Jahrelang hat sie das Geld in Raten abgestottert. Und die letzte Rate hat sie Anfang des Jahres bezahlt. Die Quittung dafür halte ich gerade in der Hand.
Am Valentinstag hatte sie uns zum Essen eingeladen und war so gut gelaunt wie lange nicht. Sie bräuchte keinen Grund, um mit uns zu feiern, hat sie behauptet, aber die Wahrheit ist, dass sie an diesem Tag endlich die Schulden abbezahlt hatte. Nach vierzehn Jahren. Es tut scheiße weh, zu wissen, dass sie nur fünf Wochen später den Herzinfarkt hatte. Fünf Wochen. Nur fünf verdammte Wochen, in denen sie sorglos sein durfte.
Ich trinke nie Alkohol, aber das wäre echt ein Grund, sich zu betrinken. Doch das würde nichts daran ändern, dass meine Kehle trocken ist und meine Augen brennen, als hätte mir jemand Säure reingeträufelt.
Ich hefte die Quittung wieder ab, dabei sollte ich den ganzen Ordner verbrennen. Ganz hinten ist der Vertrag, den meine Mutter damals mit William Hayden geschlossen hat. Er hat ihr eine einmalige Summe von dreißigtausend Dollar bezahlt, damit sie für den Rest ihres Lebens totschweigt, dass er Jane gezeugt hat. Keine Ahnung, wie Mom das vor meinem Vater verheimlicht hat. Sie hat einen Fehler gemacht, einen großen Fehler, ja, aber sie hat dafür auch bitter bezahlt. Als Jane krank geworden ist, ist bei der Suche nach potenziellen Stammzellspendern herausgekommen, dass Jane nicht mit meinem Vater verwandt ist, und er hat ihr das nie verziehen. Seit die Ehe meiner Eltern wegen Moms Betrug in die Brüche gegangen ist, sind wir sechsmal umgezogen, und vor drei Jahren dann hier hängengeblieben. Mom hat ihren Mädchennamen nie abgelegt, was der Grund ist, warum William Hayden mit dem Namen Rivers ganz sicher nichts verbindet.
Aber es ändert nichts daran, dass Anthony Rivers fünf Jahre lang auch Janes Vater war. Kann man dieses Gefühl einfach so abstellen? Kann man danach einfach ausziehen, seine beiden Kinder zurücklassen und sich eine neue Familie besorgen und nur ab und zu eine beschissene Weihnachtskarte schicken? Ich habe meinen Dad dafür gehasst, aber noch mehr als ihn hasse ich William Hayden. Nicht nur wegen des Vertrags, sondern weil er Mom nicht geholfen hat. Wie viel Überwindung muss es sie gekostet haben, ihn um Geld zu bitten? Einen Mann anzubetteln, der sich vertraglich von seiner Verantwortung hat entbinden lassen. Der sich noch vor Janes Geburt von seinen Verpflichtungen mit einer Einmalsumme freigekauft hat.
Ich ziehe mein Handy aus der Tasche. Google hat mir gezeigt, auf welchem Anwesen die Haydens in Hopkinton wohnen, einer Kleinstadt, in der das Durchschnittseinkommen bei mehr als achtzigtausend US-Dollar liegt. Die ursprüngliche Fabrik von Hayden Paper liegt in unmittelbarer Nähe, direkt am Contoocook-River, aber er hat noch ein Dutzend andere. Es gibt jede Menge Häuser mit Pool, das konnte ich in der Satellitenansicht an den kleinen blauen Flecken erkennen, und manche der Privatgrundstücke sind fast so groß wie das Klinikgelände hier in Nashua.
Das sollte mich nicht stören, aber wir hatten früher auch ein großes Haus im Merrimack County, bevor Jane krank geworden ist, deshalb beiße ich die Zähne zusammen.
Ich frage mich, wie Hayden damit leben kann. Wie er sich morgens im Spiegel ansehen kann, ohne sich selbst zu verabscheuen.
Verdrängt man so was? So wie man eine unbezahlte Stromrechnung verdrängt oder dass man seine Steuererklärung noch abgeben muss? Kann man beim Spielen mit seiner heißgeliebten Tochter vergessen, dass man noch eine zweite hat, die todkrank ist? Oder hat er sogar darauf gehofft? Dass Jane das nicht überlebt, weil er dann seinen Fehltritt endgültig ad acta legen kann?
