Ever – Wann immer du mich berührst
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Nein, ich kann sie nicht verstehen. Aber ich will es wenigstens versuchen, deshalb nicke ich.
«Aber das gilt natürlich nicht für dich.» Sie geht um ihren Schreibtisch herum, und im ersten Moment kann ich kaum glauben, dass sie tatsächlich ihren Autoschlüssel aus der Handtasche holt. «Sei vorsichtig.»
Meine Finger schließen sich um den Smart Key. «Danke, Mom.» Wir sehen uns noch einen Moment an, in dem Bewusstsein, dass sich heute zwischen uns etwas Grundsätzliches geändert hat. Dann nicke ich, drehe mich um und verschwinde aus ihrem Büro.
Langsam arbeite ich mich die Treppe nach unten, wie ein Kind, das auf jeder Stufe einmal stehen bleibt, und ich weiß genau, was David sagen würde. Dass ich das großartig mache, dass wir einfach weiter kleine Schritte machen und dass es nicht auf die Geschwindigkeit ankommt, sondern darauf, in die richtige Richtung zu gehen. Und dabei würde er mit seinen Augen lächeln.
Ich habe einen Kloß im Hals. Und der wird nicht kleiner, als ich Lorraine in der Küche am Herd stehen sehe, wie sie das Gemüse kleinschneidet. Denn sie hat ihre Bluetoothbox wieder angestellt, und Elvis singt Always On My Mind. Ich muss daran denken, wie ich erst gestern Morgen hier neben David gestanden habe, als er gesagt hat, er würde den Song mögen. Gestern, nachdem wir im Pool das erste Mal eine Grenze überschritten haben und er mich mit Hilfe des Origami-Schwans gefragt hat, ob ich es wieder tun würde.
Ja, würde ich. Immer und immer wieder.
Von hinten lege ich die Arme um Lorraine, und sie gibt einen erschrockenen Laut von sich. «Abbi, wieso schleichst du dich so an? Ich habe dich gar nicht gehört.»
Bei ihr fällt es mir so leicht, einfach ich zu sein, meine Gefühle zu zeigen. Ich drücke mich an sie, weil ich so dankbar dafür bin, dass sie immer für mich da war, und weil sie David so sehr mag. «Danke, Lorraine.»
«Wofür denn? Sag bloß, das Lied macht dich auch so rührselig.» Sie legt das Messer weg, dreht sich um und tätschelt mir die Wange mit ihrer Hand, die nach Möhren, Lauch und einfach nach Lorraine riecht.
«Nur dafür, dass es dich gibt.» Ich gebe ihr einen Kuss auf die Wange.
«Sei nicht albern, Mädchen.» Sie schnalzt mit der Zunge. «Wo hast du David gelassen? Ich habe noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen. Wenn er das nächste Mal hier übernachtet, dann soll er gefälligst dafür sorgen, dass das Gästezimmer benutzt aussieht. Und du könntest auch ein bisschen vorsichtiger sein, junge Dame.» Ihre Augenbrauen gehen mahnend in die Höhe.
«Das geht leider nicht. Ich muss jetzt etwas tun, was meinen Eltern ganz und gar nicht gefallen wird.»
«Und dafür möchtest du meinen Segen?» Sie gibt ein Brummen von sich und zwinkert mir dann verschwörerisch zu. «Es ist höchste Zeit, dass du mal etwas tust, was deinen Eltern nicht gefällt, wenn du mich fragst.»
Ich lache erstickt auf und schließe sie noch einmal fest in die Arme.
Ein paar Minuten später trage ich Davids Sporttasche auf dem Rücken, je einen Henkel um eine Schulter, und schleiche nach draußen zu Moms Wagen. Meine eigene Tasche habe ich schon vorher ins Auto verfrachtet. Mein Knie schmerzt, aber das ist mir egal. Es wird schon nichts passieren. Ich habe noch Davids Stimme im Ohr, als er mich im Krankenhaus beruhigen wollte.
Die Platte in deinem Bein ist übrigens aus Titan. Wusstest du, dass Titan eine Zugfestigkeit hat wie Baustahl?
Zur Not werde ich mir bei Willow Eis auf mein Knie legen, während ich mir überlege, was ich tun und wie ich David finden soll. Ich habe keine Ahnung, wo er wohnt, aber ich weiß, wo seine Schwester arbeitet. Die … oh Gott, die eigentlich auch meine Schwester ist. Dieser Gedanke ist vollkommen surreal. Mit einem mulmigen Gefühl schließe ich den Wagen auf und überlege, was ich mache, wenn der Personenschützer am Tor ganz genau hinguckt und bemerkt, dass es nicht meine Mom ist, die in diesem Auto sitzt. Wahrscheinlich hilft da nur beten.
