Book Read Free

Ever – Wann immer du mich berührst

Page 31

by Hotel, Nikola


  Okay, das ist seltsam.

  Dass der Erstbefund fehlt, kann eigentlich nur zwei Gründe haben: Er wurde verschlampt, oder er wurde absichtlich entfernt. Aber weshalb würde jemand die Blutwerte verschwinden lassen? Abbi ist als Tochter von William Hayden eine VIP-Patientin, dass bei ihr aus Versehen etwas verlorengeht, kann ich mir absolut nicht vorstellen. Nicht nur, weil er Gouverneurskandidat ist, sondern vor allem, weil er ein verdammter Jurist ist, und damit gehört er zu den unangenehmsten Patientenangehörigen der Welt. Da passieren keine Fehler. Also was hatte Abbi im Blut, als sie den Unfall gebaut hat, das es nötig machte, den Befund verschwinden zu lassen? Was könnte Hayden in seinem Wahlkampf gefährlich werden?

  Nachdenklich stopfe ich das Telefon in meine Hosentasche. Abbi schläft immer noch; als ich vor ihrem Zimmer stehen bleibe, ist es hinter der Tür ganz still. Deshalb straffe ich die Schultern und gehe nach unten. Abbi hat zwar gesagt, dass sie ihre Eltern erst am Nachmittag erwartet, aber ich bin mir sicher, dass ich Hayden gehört habe. Was jetzt kommt, ist ein Augen-zu-und-durch-Moment, darin habe ich eigentlich Übung. Und dass Abbi endlich die Wahrheit kennt, gibt mir die nötige Kraft, um die Treppe nach unten zu gehen. Lorraines Stimme ist in der Küche zu hören, dann Haydens Lachen.

  Ich habe das Bedürfnis anzuklopfen, um mich bemerkbar zu machen, was bescheuert ist und was ich deshalb auch unterdrücke. Ich bin hier kein Gast, ich arbeite hier. Noch.

  «… hat er mich mit der Handykamera bis in den Toilettenraum verfolgt», erzählt Hayden gerade. «Manche Leute schrecken wirklich vor nichts zurück. Als würde es dort etwas aufzudecken geben. Es ist … Oh, guten Morgen, David», sagt Hayden gut gelaunt, sobald ich die Tür aufgeschoben habe und eintrete. Dass er nach der SMS seiner Tochter heute Morgen so gute Laune hat, macht mich fertig. Hat er denn überhaupt kein Gewissen?

  «Guten Morgen, Sir.»

  Hayden mustert mich, lehnt sich im Stuhl zurück und schlägt die Beine bequem übereinander, als wäre das hier ein Kinosaal. Jemand sollte ihm eine Schüssel Nachos servieren.

  «Haben Sie gut geschlafen?», fragt er mich, und sein liebenswürdiger Tonfall kotzt mich jetzt schon an.

  «Ja, Sir, danke für Ihre Gastfreundschaft.» Scheiße, ich kann nicht anders, als provozierend zu grinsen. Todessehnsucht, David? Womöglich malt er sich schon aus, wie er gleich einen Revolver auf mich richtet, würde mich nicht wundern.

  Lorraine schenkt mir einen Kaffee ein und schnalzt mit der Zunge, als sie mir die Tasse reicht. «Ich war eben im Gästezimmer, als du unter der Dusche warst. Du hättest wirklich nicht so eine Unordnung hinterlassen müssen, mein Junge.» Und kaum hat sie das gesagt, wird sie tatsächlich ein bisschen rot und fängt an, hektisch mit dem Spüllappen über die Theke zu wischen.

  «Sorry, Ma’am.»

  «Aber schön, dass du so gut geschlafen hast. Im Gästezimmer.»

  Was soll das? Ich schnappe Haydens Blick auf, der zwischen Lorraine und mir hin- und herwandert. Er scheint das wirklich amüsant zu finden. «Lorraine», sagt er, «Sie waren schon immer eine miserable Lügnerin. Aber das ehrt Sie natürlich.»

