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Ever – Wann immer du mich berührst

Page 30

by Hotel, Nikola


  Abbi ist zusammengezuckt. «Du … du hast recht. Es tut mir leid, das war nicht richtig von mir, ich hätte das nicht sagen sollen. Und ich wollte deine Mutter nicht verurteilen, wirklich nicht. Ich wünschte nur, du hättest das alles nicht durchmachen müssen.»

  «So ist das Leben», sage ich. «Einige erleben so was früher, die anderen später.»

  «Was meinst du damit?»

  Dass der Schmerz, den ich schon hinter mir habe, ihr noch bevorsteht. Wenn sie die Wahrheit erfährt. Aber jetzt in diesem Augenblick überlege ich mir, was wäre, wenn ich einfach gehen würde. Wenn ich einfach aus ihrem Leben verschwinden würde, ohne es ihr zu sagen. Wenn sie einfach weiter in dem Glauben leben könnte, dass ihr Dad ein Superheld ist. Der zwar wenig Zeit für sie hat, aber dafür die verfickte Menschheit rettet.

  «Abbi», flüstere ich und muss schlucken, weil meine Kehle vom vielen Reden wie ausgedörrt ist. Vom Reden und noch viel mehr von der Angst, die mir im Hals festsitzt wie ein trockenes, durchgekautes Stück Fleisch. «Was ist, wenn ich jemanden hasse, den du liebst?»

  29. Kapitel

  Abbi

  «Was ist, wenn ich jemanden hasse, den du liebst?», fragt David.

  Mit diesem Satz zerbricht etwas in mir. Noch viel mehr als bei meinem Unfall zerschmettern Davids Worte einen Teil von mir, der niemals heilen kann. Die Art, wie er es sagt, klingt endgültig. Er zweifelt nicht daran. Das ist keine hypothetische Frage, nicht mal ein ‹Was wäre wenn?›. Ich sehe es in seinem Blick, der schwarz und hoffnungslos ist.

  Er hasst meinen Dad.

  David ist nicht der Mensch, der so etwas leicht dahinsagt. Er meint damit nicht, dass er ihn nicht besonders gut leiden kann. Er meint das ernst. Und das lässt den Raum, obwohl ich im Bett liege, um mich herum schwanken. Ich halte meinen Kopf fest.

  «Sag das nicht.» Ein Schluchzen bricht aus mir heraus, so unmittelbar, dass ich nicht einmal die Chance habe, es zu unterdrücken. «Bitte sag so was nicht, David.»

  «Was ist, wenn dein Dad viel schlimmer ist als meiner? Wenn ich jeden Tag daran denken muss und gleichzeitig weiß, dass du ihn liebst? Abbi, was ist dann?»

  Ich muss auf Abstand gehen, weil ich das Gefühl habe, zu ersticken. Ich richte mich auf, rutsche zur Bettkante. Ich spüre, wie David sich ebenfalls aufsetzt. Die Bewegung der Matratze, als er aufsteht. Höre, wie er sich anzieht. Die Hose. Die einzelnen Knöpfe seiner Jeans. Die Schritte, die er um das Bett herum macht.

  Was ist nur passiert? Ich habe Angst, diese Frage zu stellen, aber ich kann sie auch nicht zurückhalten. «Warum, David?»

  David hatte von Anfang an eine Abneigung gegen ihn, schon als ich noch in der Rehaklinik lag. Er wollte mich nicht als Patientin. Er hat Kadence angefleht, mich ihm abzunehmen. Hat immer Abstand zu mir eingehalten, ist vor mir zurückgezuckt, wenn ich ihn unabsichtlich berührt habe. Ich habe das darauf geschoben, dass er professionell bleiben wollte. Und jetzt frage ich mich, wie dumm ich eigentlich sein kann. Es hat gar nichts mit Dads Beruf als Politiker zu tun. Es ist etwas Persönliches.

  Gerade eben hätte ich den neunjährigen David gerne in den Arm genommen, einen Jungen, der alles für seine Mom und seine kleine Schwester getan hat. Und daran hat sich seitdem nichts geändert, oder? Auch wenn seine Mutter gestorben ist, macht er alles in seinem Leben für sie und Jane. Immer noch. Meine Gedanken rasen.

  David bleibt neben dem Bett stehen. «Sie hat uns nie gesagt, wer Janes Vater ist, Abbi. Die ganze Zeit nicht.»

