden ist, haben wir einen ganzen Haufen davon auf der Fensterbank zurückgelassen. Mom meinte, dass es vielleicht Unglück bringt, wenn man was aus dem Krankenhaus mit nach Hause nimmt. Blumen würde man auch nicht mitnehmen. Wie man sieht, hat das mit dem Glück nicht wahnsinnig lang vorgehalten.
Ich stelle den kleinen Fuchs auf den Sitzplatz neben mir und hebe die Tasse auf. Kurz darauf höre ich Jane schon auf dem Flur.
Ich spüle gerade den letzten Schluck Kaffee runter, als sie ins Wartezimmer kommt und über das ganze Gesicht strahlt. Ein Anblick, der mir heute die Luft aus dem Brustkorb quetscht. Weil mir klar ist, dass ich ihr von Abbi Hayden erzählen müsste, das aber nicht fertigbringe. Sie hat ein Recht, es zu wissen, aber ich schiebe das Argument vor, dass ich sie vor allem beschützen muss. Und das tue ich auch damit, indem ich ihr nichts von den Haydens erzähle.
«David, dein Ernst?» Jane hat den weißen Fuchs sofort gesehen und hebt ihn auf, bevor sie sich auf den Stuhl fallen lässt und mich umarmt. «Danke fürs Abholen.» Sie trägt enge Leggings und darüber ein extraweites Shirt, nun schlägt sie die Beine übereinander.
«Alles okay mit dir?», frage ich.
«Du meinst abgesehen davon, dass sie mir viel zu viel Blut abgezapft haben? Beim nächsten Mal werde ich genau darauf achten, ob die Frau mit der Nadel im Sonnenlicht glitzert.» Sie steht wieder auf. «Hast du ausgetrunken? Dann lass uns fahren, ich habe echt Hunger.»
Ich nehme Janes Tasche und folge ihr nach draußen. «Danke für den Kaffee, Ma’am», sage ich zu Gabriella, als ich die Tasse abstelle.
«Danke fürs Nichtsingen. Und kommt nicht so bald wieder, ihr beiden.»
Im Rausgehen gibt Jane mir einen Schubs ins Kreuz. «Du hast echt wieder die Nummer mit dem Singen abgezogen?»
«Ich brauchte Koffein, ich bin verdammt noch mal seit fünf Uhr auf», rechtfertige ich mich. Aber eigentlich könnte ich heute eher puren Alkohol vertragen.
Jane versucht, sich das dunkle Haar aus dem Gesicht zu pusten, und weil einige Strähnen an ihren Lippen hängen bleiben, fegt sie sie mit der Hand beiseite. «Irgendwann lässt dich wirklich mal jemand singen. Ich verstehe sowieso nicht, warum alle davor solche Angst haben. Und dann kommt raus, dass du’s sehr wohl kannst. Schätze, dann bist du im Arsch, David.»
Ich bin sowieso schon im Arsch. Auch ohne Singen. Weil ich sie seit Wochen anlüge und darin verdammt schlecht bin. Viel schlechter als unsere Mom. Wortlos schließe ich ihr die Beifahrerseite auf, da die Zentralverriegelung nicht mehr funktioniert, und drücke ihr die Tasche vor den Bauch, bevor ich das Auto umrunde und selbst einsteige.
«Warum lässt du das neue Hörgerät nicht einfach an?», fragt sie. «Wenn du es immer rausnimmst, gewöhnst du dich nie dran. Es ist viel kleiner als dein altes, man sieht es doch kaum.»
«Es geht nicht darum, ob man es sieht. Ich hasse es einfach, okay? So wie du gekochte Möhren hasst. Und …», mein Blick schwenkt zu ihr, «… Friseurbesuche. Oder Bürsten.»
Mit einem Schnauben fasst sie sich das verstrubbelte Haar zusammen und wickelt ein Haargummi von ihrem Handgelenk darum, bis es zu einem unordentlichen Knoten gebunden ist, aus dem überall Strähnen raushängen. «Besser so?»
Nicht wirklich. «Vergiss es einfach.» Ich fahre los, als sie sich endlich angeschnallt hat, und sehe im Augenwinkel, wie sie mit dem Origami-Fuchs in ihrer Hand spielt.
«Das hast du früher im Krankenhaus immer für mich gemacht. Dass du noch weißt, wie das geht …»
«Schätze, ich hab ein gutes Gedächtnis.»
«Kannst du den Kranich auch noch?»
Ich nicke.
«Ich wünschte, ich wäre auch so geschickt mit den Händen. Deine Patienten müssen dich lieben. Vor allem deine Patientinnen.» Als mein Kopf kurz zur Seite schwenkt, sehe ich ihr Grinsen und beiße die Zähne zusammen.