  Der Kaffee ist verdammt heiß – und jetzt schwappt mir etwas davon über den Rand, weil Hayden das so lässig sagt und ich meine Motorik nicht im Griff habe.

  Die Haushälterin legt den Lappen weg und schüttelt den Kopf. «Ich überlege wirklich, Ihnen nicht meine Stimme zu geben.»

  «Nur weil ich am Morgen kein Elvis-Gesäusel in meiner Küche hören möchte?»

  «Nein, weil ich wirklich keine Zeit für so einen Blödsinn habe», brummt Lorraine. «Sie haben mir von Ihrer Reise wieder einen Riesenberg Wäsche mitgebracht. Wie zwei Menschen so viel Kleidung verbrauchen können, ist mir ein Rätsel. Und die Hälfte davon muss ich in die Reinigung tragen.» Damit geht sie aus dem Raum.

  «Tut mir leid, Lorraine, aber das ist Ihr Job», ruft er ihr hinterher und sagt dann zu mir: «Ich traue ihr zu, dass sie mich wirklich nicht wählt. Vielleicht schaut sie sogar heimlich Fox News. Und Sie, Mr. Rivers, was haben Sie heute vor? Wo ist Abbi?», fragt er.

  «Ich schätze, sie ist in ihrem Zimmer.»

  «Und was macht das Training?»

  «Wollen Sie ernsthaft mit mir über Krankengymnastik reden?» Ich habe keinen Bock mehr auf dieses Spiel mit ihm. Ich habe keinen Bock mehr, höflich zu ihm zu sein, nur weil er der Mann mit der Kohle ist und ich sein Angestellter. Wir sollten das einfach hinter uns bringen.

  Ich habe den Gedanken noch nicht richtig zu Ende gedacht, da klopft Hayden sich auf die Oberschenkel und steht auf. «David, Sie haben vollkommen recht. Ich habe wirklich nicht das Bedürfnis, mehr über Ihre Arbeit zu erfahren. Aber ich habe dennoch etwas unter vier Augen mit Ihnen zu besprechen. Gehen wir doch in mein Büro.»

  Nichts lieber als das. «In Ordnung, Sir.»

  Hayden sollte nicht so verdammt selbstsicher sein, weil das Gespräch garantiert nicht ganz so einseitig ablaufen wird, wie er sich das vielleicht vorstellt.

  «Sehr gut.» Hayden geht mir voran zur Tür. «Nehmen Sie Ihren Kaffee ruhig mit, David.»

  Wie großzügig er ist. Dabei ist Großzügigkeit auch nur eine weitere Art, seine Macht zu demonstrieren. Ich lasse die Tasse stehen und folge ihm, und mit jedem Schritt bin ich mir meiner Sache sicherer. Karten auf den Tisch. Das hier muss jetzt endlich ein Ende haben.

  «Schließen Sie die Tür.»

  Im Anweisungengeben ist er verdammt gut. Muss ein grandioses Gefühl sein, wenn alle Menschen in deiner Umgebung nach deiner Pfeife tanzen, deshalb werfe ich die Tür geräuschvoller zu als beabsichtigt.

  Hayden lehnt sich an seinen Schreibtisch und gibt mir einen Wink, dass ich mich in den breiten Sessel davor setzen soll. Sein Smartphone dreht er auf der Tischplatte herum, dann tippt er es mit dem Finger an, um es zu entsperren. Er hat nicht mal einen Sicherheitscode aktiviert, so sicher fühlt er sich in seinem Leben. Mit der Fingerkuppe navigiert er über das Display, dann nimmt er das Handy auf und hält es mir hin.

  «Ich habe gestern Abend eine doch recht ungewöhnliche Nachricht von meiner Tochter bekommen. Was sagen Sie dazu, Mr. Rivers?»

  Die SMS von Abbi. Ich muss nicht mal hinsehen. «Gar nichts.»