  Was? Aber …

  Mein Kopf schießt zu ihm hoch. Davids ganzer Körper ist angespannt. Sein Blick geht zur Tür, und ich frage mich, ob er jetzt doch das erste Mal in seinem Leben weglaufen wird. Aber er bewegt sich nicht, atmet nur ein und aus, als würde ihn jeder Atemzug Kraft kosten.

  Nach Janes leiblichem Vater habe ich ihn nicht gefragt. Kein einziger fassbarer Gedanke will sich in meinem Kopf ausformen, und unbewusst wiederhole ich einfach seine Worte. «Sie hat euch nie gesagt, wer Janes Vater ist.»

  «Nein.»

  Er kämpft mit sich, und ich verstehe nicht, wieso. «Aber jetzt weißt du es?»

  David sieht mich an. Ich bin schon fast sicher, dass er mir nicht antworten wird, weil er die Lippen zusammenpresst, aber dann holt er Luft und fängt doch an zu reden. «Nach Moms Herzinfarkt musste ich mich um die Beerdigung kümmern und um die ganzen Rechnungen, weil … Es war einfach niemand anderer da. Jane und ich sind allein. Und dabei habe ich etwas gefunden, das ich am liebsten nie gesehen hätte. In ihren Unterlagen gab es einen alten Vertrag. Er wurde kurz nach Janes Geburt aufgesetzt. Ein Vertrag, den meine Mom mit Janes Vater geschlossen hat. Er beinhaltet eine finanzielle Abfindung und eine Verschwiegenheitsklausel. Niemand sollte je erfahren, dass er ein uneheliches Kind hat.»

  Als könnte man ein Kind einfach wegradieren, mit einem Schriftstück dafür sorgen, dass es nie existiert hat. Das ist schrecklich. Aber was hat das mit meinem Vater zu tun? Oh Gott, warum erzählt David mir das? «Wer ist Janes Vater? Kennst du ihn? Hast du mit ihm gesprochen?»

  «Abbi.» Davids Stimme klingt verzweifelt. «Ich kannte ihn nur von Fotos. Aber … verdammt, jeder kennt ihn. Ich wollte nicht mit ihm reden. Er hat meine Mom und Jane im Stich gelassen und sie verleugnet. Er hat … Hölle, Abbi, ich …»

  Jeder kennt ihn. Jeder kennt ihn, ich also auch. Und David wollte unbedingt, dass ich seine Schwester kennenlerne. Das war ihm wichtig. Oh Gott, nein, das … das kann nicht sein.

  «Ich bin ihm aus dem Weg gegangen. Zumindest habe ich es versucht. Abbi, ich habe versucht, deinem Vater aus dem Weg zu gehen. Aber dann sollte ich dich als Patientin übernehmen, und das war …»

  Er rauft sich durch das Haar und spricht den Satz nicht zu Ende. Aber ich weiß auch so, wie er weitergeht. Ein Albtraum. Ich war ein Albtraum für ihn. Und jetzt ist es meiner. Mein ganz persönlicher Albtraum.

  Ich habe versucht, deinem Vater aus dem Weg zu gehen.

  Ich denke an die SMS, die David an meinen Vater getippt hat und die ich abgeschickt habe, weil ich ihm zu einhundert Prozent vertraue: Meine Entscheidungen können niemals so beschissen sein wie deine.

  Und mit einem Mal taucht die Erinnerung an die erste Begegnung der beiden vor meinen Augen auf. Unsere erste Therapiesitzung, als Dad uns überrascht hat. David sah so geschockt aus. Ich habe gedacht, dass es nur Dads blöde Bemerkung war, die ihn so aus der Fassung gebracht hat, aber jetzt kenne ich den wahren Grund. Oh mein Gott.

  Mein

  Vater

  ist

  Janes

  Vater.

  Ich kann nicht begreifen, wie das sein kann, aber es muss wahr sein, weil David mir niemals weh tun würde. Nicht absichtlich. Er würde mich nicht … anlügen? Hat er das die ganze Zeit getan? Nein, ich schüttele den Kopf. Er wollte mir nicht weh tun, das ist der Grund, warum er nichts gesagt hat, da bin ich mir sicher. Er war nett zu mir und hat mir geholfen. Er hat mir die Schmerzen genommen, obwohl er meinen Dad hasst. Ich habe gemerkt, dass ihn etwas belastet. Und dann hier zu Hause – ich habe den ersten Schritt gemacht. Ich habe ihn berührt und ihm gesagt, dass ich mehr für ihn empfinde, und er hat darauf reagiert. Er wollte mir nicht von Dads Vergangenheit erzählen. Er wollte nicht, dass ich so leide wie er.