«Die im Durchschnitt fünfzig Jahre älter sind als ich.» Bis auf Abbi Hayden, aber das muss ich verdrängen. «Oder männlich.»
«Na ja, du bist vier Jahre älter als ich», überlegt sie dann mit einem Seufzen. «Wahrscheinlich kannst du dich deshalb so gut an die Zeit damals erinnern.»
Als ob ich irgendwas vergessen könnte, das mit ihrem Krankenhausaufenthalt zu tun hat. Als ob man so was Einschneidendes jemals vergessen könnte! Denn wenn ja, gäbe es da einiges, von dem ich mir wünschen würde, es nicht mehr zu wissen. Das mit Mom und ihren verdammten Lügen zum Beispiel. Oder das mit William Hayden.
Ich denke seit Wochen an nichts anderes. Seit Mom gestorben ist und ich angefangen habe, ihre Unterlagen zu ordnen, kreisen meine Gedanken nur darum, ob ich Jane davon erzählen soll. Aber wenn ich das tun würde, müsste ich ihr auch sagen, dass Mom uns angelogen hat. Und dass sie vor Jahren einen Vertrag mit William Hayden geschlossen hat, der sie fast ruiniert hat. Dass dieser Mistkerl von ihr verlangt hat, eine Verschwiegenheitsklausel zu unterschreiben, damit wir nie die Wahrheit erfahren. Wenn sie nicht so plötzlich gestorben wäre, hätte Mom diesen Beweis ganz sicher verschwinden lassen.
Zur Hölle, ich muss es ihr sagen, aber ich bringe es einfach nicht fertig. Weil es sie verletzen wird. Weil es eine Lawine lostreten
könnte. Meine Schwester ist nicht der Typ, der einfach etwas hinnimmt. Wenn sie es erfährt, dann wird sie Hayden damit konfrontieren, und er wird sich vermutlich rächen. Sie verklagen oder was weiß ich. Meine Finger krallen sich um das Lenkrad, weil ich nicht eine Sekunde daran zweifle, dass er das tun würde. Weil er es kann. Weil sie ihm damit in die Quere käme. Weil sie ihn damit vielleicht sogar zu Fall bringen könnte. Denn höchstwahrscheinlich ist William Hayden schon bald der neue Gouverneur von diesem verfickten Bundesstaat. Und ein Arschloch.
Und außerdem auch der leibliche Vater meiner Schwester Jane.
7. Kapitel
Abbi
Als er heute reinkommt, wirkt David fast gequält. Ich seufze innerlich, weil ich förmlich zusehen kann, wie er das abschüttelt und sich selbst ein Lächeln aufs Gesicht zwingt.
«Hey», sage ich, um ihn aufzuheitern. «Ich habe ganz viel trainiert. Wie versprochen.» Ich sitze auf der Bettkante, und zur Demonstration hebe ich mein rechtes Bein an und winkle es an. Ich schaffe es nicht so weit wie nach seiner Massage, aber immerhin. Aus irgendeinem Grund möchte ich ihm beweisen, dass ich mir wirklich Mühe gebe. Vielleicht damit er merkt, dass sich seine Arbeit lohnt, und dann nicht mehr so gequält aussieht.
«Großartig.»
Jetzt lächelt er richtig. Sogar mit den Augen, was mich erleichtert. Er hat vor ein paar Wochen seine Mutter verloren. Seine Stimmung hat garantiert nichts mit mir zu tun, und es ist mir unangenehm, dass ich das zuerst auf mich bezogen habe. David öffnet die Tür weit und verschwindet wieder auf den Flur. Sekunden später schiebt er ein monströses Gerät herein, das aussieht wie … ein Gehwagen.
Nein, nein, nein.
Mir wird schon schlecht, wenn ich das Teil nur sehe. Es ist eine Mischung aus einem überdimensionierten Rollator und … keine Ahnung … zwei Joysticks? Zumindest sehen die beiden Griffe, die nach oben zeigen, exakt so aus. Oder wie von einem Fahrradlenker geklaut. Inklusive Handbremse.
Ich lache auf, was sich in meinen Ohren überreizt anhört. «Bleib mir mit dem Ding vom Leib.»
David lässt den Wagen mitten im Raum stehen und kommt auf mich zu. Vor dem Bett geht er in die Hocke, stützt sich mit den Unterarmen auf den Knien ab und schaut eindringlich zu mir hoch. Sein braunes Haar fällt ihm in die Stirn, und ich könnte wetten, dass seit gestern ein paar Sommersprossen dazugekommen sind.
«Du kannst das, da bin ich mir absolut sicher. Mit den Armen stützt du dich so gut ab, dass dein Bein nur gering belastet wird.»
