Ever – Wann immer du mich berührst
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«Sie ist in ihr Arbeitszimmer gegangen. Was ist passiert? Wo ist David? Was … Wieso ist er gefahren?» Als mein Dad den Kopf auf die Brust sinken lässt, platze ich heraus: «Was um Gottes willen hast du zu ihm gesagt?»
Er legt das Foto auf den Tisch zu zwei anderen und seine Hand darauf, als wäre ihm gerade erst bewusst geworden, dass er sie vor mir verbergen sollte. «Ich habe ihn darum gebeten, unser Haus zu verlassen, Abbi. Er hat gegen seinen Arbeitsvertrag verstoßen. Es tut mir leid, aber wir müssen einen neuen Physiotherapeuten für dich einstellen.»
In mir bildet sich das irre Verlangen, loszulachen. Wie bescheuert ist es, dass Dad immer noch so tut, als würde es hier um meine Therapie oder irgendeinen Vertrag gehen? Als würde das noch irgendeine Rolle spielen. Als wäre nicht meine ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. «Ist das wirklich dein Ernst?», fahre ich ihn an. «Wir wissen beide, dass es nicht darum geht. Kommt das von Mom oder von dir? Wer von euch will David unbedingt loswerden?» Oh Gott, er hat David aus dem Haus geworfen. Er ist weg.
«Das war eine gemeinsame Entscheidung, und ich bin absolut sicher, dass es die richtige war. Jetzt mehr denn je.» Seine Finger streichen über die Fotos unter seiner Hand.
Soll ich ihn fragen, was er da macht, warum er das Foto einer fremden Frau streichelt, als würde sie ihm etwas bedeuten? Was soll ich nur tun? «Hast du … Oh Gott, Dad, du bist …»
«Es ist alles in Ordnung, Liebling. Ich habe nur gerade erfahren, dass jemand gestorben ist. Jemand, den ich … der mir einmal sehr nahestand. Gib mir einen Moment, ja?»
«Davids Mom?» Ich habe meine Stimme kaum unter Kontrolle. «David hat mir alles erzählt.»
«Abbi, das … Gott, es ist fast zwanzig Jahre her. Kannst du mich nur einen Moment allein lassen?»
Er gibt es zu. Einfach so, und versucht gleichzeitig, es durch die Anzahl der vergangenen Jahre zu relativieren. Aber das funktioniert nicht. Nicht für mich. «Und mehr hast du mir nicht zu sagen? Was bedeutet dir Davids Mom? Wie kann es sein, dass du sie … Verdammt, Dad, was ist mit Jane? Wie konntest du das tun?»
Jetzt sieht er mich an. «Du musst dir deswegen keine Sorgen machen, Abbi. Zwischen uns bleibt alles beim Alten.»
Das kann er nicht wirklich glauben. Obwohl ich schon geahnt habe, wie wenig ich meinen eigenen Vater eigentlich kenne, fühlt es sich an, als würde er mir mit diesen Worten eine Faust in den Magen rammen. Ich schnappe nach Luft, wahrscheinlich begreife ich es in diesem Augenblick erst richtig. Dass er wirklich etwas mit Davids Mom hatte. Dass die beiden mal zusammen waren. Dass Jane seine uneheliche Tochter ist und dass er es nicht einmal fertigbringt, ihren Namen zu nennen. «Weiß Mom es?»
Er nickt langsam.
Oh mein Gott, Dad!
«Es tut mir leid, dass du das erfahren musstest. Ich hatte nicht vor, dich damit zu belasten.»
«Mich belasten?» Fassungslos schüttele ich den Kopf. Es tut ihm leid, dass ich es erfahren habe? Ist das sein verdammter Ernst? Es tut ihm ganz offensichtlich nicht leid, dass er Mom betrogen hat. Oder mich. Es tut ihm nicht leid, dass er Jane ihr ganzes Leben lang verleugnet hat. «Du hast ein uneheliches Kind! Denkst du nicht, ich sollte das wissen? Denkst du nicht, ich habe verdammt noch mal ein Recht zu wissen, dass ich eine Halbschwester habe? Oder Jane, wer ihr Vater ist?»