  Aber er wollte das Geld, das Dad ihm angeboten hat. Dieser Gedanke blitzt für eine Millisekunde in mir auf, und sofort wird mein Gesicht heiß vor Scham. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, allein zu sein. Ich habe keine Ahnung, wie es ist, wenn die eigene Schwester todkrank ist, man als Kind von seinem Vater im Stich gelassen wird und dann auch noch seine Mutter verliert. Ich weiß nichts von Davids Sorgen, von den finanziellen Problemen, die Jane und er haben, und wie verzweifelt er gewesen sein muss, um diesen Job anzunehmen. Bei einem Mann, den er hasst. Dafür kann ich ihn unmöglich verurteilen. Vor allem, da es Sorgen sind, die sie nicht haben würden, wenn … Jane ist Dads uneheliche Tochter. Oh Gott. Das ist so absurd und so furchtbar, dass ich es nicht wahrhaben will.

  Die Erkenntnis tröpfelt nur langsam in mein Gehirn. Ich muss es mir immer wieder sagen und kann das Gefühl doch nicht fassen. Wenn Gramps das gewusst hätte … Er hätte Ja
ne niemals so im Stich gelassen wie Dad. Er hätte für sie gesorgt. Gramps war bodenständig, ehrlich. Wenn er es gewusst hätte …

  «Meine Mutter», fange ich an, muss mich aber unterbrechen, weil meine Kehle so rau ist, und schlucke hart. «Weiß meine Mutter das alles?»

  «Das kann ich dir nicht sagen.»

  Okay, ich nicke, starre auf den Fußboden vor mir und atme konzentriert ein und aus. Vielleicht weiß meine Mutter nichts davon. Vielleicht haben meine Eltern mich nicht beide angelogen. Vielleicht haben sie mich nicht MEIN GANZES VERDAMMTES LEBEN LANG BELOGEN! Meine Stimme bebt, als ich die nächste Frage stelle. «Wie alt ist Jane?»

  «Sie ist neunzehn.»

  Ich war ein Kleinkind, als Dad noch einmal Vater geworden ist. Was, wenn sie vor mir geboren worden wäre? Was, wenn er sich nicht für meine Mutter und mich entschieden hätte, sondern für Jane? Hätte er dann genauso versucht, mich mit einem Vertrag aus seinem Leben zu streichen?

  Als ich anfange, zu realisieren, was das bedeutet, wird mir das Herz so fest in meinem Brustkorb zusammengepresst, dass ich mich festhalten muss. Ich schlinge beide Arme um meinen Oberkörper, wiege mich, bis David fragt: «Soll ich gehen? Abbi, bitte sag etwas. Soll ich verschwinden und dich allein lassen?»

  Ich schüttele den Kopf. Und als mir das Entsetzen über das, was ich gerade erfahren habe, aus den Augen quillt, krabble ich wieder ganz aufs Bett, verschränke die Hände über meinem Kopf, drücke mein Gesicht ins Kissen, um nicht laut zu schreien.

  Irgendwann spüre ich Bewegung, als David näher ans Bett kommt. Er geht neben mir auf die Knie, seine Hand berührt mich am Arm, und als ich nach ihm taste, ihn festhalte, atmet er zitternd aus und stößt ein verzweifeltes «Es tut mir leid» aus.

  «Verdammt, es tut mir so leid, Abbi. Ich wollte es dir nicht sagen. Ich habe gedacht, ich kriege das hin. Dass ich das ausblenden kann und einfach diesen Job erledige, weil ich das Geld brauche. Ich habe mein Stipendium verloren. Nach Moms Herzinfarkt war ich am Ende. Ich habe Prüfungen verpasst, und diese Scheißrechnungen haben mich erdrückt. Als dein Vater mir diesen Job angeboten hat …» Er flucht. «Ach, verdammt. Ich wollte dir nie die Wahrheit sagen. Ich war so bescheuert zu glauben, dass ich danach einfach in mein altes Leben zurückkann. Ich wollte nicht auch noch dein Leben ruinieren.» Er setzt sich auf. «Und nun habe ich es doch getan.» Er drückt meine Hand, und ich weiß, dass er damit unterstreichen will, was jetzt kommt. «Ich hoffe, du kannst mir das alles irgendwann verzeihen.»