Langsam fange ich an, den Kopf zu schütteln, und er macht genau das Gegenteil und nickt im selben Rhythmus. Das wäre zum Lachen, wenn ich nicht so wahnsinnige Angst vor dem hätte, was er vorhat.
«Es geht nur um den Bewegungsablauf. Deine Beckenrotation, die Knieflexion …» Er unterbricht sich selbst. «Du sollst einfach wieder in Bewegung kommen. Wieder lernen, wie das geht, okay? Ich sag es nicht gerne, aber das Teil ist eigentlich für Senioren gedacht. Wir könnten auch gleich mit den Krücken anfangen, weil deine Rippenbrüche kein Problem mehr darstellen. Also?»
Ich schüttele weiter den Kopf. Ich wollte ihn ja aufmuntern. Aber deshalb gleich mein Kniegelenk riskieren?
«Nur ein Versuch, Abbi», sagt er.
«Auf keinen Fall.» Ich weiche seinen grauen Gewitteraugen aus, aber dann … Mist, dieser V-Ausschnitt von seinem blauen Physioshirt! Ganz schlecht. Man kann den Ansatz seiner Brustmuskeln sehen, und die sind ziemlich ausgeprägt. Krampfhaft halte ich meinen Blick deshalb an seinem Ärmel fest. Auch nicht viel besser. Er hat sie heute ein Stück nach oben gekrempelt, und jetzt fällt mir auf, dass er auf der Innenseite seines linken Arms ein Tattoo hat, von dem ich nur ein Paar Beine in einem Kreis erhasche. Aber ich glaube, ich kenne das Motiv.
Ich nicke in die Richtung. «Ist …» Ich räuspere mich. «Dein Tattoo. Ist das von Leonardo da Vinci?»
Davids graue Augen sind meinem Blick gefolgt, und jetzt nickt er. «Der vitruvianische Mensch. Es zeigt die idealisierten Proportionen des männlichen Körpers. Das Tattoo kannst du unter Jugendsünden einordnen. Versuchst du gerade, vom Thema abzulenken?»
Der ideale männliche Körper. «Keine Ahnung», sage ich etwas atemlos. «Funktioniert es denn?»
Jetzt schüttelt er den Kopf. «Ich will dich heute unbedingt aus diesem Bett rauskriegen, okay?»
Mein Puls schnellt panisch in die Höhe, und das muss der Grund sein, warum mein Gehirn plötzlich nicht mehr richtig funktioniert. «Lustig, dass du das sagst. Männer wollen sonst doch eigentlich immer das Gegenteil erreichen, oder?» Ich habe es kaum ausgesprochen, da bin ich von mir selbst entsetzt, weil es völlig daneben ist und wie eine extrem billige Anmache klingt.
Davids Augenbrauen heben sich auch prompt.
«Tut mir leid», sage ich schnell und könnte vor Scham sterben. «Das sollte lustig sein. In meinem Kopf klang es noch gut, bevor ich es ausgesprochen habe.» Ich halte mir kurz eine Hand vor Augen und gebe dabei ein Stöhnen von mir. War das jetzt sexistisch? Das Thema beschäftigt mich in meinem Studium andauernd, deshalb wird mir auch sofort klar, dass ich es in umgekehrter Geschlechterkonstellation auf jeden Fall als sexistisch einstufen würde. Und sagen Männer, die sich sexistisch geäußert haben, dann nicht genau das? Dass es nur ein Witz war?
«Oh Gott, bitte entschuldige», flüstere ich. «Kannst du bitte einfach so tun, als hätte ich in dein linkes Ohr gesprochen?»
Mir ist unerträglich heiß, und ich spüre, dass mir schlagartig der Schweiß ausgebrochen ist. Jetzt würde ich mir gerne die Bettdecke über den Kopf ziehen, aber nach ein paar Sekunden hebt David eine Hand ans Ohr.
«Sorry. Hast du gerade was gesagt? Etwas in der Art, dass du unbedingt diesen wahnsinnig sportiven Unterarmgehwagen ausprobieren willst? Ich meine, ich hätte so was gehört.»
«Kann schon sein.» Ich bin erleichtert, weil er nicht sauer ist, und habe gleichzeitig Panik, weil er immer noch auf den blöden Gehwagen besteht.
«Er hat sogar eine Hydraulik.» Jetzt wackelt David auch noch mit den Augenbrauen.
«Zu einer Hydraulik konnte ich noch nie nein sagen.» Ich gebe nach, weil ich durch meine blöde Bemerkung noch mehr in seiner Schuld stehe als ohnehin schon. Wahrscheinlich habe ich damit sogar die von meinem Dad getoppt.