  Er lächelt milde. «Wollen Sie sie sich nicht erst einmal ansehen?»

  «Das ist nicht nötig. Ich weiß, was da steht, weil ich es geschrieben habe.»

  «Wie bitte?» Jetzt beugt er sich interessiert vor. «Soll das ein Witz sein?»

  «Sie wusste nicht, was sie Ihnen auf Ihre Frage antworten sollte, und das war mein Vorschlag. Korrekterweise hätten wir antworten sollen, dass wir nur auf einer privaten Party waren, und ich habe Ihre Tochter danach nach Hause gebracht. Ich denke nicht, dass irgendjemand wusste, dass sie Ihre Tochter ist, falls das ein Problem sein sollte.»

  «Das ist in der Tat ein Problem, und ich habe Steve heute Morgen entlassen müssen, weil er einen unverzeihlichen Fehler begangen hat.»

  Scheiße. Okay, an diese Möglichkeit hätte ich denken können. Und dass ich es nicht getan habe, macht mir jetzt ein schlechtes Gewissen. Ich habe Abbi dazu überredet, und Steve hat nun keinen Job mehr. Großartig, David.

  «Im Grunde muss ich Ihnen dafür dankbar sein, weil er ganz offensichtlich für andere Aufgaben besser geeignet ist.»

  Danke, jetzt fühle ich mich null Komma null besser. Und dass er das so positiv formuliert, lässt es in mir brodeln. «Und was für Aufgaben sollen das sein? Wird er Sie beim nächsten Amtsmissbrauch unterstützen? Womöglich brauchen Sie noch mal jemanden, der ärztliche Befunde für Sie verschwinden lässt. Oder einen alten Schulfreund vor dem Knast bewahrt.»

  Hayden nickt langsam, und weil er so ruhig bleibt und nicht mal überrascht reagiert, hämmert mir der Puls bis in den Hals. Es sollte ihn wenigstens nervös machen, würde ich meinen.

  «Offenbar sind Sie ein Mann mit Vorstellungskraft, das gefällt mir.» Er lächelt. «Dann stellen Sie sich doch mal vor, was ich mit der Karriere eines Mannes anstellen würde, der in mein Haus kommt, einen Arbeitsvertrag unterschreibt und sich verpflichtet, sich an meine Regeln zu halten, und dann eklatant dagegen verstößt.»

&
nbsp; Ich schlucke und schweige. Gott, ich hasse es, wie herablassend er lächeln kann.

  «Sie sind ein leidenschaftlicher junger Mann, David, und ich mag Sie, das muss ich zugeben. Deshalb sollten Sie sich gut überlegen, welche Anschuldigungen Sie hervorbringen. Möglich, dass Sie den Geist nicht zurück in die Flasche stopfen können.»

  Und ich hasse seine Scheißmetaphern! Wieso lasse ich mich überhaupt auf diese Art Gespräch ein? Wieso versuche ich überhaupt, bei seinem beschissenen Spiel mitzumachen?

  «Ficken Sie meine Tochter, David?»

  Heilige Scheiße.

  Meine Kehle ist schlagartig eine Wüste. Kleine Korrektur: Mir sind seine Metaphern doch lieber.

  Hayden sieht nicht aus, als würde er mich am liebsten verprügeln, sondern lächelt fast liebenswürdig. Ob er Abbi das auch fragen würde? Nur mit anderen Worten? Er weiß doch längst, was Sache ist. Von Abbi würde er jedenfalls eine ehrliche Antwort bekommen. Sie ist ehrlich und mutig, und in dieser Beziehung wäre ich gern mehr wie sie. Also sag ich jetzt auch die Wahrheit.

  «Bitte entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise, Sir, aber was zwischen Abbi und mir ist, geht Sie einen Scheißdreck an.» Ich atme tief ein und aus, um meinen Puls runterzukriegen, was aber nicht wirklich funktioniert. «Ja, sie ist meine Patientin, und ganz sicher habe ich einen Fehler begangen, aber anders als Sie denken. Nur ist das nichts, was man mit dem vergleichen könnte, was Sie getan haben.»