Moms Wagen ist ein schwarzer Chevrolet, der losschießt wie eine Raubkatze, wenn man zu fest aufs Gas tritt, deshalb fahre ich ganz sanft an. Als ich an das Tor komme, hat der Personenschützer bereits sein Telefon am Ohr. Das Herz schlägt mir bis zum Hals, weil er mich natürlich nicht einfach durchwinkt, sondern langsam auf den Wagen zukommt und dann direkt neben der Fahrertür stehen bleibt. Verdammt. Mit einer Geste bittet er mich darum, das Fenster runterzufahren.
Als ich den Knopf drücke und die Scheibe sich absenkt, hält er mir sein Telefon hin. «Ihr Vater möchte Sie sprechen, Ms. Hayden.»
Verdammt, verdammt, verdammt. Ich schließe die Augen und schlage mit dem Hinterkopf gegen die Kopfstütze. Einmal, zweimal. Dann nehme ich das Handy ans Ohr. «Dad?»
«Ich werde dich nicht überzeugen können, diesen jungen Mann aufzugeben, oder?»
Für einen Moment blitzt das alte Gefühl wieder in mir auf. Dad und ich gegen den Rest der Welt. Ich habe einen Kloß im Hals, den ich nicht runterschlucken kann. Weil ich wünschte, es wäre alles wie früher, aber das ist vorbei. Für immer. «Nein.»
«Das habe ich mir gedacht.» Er atmet geräuschvoll aus. Und die sekundenlange Stille danach sagt mir so viel mehr. Sie sagt ‹Ich liebe dich› und sie sagt ‹Ich will nur, dass du glücklich bist›. Aber Dad kann einfach nicht aus seiner Haut. Er kann nicht aufgeben. Nicht seine Ziele, nicht dass, wofür er die letzten zwanzig Jahre gearbeitet hat.
«Ich verstehe dich, Abbi. Ich mag David auch, mochte ihn von Anfang an. Wahrscheinlich war noch nie jemand so unfreundlich und abweisend zu mir wie er.» Er lacht bitter auf. «Und ich habe eben ein paar sehr harte Dinge zu ihm gesagt, die ich … bereue.»
Oh, Dad.
«Aber egal, wie sehr ich es bereue, ich würde wahrscheinlich genau dasselbe wieder sagen. Auch wenn es falsch ist.»
Es klingt unnachgiebig, aber vollkommen ehrlich, und dafür muss ich ihn bewundern, weil er nicht versucht, sein Verhalten schönzureden oder mich davon zu überzeugen, meine Meinung zu ändern.
«Versprichst du mir, dass du mich anrufst, wenn du Hilfe brauchst?»
«Ja.» In meinem Brustkorb breitet sich ein kleiner Funke Wärme aus. «Aber ich bin okay, Dad, ich komme schon zurecht.» Meine Hände zittern, sind völlig verschwitzt, und ich muss das Handy mit beiden festhalten, damit es mir nicht runterfällt.
«Pass auf dich auf, Abbi.»
Ich gebe dem Mann sein Telefon zurück und warte, bis er seine Anweisungen entgegengenommen hat. Das Tor gleitet zur Seite, und mein Blick verschwimmt, als ich losfahre.
33. Kapitel
David
Ich hätte den Brandy von Hayden annehmen sollen, am besten die ganze Flasche. Vielleicht hätte sich damit der Schmerz betäuben lassen, von dem ich mir sicher bin, dass er für den Rest meines Lebens meinen Brustkorb abfackeln wird.
Seit zwei Stunden trainiere ich mit Noah im Park und habe dabei nicht mal für eine Sekunde an etwas anderes gedacht. Ich hatte gehofft, es hilft, weil es mir sonst immer etwas bringt, mich körperlich auszupowern. Aber diesmal nicht. Ich hätte nicht fahren sollen. Ich wollte es nicht, nicht ohne sie. Aber wie schwachsinnig wäre es gewesen, Abbi zu fragen, ob sie mit mir kommt? Ich weiß nicht mal, wie ich selbst zurechtkommen soll, ohne die Kohle, die ich bei Hayden verdient hätte. Was habe ich ihr da schon zu bieten?