«Ihre Mutter und ich haben diese Entscheidung gemeinsam getroffen. Es war nicht nur das Beste für unsere Familie, sondern auch für Rachels.»
«Ihr habt das einfach mal eben so beschlossen? Merkst du eigentlich, wie grausam das ist? Sie ist meine Schwester. Wie konntet ihr mir das all die Jahre verheimlichen?» Weil mein Vater wie betäubt vor sich hinstarrt, schreie ich ihn an. «Verdammt, Dad, rede mit mir!»
Er zuckt zusammen und bewegt dann den Kopf, als würde er abschütteln wollen, was gerade in ihm vorgeht. «Verzeih mir, Abbi. Ich kann jetzt nicht mit dir darüber reden. Es ist … Es ist geradezu lächerlich, dass mich das nach all der Zeit so trifft. Ich habe jahrelang nicht mal an sie gedacht.»
Ich kann sehen, wie seine Hand zittert, als er die Fotos nun unter die Schreibtischablage schiebt. Ich glaube ihm nicht. Ich glaube gar nichts mehr, weil alles, was bisher unsere Familie ausgemacht hat, nicht wahr ist. Er hat mich jahrelang belogen, und nicht nur mich, auch sich selbst. Er belügt sich auch jetzt noch. Wie kann etwas lächerlich sein, wenn es ihn so sehr trifft? Wie kann er seine … andere Tochter lächerlich nennen?
Mein Vater reibt sich mit einer Hand über das Gesicht, bevor er sich ein weiteres Glas Brandy einschenkt und es in einem Zug austrinkt, nur um danach wieder ins Leere zu starren.
«Was hast du nun vor?», frage ich mit zitternder Stimme.
Er sieht auf, mit einem Blick, als könne er nicht begreifen, wie ich eine solche Frage überhaupt stellen kann. «Ich muss mich um meinen Wahlkampf kümmern, Abbi. Nichts hat sich geändert. Ich habe einen vollen Terminkalender, es stehen Reisen an, Interviews. Da warten Menschen auf mich.»
Ich kann nicht … Wie kann er … Er kann doch nicht einfach so weitermachen wie bisher. «Ich meine nicht deinen verdammten Wahlkampf, Dad! Ich meine Jane! Willst du sie nicht kennenlernen? Sie … oh Gott, sie sieht ihrer Mutter so ähnlich.»
«Hör auf, Abbi.»
«Du würdest sie bestimmt mögen, du …»
«Hör. Auf», wiederholt er in einem harten Tonfall, in dem er noch nie mit mir gesprochen hat. «Es spielt keine Rolle, ob ich sie mögen würde. Weißt du, was David eben zu mir gesagt hat?» Plötzlich lacht er auf. «Er hat mich ein Arschloch genannt. Und weißt du was, Abbi? Er hat recht damit. Er hat vollkommen recht. Und er hätte mich auch einen Feigling nennen können, weil ich nicht bereit bin, etwas zu riskieren, wofür ich mein halbes Leben lang gearbeitet habe.»
Mein Herz zieht sich zusammen. Was, wenn es andersherum gewesen wäre? Wenn er Davids Mutter zuerst kennengelernt hätte und ich sein uneheliches Kind gewesen wäre? Hätte er mich dann genauso im Stich gelassen und jahrelang nicht mal an mich gedacht? Nur um seine politische Karriere nicht zu gefährden? Oh Gott, es tut so weh. Dass er so hart sein kann, tut unendlich weh. Er und Mom haben viel mehr gemeinsam, als ich dachte. Sie wäre sicher stolz, zu sehen, wie gut er sich gerade unter Kontrolle hat. Wie beherrscht er nun wieder ist. Und das lässt meinen Puls vor Wut rasen.