Scheiße, ich hätte den Job nicht annehmen sollen, weil ich nicht weiß, wie ich damit klarkommen soll. Und vor allem weiß ich nicht, wie ich mit Abbi Hayden morgen umgehe. Ich werde allein mit ihr sein. Im Haus ihrer Eltern. Und es wird die Hölle sein.
13. Kapitel
Abbi
Der Schweiß läuft mir zwischen den Schulterblättern nach unten, und dabei trainieren David und ich noch gar nicht so lange. Es ist unglaublich warm für Juni. Schon im letzten Jahr hat Lorraine geschimpft, es wäre der heißeste Sommer seit der Präsidentschaft von Ulysses S. Grant. In diesem Jahr scheint es nicht besser zu sein. Lorraine, unsere Haushälterin, hat heute Morgen gleich drei Kannen mit Minztee in den Kühlschrank gestellt. Bei diesem Wetter bin ich geradezu süchtig danach.
Gestern bin ich aus der Klinik entlassen worden, und seit vorgestern habe ich David nicht mehr gesehen. Dass mein Vater ihn dazu überreden konnte, die Therapie ambulant weiterzuführen, hat mich völlig überrascht. Er meinte, wir bräuchten jemanden, der für mich die Vampire von unserer Haustür fernhält, wenn er und Mom nicht da sind, und im ersten Moment habe ich gar nicht verstanden, was Dad damit sagen wollte. Dann musste ich lächeln, weil mir aufging, dass es ein Zitat aus seinem Lieblingssong The Power Of Love ist, den er oft im Auto hört. Und ich musste daran denken, dass David dieses Lied auch in der Playlist seiner Mom hatte.
Trotzdem verstehe ich nicht, wieso David zugesagt hat.
Erst recht, nachdem er mir gestanden hat, dass er ein Problem mit meinem Vater hat. In den letzten beiden Tagen war ich so erleichtert darüber, dass ich endlich nach Hause durfte, dass ich kaum über seine Beweggründe nachgedacht habe. Dafür tue ich das jetzt umso mehr. Denn David ist so abweisend wie nie zuvor.
Er hat mich schon ein paar Übungen für meinen Oberkörper machen lassen, nun liege ich flach auf dem Rücken auf einer Matte in dem Zimmer, das Dad extra hat freiräumen lassen. Normalerweise befindet sich an der Stelle, wo ich liege, ein alter Mahagoni-Esstisch. Rechts von mir ragt eine antike Vitrine mit Porzellan auf, daneben steht ein alter Sekretär aus Wurzelholz, die Platte ist hochgeklappt und der Schlüssel steckt im Schloss. Ich stelle meine Beine auf, soweit ich das kann, und mein Blick fliegt an die Decke, wo ein hölzerner Ventilator kreist, weil es in diesem Zimmer keine Klimaanlage gibt. Die Flügel bewegen sich langsam, trotzdem bauschen sich die zarten Gardinen am Fenster immer wieder auf.
Ich trage eine kurze Sporthose und ein ärmelloses Top. Mein verletztes Bein soll ich anwinkeln und mit beiden Händen das Knie festhalten und hochziehen.
«Nicht gerade, Abbi. Versuch, dein Knie diagonal in Richtung deiner linken Schulter zu ziehen. Nur ganz leicht, bis du die Dehnung spürst.» Er klingt fast tonlos. Als würde er einen auswendiggelernten Text aufsagen, und das verunsichert mich. Vielleicht war es falsch, ihm von meinen Ängsten wegen des Unfalls zu erzählen. Aber als er mir diese Schmerzen genommen hat, habe ich mich so schwach und hilflos gefühlt, und David ist der Einzige, dem ich genug vertraue, um ihn danach zu fragen. Nur dass es mir jetzt unendlich peinlich ist, dass ich so geheult habe. Vielleicht ist er deshalb so frostig, weil er Angst vor einem weiteren Gefühlsausbruch hat.
David steht neben meinen Füßen und guckt mit seinen Gewitteraugen auf mich runter. Es ist erst das zweite Mal, dass ich ihn in normalen Klamotten sehe, und sie sind am ehesten als unauffällig zu beschreiben. Weißes T-Shirt ohne Aufdruck – kein V-Ausschnitt – und eine kurze dunkelblaue Trainingshose. Als er vor einer halben Stunde angekommen ist, hat Lorraine ihn mürrisch begrüßt, so wie das ihre Art ist, und ist dann gegangen, ohne sich zu verabschieden.