Zum hundertsten Mal checke ich mein Handy, aber Abbi hat sich nicht gemeldet. Vielleicht hat sie das Origami nicht gefunden. Vielleicht ist jetzt sowieso alles aus. Keine Ahnung, was sie denkt. Ob sie ihrem Vater glaubt, was auch immer er ihr erzählt. Er kann sehr überzeugend sein. Ich habe selbst für einen kurzen Moment geglaubt, dass ihn Moms Tod getroffen hat. Dass es ihm leidtut und er Jane helfen will. Aber das ist natürlich Blödsinn. Das Einzige, was er bereit ist, für Jane zu tun, hat mit Geld zu tun. Aber es geht nicht um Geld. Es geht um Familie. Es geht darum, nachts aufzustehen, weil Jane sich übergeben muss, oder alles stehen und liegen zu lassen, weil sie von einer Party abgeholt werden will. Um tausend kleine Sachen, die man für jemand anderes erledigt, die Termine, die man sich abspeichert. Aber vor allem geht es um die Umarmung, die man bekommt, weil man einen Kuchen für die Schule gebacken hat, damit Jane nicht die Einzige ist, die nie was mitbringt. Od
er weil man sich noch ein Youtube-Video reingezogen hat, um zu wissen, wie man diesen Riss in ihrer Lieblingsjacke zusammennäht.
Und das will Hayden nicht. Nicht mit Jane.
«Steck dein verdammtes Handy weg!», sagt Noah keuchend und reißt mich damit aus meinen zermürbenden Gedanken.
Ich werfe das Telefon zurück in meinen Rucksack und ziehe mich wortlos an der verdammten Stange hoch, weil ich mich immer noch kein bisschen abreagiert habe. Mit beiden Händen. Mit einer Hand. Verdammt, wenn es möglich wäre, würde ich mich auch mit den Zähnen hochziehen, so angespannt bin ich. Ich mache so lange weiter, bis jeder Scheißmuskel in meinem Körper brennt und Noah mit einem Ächzen seine Stange loslässt und die Arme ausschüttelt. «Du machst mich fertig. Ich krieg gleich einen Krampf.»
Ein letztes Mal ziehe ich mich hoch und schwinge mich dann unter der Stange durch. Lasse los, drehe mich in der Luft um die eigene Achse und schwinge in die andere Richtung zurück. Doch bei der nächsten Drehung bekomme ich die Stange nicht richtig zu packen und rutsche ab. Fuck, anstatt auf den Füßen zu landen, knalle ich mit voller Wucht auf den Boden.
«Alles okay?» Noah hält mir eine Hand hin und zieht mich hoch.
Hölle, nein. Nichts ist okay. Mein Hintern schmerzt, aber mein verdammtes Herz schmerzt noch viel mehr. Ich betrachte meine Hand. Die Hornhaut auf meiner Handfläche ist eingerissen, und es blutet. Das kommt davon, wenn man es übertreibt.
«Fuck, sieht gar nicht gut aus. Hast du Verbandszeug mit?»
«In meinem Rucksack.»
Noah bückt sich und kramt in meiner Tasche, dann klebt er mir ein Pflaster auf die Stelle.
Wenn das nur mein einziges Problem wäre. Das Geld für mein Studium kriege ich niemals zusammen, nachdem ich meinen Job verloren habe. Das Erste, was ich deshalb gemacht habe, war, bei Kadence zu Kreuze zu kriechen. Vor ein paar Stunden, als ich mich halbwegs wieder unter Kontrolle hatte, habe ich sie angerufen und sie gefragt, ob sie mich in diesem Monat noch einteilen kann. Völlig egal, für welche Station oder welchen Dienst, ich nehme alles. Sie hat nicht nachgefragt, nur einmal laut geatmet und dann ein rauchiges Okay von sich gegeben. Sie wird sehen, was sie für mich tun kann. Ohne Janes Job im Diner hätten wir nicht mal Geld fürs Essen, und bis der verdammte Emergency Service die erste Mahnung rausschickt, kann es auch nicht mehr lang dauern.
Noah klopft sich den Rest Talkum von den Händen und zieht dann seine Trinkflasche mit den Zähnen auf. «Sehen wir uns nachher im Diner? Ich treffe mich mit Aubree dort zum Essen, und Jane arbeitet heute auch, oder?»