«Du hast recht», sage ich und muss an mich halten, mit meinen Krücken nicht gegen seinen Tisch zu schlagen, weil ich am liebsten etwas zerstören möchte. So wie er auch alles zerstört hat. «Du bist ein Feigling.»
«Nicht in diesem Ton, Abbi!»
«Warum? Weil ich die Wahrheit sage? Weil ich das einzige Mitglied dieser Familie bin, das sich nicht selbst etwas vormacht?» Meine Finger umkrampfen die Griffe meiner Gehstützen, als ich mich straffe. Es kostet mich unendliche Überwindung, aber ich muss ihm das jetzt sagen. «Ich habe keine Ahnung, wie du es geschafft hast, das vor dir selbst zu rechtfertigen. Dir einzureden, so egoistisch zu sein, wäre legitim. Denn das ist es nicht, es ist nicht in Ordnung! Du hast Menschen für deine Ziele verletzt, Dad. Du hast mich verletzt. Und du hast David und seine Schwester verletzt. Was auch immer zwischen euch vorgefallen ist, zwischen David und dir, ich … ich bin auf Davids Seite. Ich werde zu ihm halten.» Irgendetwas zerreißt in mir. Ich weiß, dass es richtig ist, ich habe nicht den geringsten Zweifel, aber es fällt mir so unendlich schwer. «Und ich kann auch nicht einfach so tun, als gäbe es Jane nicht, Dad. Und du solltest das auch nicht. Gramps würde das auch nicht.»
Sein Gesicht ist wie versteinert. So habe ich ihn noch nie erlebt. Aber ich hätte auch nie gedacht, dass ich mal so etwas zu ihm sage. Zu meinem Dad, der immer der wichtigste Mensch in meinem Leben gewesen ist. Auf einmal ist er ein Fremder, und das kann ich kaum ertragen. Ich gehe zu ihm, und als ich nach seiner Hand greife, stößt er schwer den Atem aus. «Ich weiß nicht, wie ich jetzt mit dir umgehen soll», schluchze ich. Und dann lege ich den Kopf auf seine Schulter und versuche vergeblich, das Gefühl heraufzubeschwören, das ich immer hatte, wenn wir uns umarmt haben. Das Gefühl, mich immer auf ihn verlassen und ihm vollkommen vertrauen zu können. Ich atme seinen vertrauten Geruch ein, doch selbst
der stimmt nicht mehr, weil er nach dem Brandy riecht, den er getrunken hat.
«Dann hat er dich mir also weggenommen», murmelt er, und seine Berührung fühlt sich unsicher, gehemmt an. Mit einem Räuspern löst er sich von mir. «Lass mich bitte für einen Moment allein, Abbi. Nur ein paar Minuten. Ich muss … nachdenken, danach bin ich für dich da, und wir unterhalten uns in Ruhe, einverstanden?»
Nur ein paar Minuten. Mehr als ein paar Minuten erlaubt er sich nicht, um sich wieder so weit zusammenzureißen, wie man es von ihm erwartet. Vielleicht auch nur, wie meine Mutter es erwartet.
Dad verschränkt die Hände ineinander, legt sie auf dem Schreibtisch ab und lässt seinen Kopf darauf sinken. Seine Schultern fangen an zu beben, völlig lautlos.
Als ich die Tür leise hinter mir schließe, laufen auch mir Tränen über die Wangen.