«Und jetzt für dreißig Sekunden halten.»
Ich kann mich kaum aufs Zählen konzentrieren, weil David so distanziert wirkt. Ganz anders als noch in der Klinik hält er mehr als nötig Abstand und gibt mir nur Anweisungen. Als ich bis dreißig gezählt habe, lasse ich mein Bein wieder runter.
«Kurze Pause, dann machst du das noch einmal.»
Mit einem gespielten Ächzen ziehe ich mein Knie erneut hoch, aber David lächelt nicht einmal. «Ich finde ja, du siehst aus, als würdest du eine Pause brauchen. Lange Nacht?», frage ich mehr zum Spaß und auch ein wenig, um ihn vom Mitzählen abzulenken.
David reagiert nicht darauf, vielleicht ist er in Gedanken. Erst als ich nach quälenden dreißig Sekunden nachlasse, antwortet er. «Ich habe kaum geschlafen. Wir haben keine Klimaanlage in der Wohnung.»
Ich nicke, weil ich mir gut vorstellen kann, wie drückend das bei diesem Wetter ist. «Wer ist wir?»
«Meine Schwester und ich.»
«Ich wusste gar nicht, dass du eine Schwester hast.�
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Nun sieht er aus, als würde er es bereuen, davon angefangen zu haben.
«Entschuldige, du musst mir nichts erzählen. Vergiss einfach, dass ich gefragt habe.» Ich versuche, mich wieder auf die Übung zu konzentrieren, bemerke aber sein Stirnrunzeln.
«Nein, ist schon okay. Sie heißt Jane. Ist ungefähr zwei Jahre jünger als du.»
«Oh. Ich habe gedacht, Jane wäre deine Freundin. Wegen der Playlist auf deinem Handy.» Gott, das klingt wie eine versteckte Frage nach seinem Beziehungsstatus, oder? Und ein bisschen auch nach Stalking. Jetzt ist mir noch heißer, und das liegt nicht am Wetter.
«Ich habe aktuell keine Freundin. Ich will mich auf mein Studium konzentrieren. Und auf meine Arbeit. Im Augenblick auf meine Arbeit mit dir. Also werden Sie die Übung jetzt mit dem anderen Bein wiederholen, Ma’am.»
«Okay.» Aber weil er so grimmig aussieht und so reserviert ist, will ich die Situation auflockern. «Ja, Sir, Mr. Rivers, Sir», hauche ich deshalb gespielt demütig. Und als ich aufblicke, stelle ich fest, dass David mich anstarrt. Und dann färbt sich sein Hals für einen Moment rosa. Er presst die Lippen zusammen, als er schluckt.
«Vielleicht … ähm … machen wir doch erst mal eine Pause.» Er schluckt wieder, als hätte er eine trockene Kehle.
«Oh, hast du Durst?» Das hätte mir auch früher einfallen können. «Sorry, ich hab nicht dran gedacht, dir was anzubieten. Am besten zeige ich dir einfach, wo in der Küche alles steht.» Ich schaue an mir runter und überlege, wie ich vom Boden aufstehen soll. «Sobald ich hochkomme. Falls ich jemals wieder hochkomme.»
«Klar.»
Er sieht immer noch so unnahbar aus. Vielleicht hätte ich das mit dem Sir nicht sagen sollen. Ich hoffe, er denkt nicht, ich wollte mich über ihn lustig machen.
Ich probiere aus, mich auf die Seite zu rollen, aber von dort komme ich auch nicht weiter. Ich muss lachen, weil ich mir so unbeholfen vorkomme. Keine Ahnung, wie ich aufstehen soll, ohne das Knie zu stark anzuwinkeln oder zu belasten, und David macht keine Anstalten, mir zu helfen. Nachdem er mir eine Weile bei meinen hilflosen Versuchen zugeguckt hat, sagt er: «Vielleicht üben wir besser das Aufstehen. Falls du mal hinfällst, solltest du allein wieder hochkommen können.»
«Ich habe nicht vor zu fallen.»
«Und ich habe nicht vor, dich hochzuheben.»