«Ich muss heute Abend mit ihr reden. Und ich kann nicht vorher im Diner sitzen und so tun, als wäre alles in Ordnung, wenn … Es wird ihr den Boden unter den Füßen wegziehen und … Ich kann den Gedanken nicht ertragen, ihr so weh zu tun.»
«Fuck, ich möchte echt nicht in deiner Haut stecken.»
Ich möchte verdammt noch mal auch nicht in meiner Haut stecken. «Danke, genau das habe ich jetzt gebraucht.»
Noah verzieht das Gesicht. «Sorry, Mann, aber du weißt, wie ich das meine. Was ist denn mit Hayden? Kriegst du deine Kohle für den Job bei ihm denn wenigstens anteilmäßig?»
Ich lache auf. «Ich habe seinen Vertrag gebrochen. Ich kann froh sein, wenn er mich nicht verklagt. Außerdem kann man das auch nicht wirklich Arbeit nennen. Abbi und ich haben ein bisschen Sport zusammen gemacht und waren schwimmen. War wie Urlaub.»
«Ah, ja. Wie Urlaub, ist klar.» Noah nickt. «Bist du das eigentlich selbst, der dieses Zeug da redet, oder ist das der Scheißroboter, der deinen Körper übernommen hat, nachdem dir heute Morgen das Herz rausgerissen wurde?»
Darauf kann ich ihm nicht antworten, weil es verdammt noch mal stimmt. Mir wurde das Herz rausgerissen. Von Hayden. Und inzwischen glaube ich fast selbst, was er gesagt hat. Dass Abbi keine echten Gefühle für mich haben kann. Dass sie sich das nur eingebildet hat, weil wir verdammt viel Zeit zusammen verbracht haben und ja, weil ich sie auch verdammt oft angefasst habe.
Wir waren schwimmen. Wie hohl sich das anhört. Und wie hohl sich das erst anfühlt. Mit Abbi zusammen in diesem Pool zu stehen, sie zu küssen, unter den blinden Augen dieser Statue und eingerahmt von einer Hecke, als wären wir in einer komplett anderen Welt … Das waren womöglich die schönsten Stunden meines Lebens. Nein, wenn ich länger darüber nachdenke, bin ich mir sogar absolut sicher, dass ich nie in meinem Leben etwas Besseres erlebt habe.
Ist es masochistisch, mir das gerade wieder auszumalen? So was von. Kann ich damit aufhören? Wahrscheinlich niemals. Ich ziehe noch einmal das Handy aus dem Rucksack und checke meine Nachrichten. Nichts. Ich überlege echt, ob ich bei den Haydens anrufen soll. Aber bei meinem Glück habe ich wahrscheinlich nicht Lorraine, sondern direkt Abbis Mutter in der Leitung. Keine gute Idee. Ich gebe Noah trotzdem ein Zeichen, dass ich kurz telefonieren muss, nehme das Handy ans Ohr und wähle die Nummer vom Diner, um Jane zu fragen, ob ich sie nachher abholen soll. Ich könnte zu Hause irgendwas aus Resten für uns kochen und dann … ihre Welt zerstören. Großartige Aussicht.
Es klingelt eine halbe Ewigkeit, bis endlich abgenommen wird, und dann ist es nicht meine Schwester, sondern Chase. Als ich nach Jane frage, stößt er ein genervtes Schnauben aus. «Jane ist nicht da. Sie hat sich für heute krankgemeldet.»
«Was?»
«Hat mir eine Nachricht geschrieben und abgesagt. Du kannst ihr ausrichten, sie soll sich heute unbedingt noch bei mir melden. Bei mir brennt echt die Hütte. Ich muss wissen, ob sie morgen wiederkommt, damit ich mich notfalls um Ersatz kümmern kann.»
Noah sieht mich fragend an. Ich runzle die Stirn und hebe die Schultern an. «Ich richte es ihr aus. Aber Chase …?», füge ich schnell hinzu, als er schon auflegen will. «Falls Jane immer noch krank sein sollte, kann ich für sie einspringen.»
«Kann ich mich darauf verlassen?»
«Einhundert Prozent.»
«Geht in Ordnung. Dann bestell ihr gute Besserung.» Er legt auf.
Für einen Augenblick starre ich den Hörer an. Fuck, wieso hat Jane mich nicht angerufen? Sofort mache ich mir Sorgen, weil zig Möglichkeiten durch meinen Kopf rasen. Hoffentlich ist es nur eine Scheißerkältung. Ganz bestimmt ist es das, aber das schlechte Gewissen bläht sich sofort in mir auf. Ich war nicht da, ich habe sie allein gelassen. Wenn ihr Immunsystem im Keller ist, dann könnte das auch daran liegen, dass ihre Blutwerte … Stopp! Ich zwinge diese Gedanken mit Gewalt zurück und wähle sofort Janes Nummer. Es klingelt keine dreimal, dann werde ich weggedrückt.