32. Kapitel
Abbi
Draußen vor der Tür lehne ich mich erst mal dagegen, wische mir übers Gesicht und atme tief durch. Ich muss David suchen. Und mit Jane reden. Mit meiner Halbschwester. Oh Gott, wie verrückt das klingt. Aber dafür muss ich mir ein Auto besorgen. Nur dass ich weder Davids Adresse habe noch seine Handynummer. Wie erschreckend ist das eigentlich? Ich habe seine Nummer nie gebraucht, weil er immer da war. Wenn ich morgens aufgewacht bin, hatte er mir bereits eines seiner Origami-Tiere vor meine Zimmertür gelegt und in der Küche bei Lorraine auf mich gewartet. Er ist immer für andere da. Für mich, für seine Schwester, für seine Patienten … Und schon wieder fange ich an zu schluchzen, weil ich solche Angst habe, ihn zu verlieren. Ich habe schon so viel verloren. Meine Sicherheit, meinen Dad … oder zumindest den Menschen, für den ich meinen Dad gehalten habe.
Mit dem Handrücken wische ich mir erneut die Tränen weg, weil ich mich jetzt sammeln muss. Aber, oh Gott, ich brauche David. Ich brauche ihn. Und ich will für ihn da sein, so wie er immer für andere da ist. Aber vor allem muss ich jetzt hier weg. Ich werde Willow anrufen und sie fragen, ob ich ein paar Tage bei ihr übernachten kann. Um nachzudenken. Um mir darüber klar zu werden, was ich jetzt tun soll.
Ich gehe ins leergeräumte Esszimmer. Davids Sachen sind alle noch da, so überstürzt ist er aufgebrochen. Also klemme ich den Henkel von seiner Sporttasche am Griff meiner Krücke fest und trage sie zum Sekretär. Ich packe Davids Bücher und seine Notizen ein, ziehe den Reißverschluss zu und lasse alles stehen, weil ich erst noch nach oben in mein Zimmer muss, um meine eigene Tasche zu holen. Vorher besorge ich mir noch ein Schmerzmittel, weil mein Knie sticht. Wie soll ich damit nur Auto fahren? Wie soll ich überhaupt Auto fahren, wenn es Monate her ist und mir allein beim Gedanken daran, mich wieder hinter ein Steuer zu setzen, der Schweiß ausbricht?
Ich schlucke gleich zwei von den Tabletten, die David mir nach Dr. Mullers Besuch gegeben hat. Oben in meinem Zimmer werfe ich ein paar Klamotten und die Haustürschlüssel in meine Tasche und kontrolliere, ob mein Portemonnaie drin ist. Bargeld habe ich kaum, aber mehrere Kreditkarten. Dann ziehe ich das Kleid aus, schlüpfe in Jeans und Turnschuhe und suche mir ein frisches T-Shirt aus dem Schrank. Die Krücken lehne ich kurz gegen mein Bett, um mir die Tasche über die Schulter hängen zu können, und humple dann über den Flur zum Büro meiner Mutter.
Sie sitzt am Schreibtisch, hat mehrere Stapel Papiere mit dicken Heftklammern vor sich. Wahrscheinlich redigiert sie irgendein juristisches Schreiben oder auch eine Rede von Dad. Als ich reinkomme, blickt sie auf. Sie wirkt ernst, aber als sie mich sieht, lächelt sie leicht. «Wie geht es deinem Vater? Das alles war ein ziemlicher Schock für ihn.»
«Für dich nicht?»
«Ach, Abbi.» Sie seufzt. «Wir sind jetzt seit fast fünfundzwanzig Jahren verheiratet. Ich kenne deinen Vater. Viel besser als du. Nur hast du aus irgendeinem Grund für ihn immer viel mehr Verständnis aufgebracht als für mich. Nun ja. Habt ihr euch für einen neuen Therapeuten entschieden?» Sie hält einen Zettel hoch. «Ich hatte mich sicherheitshalber schon vor ein paar Wochen über Alternativen informiert. Du solltest sofort mit dem Training weitermachen, es ist nicht mehr lang bis zu unserem Drehtermin.»
Es ist deprimierend, wie sich für meine Mutter einfach alles weiterdreht, als wäre das Leben noch genauso wie gestern. «Ich brauche keinen anderen Therapeuten, Mom. Was ich jetzt brauche, ist dein Auto. Kann ich mir das ausleihen? Ich verspreche, ich passe auf.»