Jetzt glüht mein Gesicht auf. Hat er gedacht, dass ich das von ihm erwarte? Dass er mich durchs Haus trägt? Wieso ist er so abweisend? Ich habe das Gefühl, dass sein Widerwillen jetzt noch größer ist als in der Klinik, dabei kann das eigentlich nicht sein. Er hat doch freiwillig diesen Job angenommen, niemand hat ihn gezwungen. Allerdings … Ein leeres Konto ist ein verdammt guter Grund, bei etwas einzuwilligen, was man eigentlich nicht möchte. Seine Mutter ist tot, und er hat noch eine Schwester. Da er noch nie von seinem Vater gesprochen hat, gehe ich davon aus, dass sie beide auf sich allein gestellt sind. Dass sie Geldsorgen haben könnten, ist naheliegend.
«Kann ich dich was fragen, David?»
Als er widerstrebend nickt, muss ich tief Luft holen, weil mir das nicht so leicht fällt. Außerdem steht er immer noch über mir, was auch nicht dafür sorgt, dass ich mich selbstsicherer fühle. Ich werde ihn ganz sicher nicht fragen, ob er so dringend Geld braucht, dass er quasi gezwungen war, diesen Job anzunehmen, aber …
«Du wärst lieber woanders, oder?» Ich warte seine Reaktion nicht ab, sondern rede schnell weiter, während ich einen Punkt an der Wand hinter ihm hypnotisiere. «Wahrscheinlich kannst du dir was Spannenderes vorstellen, als mit mir Krankengymnastik zu machen. Wahrscheinlich findest du das alles hier ziemlich lächerlich. Ich erwarte nicht, dass du mir irgendwas abnimmst, mich hochhebst, mich bedienst oder mir Sachen hinterherträgst. Du bist auch nicht hier, um mich zu unterhalten. Ich … wenn das so bei dir angekommen ist, dann tut mir das wirklich leid.» Ich weiß nicht, warum mir jetzt die Augen brennen, und als ich mich traue, David anzusehen, muss ich gegen die Tränen anblinzeln. David sieht betroffen aus, wodurch ich mich noch schlechter fühle. Wahrscheinlich bekommt er jetzt Angst, dass ich ihm wieder was vorheule. «Bitte entschuldige. Normalerweise bin ich nicht so emotional. Aber im Moment … Ich spreche die Dinge lieber an, bevor sie schlimmer werden. Wenn du also lieber nicht herkommen möchtest, dann …» Das Geld, Abbi! Das Geld! «… du könntest einfach nur für eine Stunde am Tag vorbeikommen. Das muss mein Dad nicht wissen, und du musst mir nicht Gesellschaft leisten. Ich bin schon groß», schließe ich meine Rede begleitet von einer Grimasse.
«Okay, einen Moment mal.» David geht vor mir auf die Knie. Er setzt mehrmals an, bis er schließlich einmal tief Luft holt. «Lass mich bitte einige Dinge klarstellen.» Er fährt sich mit der Hand über die müden Augen, als müsse er sich erst sammeln. «Ich habe nie gesagt, dass ich nicht gerne mit dir arbeite. Das hier ist nicht lächerlich, ist das klar? Ich halte dich im Gegenteil sogar für eine ziemliche Herausforderung, weil du mehrere Wochen lang versucht hast, deine Probleme buchstäblich auszusitzen. Du bist dem Schmerz aus dem Weg gegangen, hast die Dinge, die weh tun, einfach vermieden und dich zurückgezogen. Passives Coping, nennen wir das. Aber du hast solche Fortschritte gemacht, Abbi, und das ist großartig. Wirklich. Also lass uns weitermachen. Ich zeige dir jetzt, wie du aufstehen kannst, ohne dein Knie zu belasten.»
Er weicht mir aus. Ich frage ihn, was in ihm vorgeht, und er spricht nur von mir. Das macht er sehr geschickt, aber ich bin nicht blöd. Nur … Ich will nicht weiter in ihn dringen und ihn damit nerven. Also versuche ich, mich zusammenzureißen und mir nichts anmerken zu lassen. «In Ordnung, Mr. Rivers.»
Er atmet geräuschvoll aus. «Eine Sache nur. Kannst du das mit dem Mr. Rivers sein lassen? Sag lieber nur David, okay?»
«Warum?» Die Frage hat meinen Mund so schnell verlassen, dass ich mich über mich selbst ärgere.
«Weil …» Er rubbelt sich einmal schnell über den Kopf. «Aus persönlichen Gründen, okay?»
Als ich nicke, setzt er sich direkt neben mich auf den Fußboden, die Hände hinter seinem Rücken abgestützt. Der Geruch von seinem Waschmittel ist mir vertraut. Es ist seltsam, wie schnell man sich so etwas einprägt. David benutzt nie Aftershave, zumindest riecht er nicht danach, und ich frage mich, ob er das mit Absicht weglässt, um seine Patienten nicht mit einem intensiven Duft zu stören.