«Was ist los?» Noah stopft sein Zeug in seinen Rucksack und zieht den Reißverschluss zu.
Scheiße. «Jane hat mich weggedrückt.»
«Vielleicht ist sie gerade beschäftigt.»
Ja, vielleicht. Vielleicht ist aber auch etwas ganz und gar nicht in Ordnung. «Das hat sie noch nie gemacht. Ich muss sofort nach Hause.»
«Dann los.»
Wir schultern unsere Rucksäcke und laufen gemeinsam zum Parkplatz auf dem Klinikgelände, wo ich meinen und Noah den Wagen seines Dads geparkt hat, mit dem er immer unterwegs ist.
«Meld dich bei mir, wenn was nicht in Ordnung ist. Und sag verdammt noch mal nicht einfach nur ja, sondern mach es auch, kapiert?»
Ich nicke und springe dann ins Auto, wo ich nur noch mein Hörgerät aus der Mittelkonsole krame, bevor ich mit einem lauten Röhren anfahre.
***
«Jane?» Ich lasse die Haustür hinter mir ins Schloss fallen, und nachdem ich mich vergewissert habe, dass ihre Schuhe im Flur stehen, laufe ich direkt zu ihrem Zimmer. «Es tut mir leid, dass ich mich gestern nicht mehr …» Die Tür steht offen, aber Jane ist nicht da. Und dann fängt mein Puls an zu jagen, weil unter dem Schlitz von Moms Zimmertür ein schmaler Lichtstreifen herauskriecht.
Ich klopfe. Gott, ich weiß nicht mal, warum ich das tue. Zumal ich nicht auf eine Antwort warte, sondern die Tür direkt aufstoße. Die Jalousien sind heruntergelassen, und die Nachttischlampe brennt. Jane sitzt auf Moms Bett, die Haare stehen ihr zerzaust vom Kopf ab, und ihre Augen sind rot und verquollen. «Bist du krank? Ich habe mit Chase telefoniert, weil ich dich abholen �
��» Erst jetzt nehme ich die Papiere wahr, die sich überall um sie herum ausbreiten. Der Ordner, der aufgeschlagen auf dem Bett liegt. Moms Ordner. Sie muss seit Stunden darin gelesen haben, denn der Inhalt verteilt sich über dem gesamten Bett. Sie hat Moms Unterlagen gefunden. Scheiße.
Scheiße, scheiße, scheiße.
Gerade nimmt sie den verdammten Vertrag vom Bett auf. Haydens Vertrag mit der Abfindung und Verschwiegenheitsklausel. Ich erkenne ihn sofort am Logo der Hayden Paper Group, und mir bricht der Schweiß aus, weil ich einfach nicht weiß, was ich jetzt sagen soll. «Jane, ich …»
«Das ist also mein Vater.» Das Papier zittert in ihren Händen, und sie ist so blass, dass ihr Gesicht fast durchsichtig scheint. «William Hayden.» Sie wiederholt den Namen noch einmal, als horche sie auf den Klang, als würde der ganze Mist dadurch irgendwie verständlicher werden.
Hölle, ich bekomme die Zähne kaum auseinander. «Ja.» Ich stehe immer noch im Türrahmen, und nun zwinge ich mich, einen Schritt vor den anderen zu setzen.
«Mom hatte eine Affäre mit William Hayden.» Sie leckt sich über die trockenen Lippen, während ich wie ein Idiot zu ihr stolpere und nicht weiß, was ich sagen soll.
Schließlich bringe ich doch etwas heraus. «Ein Jahr lang. So lange hat das zwischen den beiden angehalten.»
«Wie lange weißt du es schon?»
Das ist die Preisfrage, die, vor der ich am meisten Angst hatte. Weil meine Antwort Jane noch mehr schockieren, verletzen, wütend machen wird, das volle Programm, und ich kann nichts mehr daran ändern. «Seit ich Moms Unterlagen ordnen musste. Seit die ersten Rechnungen eingetrudelt sind und ich die bescheuerte Hoffnung hatte, irgendwas zu finden, was das finanzielle Chaos beseitigen könnte. Ich wusste nicht, wie ich …»