«Siehst du.» Er fischt meine Schuhe unter dem Bett hervor und hilft mir beim Anziehen. Dann stemmt er sich mit den Händen auf den Knien hoch und positioniert den Gehwagen dicht an mein Bett, sodass meine Beine genau in den u-förmigen Fuß des Wagens passen. Erst fährt er mein Bett ein Stück hoch, dann die Armschienen mit der Hydraulik so weit nach unten, dass ich mich schon im Sitzen mit den Unterarmen darauf abstützen kann.
Okay, ich schaffe das.
Oder nicht?
Definitiv nicht. Wie soll ich bitte mit diesem Knie laufen? Noch dazu, wo ich es mit nicht mehr als zwanzig Kilo belasten darf? Es könnte kaputtgehen. Es könnte etwas schiefgehen, und das wird weh tun. Es wird unfassbar weh tun.
David beobachtet mich. Er hat den Kopf schräg gelegt, als lausche er mit seinem gesunden Ohr. «Abbi? Was geht in deinem Kopf vor?»
«Ich … ich frage mich gerade, wann ich eigentlich die Kontrolle über mein Leben verloren habe.» Es soll eigentlich ein Scherz sein, aber weil David mich so ernst ansieht, fällt mir auf, dass es nicht sonderlich lustig geklungen hat. «Ist schon gut. Ich versuch’s. Aber was ist, wenn ich es nicht hinkriege? Wenn ich hinfalle, dann … Ich will nicht noch einmal operiert werden, David.»
«Du wirst nicht fallen. Ich steh direkt hinter dir.»
«Und wenn doch?»
«Dann …» Mit einem Seufzen rollt er meinen Nachttisch neben den Gehwagen und sagt: «Schubs dein Wasserglas runter.»
«Warum?»
«Schubs es einfach runter, Abbi.» Das erste Mal klingt David tatsächlich ungeduldig. «Feg es vom Tisch.»
Was auch immer er damit bezweckt. Es kostet mich Überwindung, aber ich strecke dennoch die Hand aus und gebe dem halbvollen Glas einen Stoß. David fängt es in der Luft auf, das Wasser schwappt über seine Finger, und er stellt es zurück auf die Ablage.
Oh. Er hat schnelle Reflexe. Wen
n ich falle oder mit dem Bein wegknicke, dann fängt er mich auf, das will er mir damit sagen. Ich nicke einmal. Ich nicke noch mal. Und nach dem nächsten Luftholen packe ich die beiden Griffe und lege meine Unterarme auf die Ausbuchtungen.
David fährt die Hydraulik hoch. Krampfhaft halte ich mich an den Griffen fest und stütze mich mit vollem Gewicht nach vorne auf meine Arme. Und dann stehe ich. Mit beiden Füßen auf dem Boden. Wenn man das hier stehen nennen kann, so wie ich auf diesem Gerät hänge. Es ist drei Monate her, dass ich zuletzt auf beiden Beinen gestanden habe. Selbst unter der Dusche habe ich auf einem Hocker gesessen, und wenn ich auf die Toilette gehe, halte ich mein rechtes Bein hoch. Aber jetzt nicht. Und es fühlt sich seltsam an.
«Du bist größer, als ich dachte», sagt David, der sich neben mich gestellt hat, dabei reiche ich ihm gerade mal bis zum Kinn. «Okay, du gibst das Tempo vor. Versuch das Bein ganz normal anzuheben.»
«Kann ich überhaupt so rausgehen?», frage ich plötzlich. Ich schaue an mir runter. Ich trage mal wieder nur kurze Pyjamashorts und darüber ein einfaches T-Shirt. Die Sachen sind frisch gewaschen, aber zerknittert.
David reagiert nicht, und plötzlich ist mir die Frage extrem unangenehm. Ich laufe das erste Mal seit meinem Unfall auf zwei Beinen, und das Erste, woran ich denke, ist mein Aussehen? Er findet das bestimmt total albern, und damit hat er recht. «Entschuldige, ist egal», sage ich im selben Moment, in dem er sagt: «Ich finde, du siehst schön aus.»
Oh. Ich bin froh, dass ich ihm gerade nicht ins Gesicht sehe, weil ich ihn quasi gezwungen habe, etwas Nettes zu sagen. Für einen Moment breitet sich betretenes Schweigen zwischen uns aus, das David nach einem tiefen Atemzug unterbricht.
«Aber du schuldest es niemandem, hübsch zu sein. Genauso wenig wie ich zum Beispiel. Also …»
Noch mal oh. Aber er hat recht. Ich muss für niemanden hübsch sein. Doch er hätte auch einfach sagen können: Klar kannst du so rausgehen. Ich blende meine hin- und herspringenden Gedanken aus und schiebe den Wagen einige Zentimeter nach vorne.
Ever – Wann immer du mich berührst Page 7