by Kiefer, Lena
»Das hast du schon einmal gedacht, Luc.«
»Ja, und ich habe dafür bezahlt, oder nicht?«, fragte Lucien und klang aufgebracht. »Wir werden nicht –«
Den Rest hörte ich nicht mehr. Einer meiner Bewacher hatte bemerkt, dass ich lauschte, und ging zur Tür. Aber da kamen Imogen und Lucien bereits heraus. Im hellen Licht des Flures wirkte er völlig anders als noch vor zehn Minuten in dem abgedunkelten Raum. Die Wut hatte sich aus seinem Gesicht verzogen und er sah jetzt erschöpft und blass aus. Mein Magen machte eine schmerzhafte Drehung. Aber bevor ich seinem Blick begegnen konnte, schloss ich die Augen. Erst als Imogen und er weg waren, hob ich wieder den Kopf.
»Komm mit.« Ein Gardist packte mich am Arm.
Ich schluckte den Kloß in meinem Hals herunter und ließ mich mitziehen.
Unser Ziel war ein medizinisches Labor in einem anderen Stockwerk der Festung. Man nahm mir meine Fesseln ab und schnallte mich mit Manschetten an einer Liege fest. Die überprüften sie zweimal, aber ich dachte ohnehin nicht an Flucht. Ich hatte keinen Plan, wusste nicht mal, ob ich einen machen wollte. Das Angebot war okay – mein Leben und die Sicherheit meiner Familie gegen die OmnI. Ich würde Knox durch das Clearing vergessen, aber dafür auch Lucien. Diese Aussicht war beinahe eine Erleichterung.
»Wir werden dir jetzt InterLinks und ein neuronales Implantat einsetzen«, informierte mich die ruhige Stimme des Weißkittels neben der Liege.
»Wozu brauche ich ein Implantat?«, fragte ich. »Nur wegen des InstantClear?« Den Namen hatte ich mir lieber direkt eingeprägt.
»Nebenbei auch das, aber primär gewährleistet es die Verbindung zu dir.« Phoenix trat in mein Blickfeld. »Wegen der Abschirmung der Insel brauchen wir jemanden, der eine Signalbrücke herstellt, über die wir dann auf einer verdeckten Frequenz Zugriff auf den Standort haben – zumindest innerhalb des Radius, in dem du dich bewegst. Das Implantat fungiert als diese Brücke. So können wir dort mithören und -sehen.«
»Sie wissen aber doch, dass normale InterLinks bei mir früher oder später den Geist aufgeben?« Ein Auslösen des Clearing-Serums wollte ich nicht riskieren.
»Natürlich, du hast uns schließlich alles über deinen Gen-Defekt verraten, als du in der Haft um dein HeadLock gebettelt hast. Aber keine Sorge, es ist eine sehr robuste Version. Die Links und das Implantat werden dich schon aushalten.«
»Und mich notfalls ausschalten«, murmelte ich.
»Ja, auch das.«
»Das war Ihre Idee, oder? Dieser ganze Deal?«
»Natürlich«, erwiderte er gelassen. »Ich sagte doch, ich überlasse die Entscheidungen nicht mehr anderen.«
»Man muss Sie ja sehr enttäuscht haben.«
»Enttäuscht? Enttäuscht ist man von einem Kind, das mit einer schlechten Zensur nach Hause kommt. Ich bin außer mir vor Wut.« Phoenix beugte sich über mich, und sein Blick war so bohrend, dass ich die Luft anhielt. »Ich toleriere keine Fehler bei meinen Leuten, aber der schlimmste Fehler von allen ist Schwäche. Eine Schwäche meines ganzen Teams, für die du verantwortlich bist, Ophelia. Ich habe keine Ahnung, wie du das geschafft hast, wo doch dein optimiertes Gehirn dein einziger Trumpf ist. Aber ich werde es schon noch herausfinden. Und wenn nicht … nun, dann werde ich deinen Tod keine Sekunde bedauern.« Er trat von der Liege weg und gab dem Weißkittel einen Wink. »Fangen Sie an.«
3
Zwei Stunden später kam ich mir vor wie ein Android. Jahrelang hatte ich mich danach gesehnt, wieder ein Leben mit InterLinks zu führen, aber jetzt fühlten sie sich an wie Fremdkörper. Das Neuroimplantat saß an der Schläfe, verborgen unter meiner Haut, verdeckt durch den Haaransatz. Die EyeLinks hatte man wie in früheren Zeiten auf die Netzhaut gedampft, meine EarLinks waren hinter den Ohren eingesetzt worden. Sie wurden kalibriert, Testsequenzen flackerten auf und verschwanden wieder, unzählige Buchstaben, Töne und Bilder. Als ich kurz davor war, mich zu übergeben, hörte es auf.