«Du bist seit dem Unfall nicht gefahren, Abbi. Ich denke nicht, dass du das mit dem Bein schon schaffst. Übrigens habe ich inzwischen mit Ryan gesprochen. Er hat sich bereiterklärt, die Homestory mit uns zu machen. Ich habe ihn darauf hingewiesen, dass er demnächst sein Studium beendet und sich dann um Jobs bewerben muss. Mit der Tochter des Gouverneurs liiert zu sein, ist auch für ihn ein Türöffner.»
Ich würde lachen, wenn es nicht so entsetzlich wäre. Meine Mutter tut gerade so, als wäre man ein Mensch zweiter Klasse, wenn man allein ist. «Ich werde keine Fotos mit Ryan machen, Mom.»
Meine Mutter wirft ihren Stift auf den Tisch und fährt mit dem Stuhl ganz zu mir herum. «Abbi, ich glaube, du hast den Ernst der Situation nicht verstanden. Es geht hier nicht um ein paar Fotos fürs Familienalbum. Das ist der Wahlkampf deines Vaters. Wir werden dabei vollständig durchleuchtet, begreifst du das denn nicht? Was uns bevorsteht, ist wie eine Darmspiegelung. Und zwar eine, die niemals endet. Sie werden uns in Zukunft genauestens beobachten. Was wir tun, was wir tragen, was wir sagen. Sie werden jedes Wort von deinem Vater analysieren und aufzeichnen. Man wird unsere ganze Familie sezieren. Wir können uns da keine Entgleisungen leisten.»
Eine Entgleisung wie ohne einen Partner auf Familienfotos oder einem Video zu sehen zu sein? Ich beiße die Zähne zusammen und versuche sachlich zu bleiben. Momentan bin ich mir nicht mal sicher, ob ich dieses Haus je wieder betreten werde, aber bevor ich weiß, was ich tun will, werde ich dieses Gespräch nicht führen.
«Ich verstehe, wie wichtig das für euch ist. Aber ich werde nicht lügen und Gefühle für einen Mann heucheln, den ich verabscheue.»
Ich will Ryan nie wiedersehen.
«Du verstehst das nicht. Es geht nicht nur darum, dass du mit ihm ein gutes Bild abgibst. Indem wir ihn involvieren, können wir auch sichergehen, dass er nicht über deinen Unfall spricht.»
«Was ist denn so schlimm daran, wenn jemand davon erfährt? Ich hatte einen Unfall, ja, aber ich war verletzt, nicht Ryan. Du tust ja gerade so, als hätte ich jemanden umgebracht.»
Sie seufzt. «Ryan weiß, dass du etwas getrunken hattest. Wenn er das an die Presse weitergibt, wenn auch nur ein derartiges Gerücht entsteht, fällt das auf deinen Vater zurück.»
Ich bin wie vor den Kopf geschlagen. «Was meinst du damit? Ich habe nicht … Wovon redest du überhaupt?»
«Eigentlich waren dein Vater und ich uns einig, dass wir dir nichts davon erzählen, um dich nicht zu beunruhigen, aber du lässt mir keine andere Wahl.»
Ich kenne dieses Spiel von Mom. Sie wird mir nun Vorwürfe machen, gegen die ich mich nicht wehren kann. Es ist so sinnlos, mit ihr zu diskutieren.
«Du hast an diesem Abend Sekt getrunken, Abigail. Danach bist du mit Ryan ins Auto gestiegen. Ihr habt euch gestritten. Ich bin sicher, dass Ryan daran nicht unschuldig war. Aber Fakt ist: Du bist gefahren und hattest Alkohol im Blut und hast die Kontrolle über das Fahrzeug verloren.»