  «Wovon reden Sie, David? Was sollte diese Anspielung in der Nachricht?»

  «Ich habe mir eben Abbis Krankenakte noch einmal genau angesehen. Es fehlt der erste Laborbefund nach dem Unfall. Ich habe keine Ahnung, was Sie vertuschen, aber es ist sehr bezeichnend für Ihre … Arbeitsweise. Abbi kann sich an den Unfall nicht erinnern. Auch alles, was kurz davor passiert ist, ist weg. Was hat sie genommen? Waren es Drogen, irgendwelche Medikamente oder Alkohol?»

  Hayden nickt langsam. «Sie hatte 0,3 Promille im Blut», sagt er, und seine Offenheit nimmt mir komplett den Wind aus den Segeln. Damit habe ich nicht gerechnet und kann ihn nur entgeistert anstarren.

  «Sie war am Tag des Unfalls noch keine einundzwanzig», erklärt er. «Wegen der Nulltoleranzgrenze wäre sie damit vorbestraft gewesen.»

  Okay, das macht Sinn. Und noch viel mehr, dass er Abbi nichts davon erzählt hat. Sie würde sich wahrscheinlich innerlich zerfleischen, wenn sie das wüsste.

  «Abbi hat an diesem Abend nur ein einziges Glas Sekt getrunken, was ein Witz ist, ihrem Ex-Freund Ryan aber trotzdem ein hübsches Taschengeld beschert hat, damit er das für sich behält. Es ist absurd, dass einen so etwas in Schwierigkeiten bringen kann, aber so ist es. Es könnte meine Kandidatur gefährden.»

  «Und die ist Ihnen wichtiger als alles andere, oder? Deshalb haben Sie auch Muller geholfen, als der an diesem Abend von der Polizei aufgegriffen wurde, obwohl er ein übergriffiger Dreckskerl ist und seine Patienten gefährdet.» Ein Schuss ins Blaue, aber er scheint zu treffen, denn Hayden nickt.

  «Eine Notwendigkeit, um dafür zu sorgen, dass alles Weitere nicht mit mir in Verbindung gebracht werden kann.»

  «Aber er hat Abbi verletzt, verdammt!»

  «Wie bitte? Haben Sie und Abbi mir etwas verschwiegen, was an diesem Abend …»

  «Ich rede nicht von diesem Abend. Sondern von Abbis Unfall. Er hat versucht, ihre Hüfte ohne Vollnarkose einzurenken, und sie damit total traumatisiert. Er hat ihr eingeredet, dass sie das Problem ist. Ihr vorgeworfen, dass sie sich anstellt und zu empfindlich ist. Muller ist ein Sadist. Und ich fass es nicht, dass Sie das einfach so hinnehmen.» Noch während ich diese Worte ausspreche, kapiere ich, dass Hayden davon gar keine Ahnung hatte. Weil sein Gesicht zu einer Maske einfriert und mir damit alles verrät. «Sie hat es Ihnen immer noch nicht erzählt», stelle ich fest. «Klar, wann auch, wenn Sie nur unterwegs sind.» Ich zucke mit den Schultern.

  Hayden presst die Lippen zusammen, seine Fingerknöchel werden weiß, als er die Tischkante mit den Händen umfasst. «In der kommenden Woche wird Muller von achtundzwanzig Patientenanwälten Post bekommen. Es wird eine einstweilige Verfügung geben, und er wird nie wieder Patienten behandeln, weder unter Alkoholeinfluss noch nüchtern, weil er seine Approbation verliert.»

  «Okay.» Das erleichtert mich wirklich, auch wenn ich es scheiße finde, wie er das angeht.