Seine Handflächen schlagen leicht auf den Boden. «Es ist ganz einfach», sagt er. «Du legst dein operiertes Bein über das linke …» Er macht es mir vor. «… und dann nimmst du den rechten Arm nach vorn auf die linke Seite und stützt dich mit der Handfläche am Boden auf. Das linke Knie anwinkeln und damit vom Boden abdrücken, dabei machst du eine Vierteldrehung und kannst dich mit den Händen hochstemmen.»
Bei ihm sieht es ganz leicht aus. Und … das ist es auch. Ich wünschte, ich hätte das schon früher gewusst. Nur dass ich ihm jetzt den Hintern hinstrecken muss, weil ich mich auf die Seite rolle. Ich beiße die Zähne zusammen. David hat schon viel mehr von mir gesehen, und das hier, na ja, kann wohl kaum schlimmer sein als das, was auf der Massageliege passiert ist.
Ein paar Sekunden später stehe ich. Allein. Und ohne, dass er mir helfen musste. David bückt sich, um meine Krücken aufzuheben.
«Du könntest mir jetzt das Haus zeigen, damit ich einen Überblick bekomme. Schließlich werde ich die nächsten acht Wochen den ganzen Tag hier sein.»
So deprimiert, wie seine Stimme klingt, ist das für ihn eindeutig keine schöne Aussicht.
Ich schlucke. Na gut. Mit den Armen schlüpfe ich in die Stützen und setze jeden Schritt bewusst. Die Krücken gehen zeitgleich mit meinem verletzten Bein nach vorne, dann stütze ich mich ab und ziehe das linke Bein nach. Genau so, wie David mir den Drei-Punkt-Gang erklärt hat. Ich kann genau spüren, dass er mich beobachtet, und frage mich, was er dabei sieht. Rattern in seinem Kopf jetzt die physiologischen Details runter? Wie sehr ich das Bein anhebe oder wie gerade mein Becken steht?
«Ich zeige dir erst mal die Küche. Kommst du?» Das Klappern der Krücken schallt durch die gesamte Eingangshalle. Der Boden ist mit Steinplatten gefliest, und weil ich barfuß bin, spüre ich je
de Fuge und wie angenehm kühl das ist.
«Die Küche wurde erst in den vierziger Jahren nach drinnen verlegt», erkläre ich. Mit dem Ellbogen drücke ich die Klinke nach unten und stoße die Tür auf.
Beim Reingehen höre ich David murmeln. «Ich schätze, hier würde unsere komplette Wohnung reinpassen.»
Okay, ich gebe zu, der Raum ist groß. Aber seine ganze Wohnung? Das meint er sicher nicht ernst. Ich gehe zielstrebig zum Side-by-Side-Kühlschrank. Er ist das einzige Gerät hier drin, das wirklich modern aussieht. Der riesige Gasherd hat einen Vintage-Look, und der Rest der Küche besteht aus weißen Holzschränken mit messingfarbenen Griffen.
Ich klemme mir die rechte Krücke unter den Arm und ziehe eine der Kühlschranktüren auf. «Magst du Minztee?»
«Am liebsten einfach nur Wasser.»
Ich zeige David, wo unsere Gläser stehen, und er holt zwei davon aus dem Schrank, während ich eine der Kannen rausstelle.
«Lorraine hat für uns etwas zu essen vorbereitet. Wenn du Hunger hast, nimm dir einfach, was du magst. Du musst hier niemanden um Erlaubnis fragen. Weil es so heiß ist, hat sie Panzanella gemacht. Ich hoffe, du magst das. Bei uns gibt es nicht so oft Fleisch, aber falls du etwas Bestimmtes möchtest, kann ich Lorraine bitten, das morgen einzukaufen.»
«Nicht nötig, danke. Ich esse kein Fleisch …» Er hält inne. «Egal. Panzanella, das klingt italienisch. Was genau ist das?» Er hebt erst den kalten Tee hoch und schenkt mir etwas ein, bevor er sich selbst Wasser nimmt.
«Eine Art Brotsalat. Eigentlich ein Resteessen, aber echt lecker. Besteht nur aus kleingeschnittenem altem Weißbrot, Tomaten, Gurken, Zwiebeln, Basilikum, Essig und Olivenöl.»
Ever – Wann immer du mich berührst Page 15