  Als ich nicht antworte, versucht er, aufzustehen, aber ich halte ihn fest. Schlucke die Tränen hinunter, traue aber meiner Stimme nicht so ganz, weil meine Gedanken so konfus sind, dass ich sie kaum formulieren kann. Konzentrier dich, Abbi! «Ich bin froh, dass du es mir gesagt hast», flüstere ich. Und dann fließen die Worte einfach aus mir heraus. «Du hast mein Leben nicht ruiniert, David. Mein … mein Dad hat das getan, und ich bin … Ich kann nicht begreifen, wie er das deiner Mutter und Jane antun konnte. Mir tut es leid. Es tut mir leid, dass du allein warst und niemanden hattest, der dir hilft. Es tut mir leid, dass du dein Stipendium verloren hast und diesen Job annehmen musstest. Wenn ich nur gewusst hätte, wie schrecklich das alles für dich ist.»

  Er schüttelt den Kopf. «Nein. Das war es nicht. Nicht nur. Nicht mit dir. Es war … Himmel und Hölle zugleich.»

  Ich bin unschlüssig, ob ich ihn berühren darf. Aber dann zieht er mich plötzlich an sich, und ich presse mein Gesicht an seinen Hals. «Deine Schwester muss mich hassen.»

  «Sie weiß es nicht. Ich habe es noch nicht geschafft, ihr die Wahrheit zu sagen. Das alles ist zu viel. Scheiße, Mom ist gerade einmal drei Monate tot. Ich habe es einfach nicht fertiggebracht. Ich dachte, wenn du sie kennenlernst, wenn ihr euch mögt, dass es vielleicht leichter wird. Ich habe keine Familie mehr, ich habe nur noch Jane. Und wahrscheinlich habe ich irgendwie gehofft, dass ihr beide …» Er hebt die Schultern an. «Keine Ahnung, was ich mir dabei gedacht habe.»

  Vielleicht, dass wir so etwas wie eine Familie sein könnten? Wie viel Sehnsucht muss er in sich tragen, dass alles … einfach wieder gut wird? Ich traue mich nicht, diesen Gedanken auszusprechen, weil ich dann garantiert wieder losheulen muss. «Ich habe nur kurz mit Jane geredet», sage ich vorsichtig. «Aber ich glaube, sie ist viel stärker, als du denkst. Du musst sie nicht länger beschützen, David.»

  «Ich weiß», bricht es aus ihm heraus. «Ich weiß das, verdammt!»

  Und erst jetzt realisiere ich, wie verzweifelt er wirklich ist. Ich habe noch nie einen Mann weinen sehen, und David so zu erleben, bricht mir das Herz. Wie schlimm das alles für ihn gewesen sein muss, wie viel er in den letzten Wochen mit sich allein ausmachen und aushalten musste. Und ich halte ihn fest, während all das aus ihm herausfließt.

  30. Kapitel

  David

  Das Laken klebt an mir, als ich aufwache, obwohl die Klimaanlage auf Hochtouren läuft, und ich spüre sofort, dass Abbi noch schläft. Sie atmet tief und ruhig, was nach dem, was letzte Nacht war, eigentlich unmöglich sein sollte. Genauso unmöglich, wie dass ich noch hier bin. Hier bei ihr.

  Wir haben die ganze Nacht geredet. Über Jane, über meine Mutter und über das wenige, was ich über die Beziehung von ihr und Abbis Vater weiß, und irgendwann war ich so fertig, dass ich tatsächlich eingeschlafen bin. Und doch habe ich Abbi nicht alles erzählt. Ich konnte ihr das mit den Behandlungsschulden nicht sagen. Wenn sie wüsste, dass ihr Vater Jane nicht geholfen hat, als sie krank war, würde sie das umbringen. Aber ich werde Hayden damit konfrontieren. Ich kann nicht länger so tun, als wäre ich nur der Physiotherapeut seiner Tochter. Ich will verdammt noch mal, dass er mir ins Gesicht sieht und sich dafür rechtfertigen muss.

  Gott, mein Hals ist staubtrocken. Vorsichtig, um Abbi nicht zu wecken, ziehe ich meinen Arm unter ihrem Kopf weg. Mit der anderen Hand taste ich über die Matratze nach meinem Handy. Das Display ist so grell, dass ich die Augen zusammenkneife und halbblind erst einmal die Helligkeit runterregle. Fast elf. Ich fass es nicht. Ich habe geschlafen wie ein Toter, was eigentlich nicht sein kann, weil ich sonst nie besonders tief schlafe. Ausgerechnet hier. Ausgerechnet heute.

  Ich raffe meine Klamotten zusammen. Als ich die Tür öffne, hallt von unten noch kurz das Echo leiser Schritte zu mir hoch, dann ist es still.