Ich bin unter Alkoholeinfluss Auto gefahren. Oh Gott, wieso habe ich das getan? Sofort muss ich an Muller denken und daran, was er zu mir gesagt hat. Dass ich einem Bourbon doch auch nicht abgeneigt wäre. Mir wird schlecht.
Mein Entsetzen muss mir anzusehen sein, denn die Stimme meiner Mutter wird sanfter. «Es war nur ein Glas. Ryan hat uns erzählt, dass du mit ein paar Freundinnen angestoßen hast. Doch auch diese geringe Menge war in deinem Blutbild noch nachweisbar. Du weißt nicht, was es deinen Vater gekostet hat, das unter den Teppich zu kehren. Wenn es zu einer Anzeige gekommen wäre, wärst du vorbestraft gewesen. Ryan hat deinen Vater damit konfrontiert, und wir haben uns dazu entschieden, ihn mit einem Geldbetrag zu unterstützen, damit er es für sich behält.»
«Ihr habt ihn bestochen.» Ich erwarte, dass sie das von sich weis
t oder zumindest meine Wortwahl kritisiert, aber meine Mutter überrascht mich, indem sie langsam nickt.
«Wir haben ihn bestochen.» Sie steht auf, tritt zu mir und streicht mir tröstend über den Arm. «Wir haben dich damit geschützt und auch deinen Vater. Es war nur ein Glas. Wir können nicht riskieren, dass unsere Pläne deswegen gefährdet werden. Deshalb solltest du noch einmal über die Sache mit Ryan nachdenken und dann das Richtige tun.»
Wenn es wirklich wahr ist, dann ist das nur ein Grund mehr, nie wieder mit Ryan zu sprechen. Er hat meinen Vater erpresst. Das ist es doch, was Mom damit ausgesagt hat, oder nicht? Ich habe einen Fehler gemacht, einen schrecklichen Fehler, aber ich kann daran nichts mehr ändern. Ich kann nur dafür sorgen, dass mir so etwas nie wieder passiert. Es wird nie wieder passieren.
Nur kann ich nicht verstehen, wie meine Mutter diesen Fehler nehmen kann und versucht, mir daraus eine Schlinge zu drehen. Sie hat so viel für meinen Dad getan, so viel hingenommen und ertragen, und nun erwartet sie von mir dasselbe? Er hat sie betrogen!
Ich brauche das Auto meiner Mutter nicht. Ich rufe mir einfach ein Uber, oder vielleicht ist Lorraine noch da.
«Weißt du was, Mom, du hast recht. Ich werde das Richtige tun. Und das Richtige ist, zu dem zu stehen, was man getan hat. Ich kann es nicht rückgängig machen, aber wenn Ryan glaubt, dass er uns damit erpressen kann, dann liegt er falsch. Ich spiele da nicht mit. Dads Karriere ist nicht jedes Opfer wert. Oder denkst du wirklich, das alles war richtig?» Ich glaube, sie weiß, dass ich damit Jane meine. Aber da ich keine Antwort erwarte, wende ich mich zur Tür.
«Vielleicht war es wirklich ein Fehler, dir nichts zu sagen.»
Überrascht hebe ich den Kopf.
«Es ist für mich auch nicht leicht gewesen, Abbi.»
Ihr Tonfall, der auf einmal so anders klingt, versetzt mir einen Stich. Ich kann mich nicht erinnern, wann sie mich das letzte Mal Abbi genannt hat. Und dann nimmt sie mich auf einmal in den Arm. Ich muss blinzeln, doch Mom lässt mich so schnell wieder los, dass ich keine Gelegenheit habe, die Umarmung zu erwidern. «Vielleicht habe ich in meinem Leben wirklich zu viele Opfer für deinen Vater gebracht», sagt sie leise. «Aber irgendwann ist man an einem Punkt angekommen, wo es kein Zurück mehr gibt. Wo man weitergehen muss, damit alles, was man davor getan hat, nicht umsonst war. Verstehst du das?»