  «David, ich weiß, wie schwer es ist, das Narrativ zu ändern, wenn man sich einmal für eine Geschichte entschieden hat.» Er seufzt. «Sie haben sich ganz offensichtlich dafür entschieden, in mir einen schlechten Menschen zu sehen. Das steht Ihnen frei, aber ich werde nicht zulassen, dass Sie meine Tochter aufwiegeln. Entweder, Sie finden sich damit ab, dass Menschen in meiner Position bestimmte Dinge tun müssen, oder Sie werden es in Ihrem Berufsleben äußerst schwer haben.»

  Kommt nun der Part mit den Drohungen? Darauf habe ich mich fast gefreut.

  Hayden dreht sich um und greift auf dem Schreibtisch nach einem Stift. «Ich verstehe Ihr Dilemma. Auch dass Sie das Geld eigentlich gut gebrauchen können. Deshalb mache ich es Ihnen jetzt leicht.» Er kritzelt etwas auf einen Block.

  Scheiße, es ist sein Scheckbuch. Ist das die Steigerung zur Drohung? Und was kommt danach? Kramt er dann endlich einen Revolver aus seiner Schublade? Mir ist nicht nach Lachen zumute, aber ich kann ein angespanntes, einem Lachen ähnliches Geräusch nicht zurückhalten.

  Als er fertig geschrieben hat, reißt er das Blatt ab und hält es mir hin. Ich nehme es, aber das ist nur ein Reflex. Ich gucke nicht mal, was draufsteht.

  «Hunderttausend Dollar, David, und Sie spazieren einfach hier raus und vergessen das Ganze. Sie werden keinen Kontakt mehr zu meiner Tochter aufnehmen, ich werde Sie nicht wegen Vertragsbruch anzeigen, und Sie können komfortabel Ihr Studium beenden. Nun schauen Sie nicht so schockiert, das ist kein so radikaler Vorschlag. Was wollen Sie sonst tun? Mich öffentlich anprangern, um meine Kandidatur zu ruinieren? Sie würden damit Abbi und sich selbst ebenfalls in den Schmutz ziehen. Davon haben Sie doch nichts.»

  Er bietet mir hunderttausend Dollar Schweigegeld an. Einhunderttausend Dollar, verdammt! Das ist fast die Summe, die Janes Therapie gekostet hat und die Mom vierzehn Jahre lang abbezahlt hat. Ich weiß nicht, ob ich weinen oder ihn anbrüllen soll. Einhunderttausend Dollar. Und trotzdem bin ich nicht mal in Versuchung. Null. Nicht für eine Millisekunde. Ich habe immer noch keine Ahnung, wie ich die verdammte Rechnung vom Krankentransport zahlen soll. Vielleicht werde ich bei der Bank keinen Kredit bekommen und mein Studium abbrechen müssen. Vielleicht ist alles am Arsch, was ich mir für meine Zukunft ausgemalt habe. Aber wenn ich dieses Geld nehme, dann habe ich ohnehin keine Zukunft mehr. Weil dann nichts mehr zählen würde, weil ich aufgegeben hätte, weil es nichts mehr zu retten gäbe. Also scheiß auf sein Geld, scheiß auf meine Träume, scheiß auf alles.

  «Sie haben recht», sage ich. «Es ist verdammt schwer, sein Narrativ zu ändern.» Ich stehe auf, um mit ihm wieder auf Augenhöhe zu sein, knülle den Scheck zusammen und werfe ihn auf seinen Schreibtisch. «Nur sind Sie, Sir, sogar ein noch größeres Arschloch, als ich dachte, wenn Sie mich für jemanden halten, der Schweigegeld annimmt.»

  Ich will verschwinden. Sofort. Ich will einfach gehen und nie wieder eine Sekunde meines Lebens an William Hayden verplempern, aber der Gedanke, Abbi hier zurückzulassen, fühlt sich an, als würde mir jemand das Herz aus dem Brustkorb flexen. Ich kann nicht ohne sie gehen.