  Wahrscheinlich bin ich der größte Idiot auf Gottes Erdboden, weil ich hiergeblieben bin, um mich mit William Hayden anzulegen. Obwohl ich seine Tochter liebe. Und er der Erzeuger meiner Schwester ist. Was zu viel ist, um es mit dem Brei zu bewältigen, der gerade durch mein Gehirn schwimmt. Ich laufe über den Flur und schließe die Badezimmertür ab, bevor ich hinter die Glastür der Dusche trete.

  Ist schon ein Unterschied, ob man sich in eine winzige kalkweiße Kabine quetscht, wo das Wasser fünf Minuten lang kalt bleibt und es in den Silikonfugen schimmelt, oder ob man wie hier auf eine anthrazitfarbene Steinplatte guckt und sich das wohltemperierte Wasser aus einem Duschkopf auf den Kopf regnen lässt, der so riesig ist, dass man ein Fußballfeld damit bewässern könnte.

  Mit tropfnassen Haaren steige ich anschließend auf die Fußmatte und rubble mich mit einem abartig flauschigen Handtuch ab, auf dem ein H für Hayden eingestickt ist. Ich hänge das Handtuch auf und stelle fest, dass mir ein kratziges normales Billigteil lieber ist. Mit dem hier kann man sich kaum abtrocknen.

  Mein Handy gibt einen Ton von sich. Eine Nachricht von Kadence. Sie hat heute Spätdienst und ist wahrscheinlich auch gerade erst aufgestanden. Der Gedanke erinnert mich so sehr an mein normales Leben, dass ich den Kopf schütteln muss. Es gibt kein normales Leben mehr, verdammt.

  Kadence: Und? Hast du was in der Akte gefunden?

  Scheiße. Das hatte ich vollkommen vergessen. Mal abgesehen davon, dass ich mich auch richtig mies dabei fühle, Abbi jetzt noch hinterherzuschnüffeln. Ich lege das Telefon erst mal beiseite, schlüpfe in meine Klamotten von gestern, was schwer genug ist, weil meine Haut noch überall feucht ist. Danach setze ich mich auf den geschlossenen Klodeckel, um mir die Akte anzusehen, die Kadence eingescannt hat.

  Ich sollte sie löschen. Wenn Kady nichts Ungewö
hnliches aufgefallen ist, wird das bei mir kaum anders sein. Aber dann sehe ich sie mir doch an. Weil ich Sachen nicht auf sich beruhen lassen kann und damit vielleicht mehr mit Jane gemeinsam habe, als ich dachte. Und weil ich immer noch hoffe, etwas zu erfahren, damit Abbi nie wieder einen Gedanken an Arschloch-Ryan verschwenden und sich schuldig fühlen muss.

  Langsam öffnet sich die Datei, während mir ein Wassertropfen aus den Haaren rinnt und mich an der Wange kitzelt. Schnell wische ich ihn weg und ziehe dann auf dem Display die einzelnen Seiten groß, um sie besser lesen zu können. Den Unfallbericht, die Untersuchungsbefunde vom CT, Ultraschall, Röntgenbilder, die beiden OP-Berichte, Blutuntersuchungen, Medikamentenliste, der Barcode einer einzelnen Blutkonserve, Berichte vom Pflegepersonal, Konsile von der Neurochirurgie und der Anästhesie, als Letztes der Entlassungsbericht von Dr. Muller. Den kannte ich schon, weil wir eine Kopie davon in der Akte der Rehaklinik hatten, aber der Rest ist für mich neu. Da ich keine Ahnung habe, wonach ich überhaupt suche, gehe ich jedes Blatt der Reihe nach durch, angefangen beim Unfallbericht. Es gibt keine Fotos vom Unfallort, die sind bei der Polizei – ich bin auch nicht besonders scharf darauf, mir Abbis zerquetschtes Auto anzugucken.

  Ich lese die Pflegeberichte, danach fange ich noch mal ganz von vorne an, gucke mir die Laborbefunde an und gehe dann die Liste mit Medikamenten durch, die Abbi bekommen hat. Da ist nirgends etwas Ungewöhnliches. Nur dass sie eine Blutkonserve bekommen hat, habe ich nicht gewusst. Am ersten Tag nach der OP steht im Pflegebericht, dass Abbis Hämoglobin-Wert nach der Gabe des Erythrozytenkonzentrats mit 12,6 wieder im Normbereich lag. Ich wische über mein Display, um nachzugucken, wie niedrig er vorher gewesen ist, finde aber keinen Befund dazu.

 

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