  Hayden stellt sich mir in den Weg. Er wirkt nicht mal aufgebracht. Ich beleidige ihn, und er bleibt freundlich. Als Politiker bekommt man wohl ein verdammt dickes Fell.

  «Finden Sie nicht, dass Sie überreagieren, David? Setzen Sie sich wieder. Lassen Sie uns darüber reden. Wenn Sie sich durch dieses Angebot in Ihrer Ehre gekränkt fühlen sollten, dann glauben Sie mir, das vergeht. Und Sie brauchen das Geld doch. Abbi hat mir erzählt, dass Ihre Mutter erst vor kurzem gestorben ist. Sicher machen Sie deswegen eine schwere Zeit durch …»

  Hayden redet weiter auf mich ein, aber in dem Moment, in dem er meine Mutter erwähnt, sehe ich vor meinen Augen nur noch rot. Ich wünschte, Gewalt würde mir irgendwas geben, dann könnte ic
h ihm die Nase brechen und mich vielleicht besser fühlen. Aber ich verabscheue das. «Halten Sie den Mund! Sie haben keine Ahnung, was eine schwere Zeit ist. Sie haben keine Ahnung, wer meine Mutter war. Und ich kann nicht begreifen, wieso Abbi Ihnen so wichtig ist, wenn Sie Ihre zweite Tochter einfach aus Ihrem Leben streichen. Ich kapier’s einfach nicht. Erklären Sie mir, wie man das macht. Kann man das verdrängen? Radiert man diese Gedanken einfach aus, oder redet man sich irgendwie ein, dass es richtig war, sein todkrankes Kind zu ignorieren? Wie geht das, Sir?»

  Hayden starrt mich entgeistert an.

  «Sie wissen gar nicht, was ich meine, oder? Dann werde ich Ihnen erklären, was die SMS gestern wirklich zu bedeuten hat.» Ich glaube, mein Schädel platzt gleich, so hart pumpt das Blut durch meinen Kopf. Ich reiße die Geldbörse aus meiner Hosentasche und werfe ihm im nächsten Moment die Fotos auf den Schreibtisch. «Das ist meine Mutter. Vielleicht kommt sie Ihnen ja noch vage bekannt vor. Immerhin haben Sie mit ihr ein Kind gezeugt.»

  «Gott, Junge!» Hayden greift nach den Fotos, und auch wenn sie alt sind und zerknittert, muss er meine Mutter darauf trotzdem erkennen.

  Ich zittere am ganzen Körper. Noch nie war ich so wütend wie in diesem Moment. Nicht mal, als Jane krank war. Nicht mal, als Mom den Herzinfarkt hatte. Nicht mal, als ich das alles erfahren habe. Aber jetzt kocht mein Blut geradezu über.

  Hayden sieht sich die Bilder an, als hätte er noch nie Fotos in der Hand gehabt. Eine Ewigkeit. Dann lässt er die Hände sinken. «Rachel. Du bist Rachel Conways Sohn.» Seine Stimme ist komplett tonlos, und er schüttelt fassungslos den Kopf. «Mein Gott. Rachels kleiner David.»

  Rachels kleiner David? Was geht bei ihm ab?

  «Dieses Foto …» Sein Adamsapfel bewegt sich hoch und runter, als er schluckt. «Das habe ich gemacht, als wir uns das letzte Mal getroffen haben.» Er tippt auf das Bild, auf dem Jane und ich als Kinder zu sehen sind.

  Das ist nicht sein Ernst. Ich hoffe, das ist ein Witz.

  «Deine Schwester hatte diese unglaublich hässliche Puppe mit den großen Augen. Sie hatte etwas Albtraumhaftes an sich. Ich habe nicht verstanden, was sie daran so mochte. Sie muss fünf gewesen sein und du vielleicht neun. Rachel hatte kurz vorher von der Diagnose erfahren. Sie hat mich darum gebeten, dass ich mich testen lasse, um herauszufinden, ob ich als Knochenmarkspender für das Kind in Frage komme.»

 

‹ Prev