Phoenix gab den Befehl, mich loszuschnallen. Ich richtete mich auf und rieb meine Handgelenke. Mir war schwindelig.
»Du hast einen neuen WrInk, den man in den Oberarm eingesetzt hat statt in dein Handgelenk.« Phoenix deutete auf die Stelle. »Er ist durch gängige Systeme nicht aufspürbar und kommuniziert anders als gewöhnliche WrInks, nicht mit normalen Geräten, sondern nur mit deinem Implantat. Darüber können wir alles sehen, was du siehst, und alles hören, was du hörst. Wir überwachen deine Vitalwerte wie Puls, Blutdruck und Stresspegel. Und denk gar nicht erst daran, den WrInk hacken zu wollen. Das System ist gegen Manipulationen geschützt und löst in einem solchen Fall das InstantClear aus.«
Ich ahnte, dass ein Teil von ihm bloß auf diesen Moment wartete.
»Wir werden mit dir nur im Notfall über Audio kommunizieren«, sprach Phoenix weiter. »Die meisten Ansagen bekommst du über die EyeLinks. Niemand darf merken, dass du welche trägst, deswegen musst du deine Augen unter Kontrolle halten und darfst nur mit uns sprechen, wenn du allein bist. Wir werden die Kommunikation auf ein Mindestmaß beschränken, sollten andere Menschen in deiner Nähe sein, aber wir können sie nicht vermeiden.« Er verschränkte die Arme. »Alles kommt auf dein Verhalten an, du musst so sein, wie diese Leute es von dir erwarten. Sie dürfen keinen Zweifel daran haben, dass du ReVerse gegenüber absolut loyal bist.«
Ich schnaubte. Er musterte mich.
»Deine Familie wird kaum erfreut sein, dass du diesen Auftrag so wenig ernst nimmst.«
»Ich nehme ihn ernst«, sagte ich. »Aber niemand ist so perfekt, dass er das alles auf einmal hinbekommt.«
»Ein Schakal hat so perfekt zu sein«, antwortete Phoenix ungerührt. »Außerdem wollen wir nicht vergessen, dass dir ein solcher Auftritt bereits gelungen ist.«
Ich hob eine Augenbraue. »Ein Auftritt vor Menschen, die von Anfang an wussten, wer ich bin und was mein Plan ist.«
»Ach ja?« Er starrte mich abfällig an. »Ich hatte recht: Du wirst wirklich gnadenlos überschätzt.«
»Was –«
»Genug davon. Du hast jedes Recht verloren, Fragen zu stellen.« Phoenix nahm ein Pad zur Hand. »Deine Verhaftung ist 23 Tage her. Man braucht zu Fuß etwa 14 Tage von Maraisville bis zur Basis von ReVerse. Selbst wenn du behauptest, dich erst einmal irgendwo verkrochen zu haben, bleibt nicht viel Zeit, dich in Position zu bringen.«
Ich wurde nicht gefesselt, als man mich in den nächsten Raum brachte. Stattdessen legte man mir eine Sedativum-Manschette um, die flexibel war und sich um meinen Unterarm festzog. Der Weißkittel, der sie mir anlegte, sprach von einer Sicherheitsvorkehrung und dass ich keine hektischen Bewegungen machen sollte. Ich nickte nur.
Nebenan wartete Raleida Jones, die königliche Stylistin. Sie stand neben einem Tisch, auf dem ein unförmiger Haufen schwarzer Kleidung lag. Ich grüßte Raleida, aber sie hatte nicht mehr als ein nüchternes Nicken für mich übrig.
»Das sind die Sachen, die du an dem Abend getragen hast, als …« Sie ließ das Ende des Satzes in der Luft hängen. »Ich habe alles so modifiziert, dass es nach einem zweiwöchigen Marsch durch die Wildnis aussieht.« Sie hielt mir den Haufen hin und deutete auf einen Paravent. Ich nahm die Klamotten und zog mich dahinter um.
Eigentlich war die Einsatzkleidung der Schakale sehr angenehm zu tragen – anschmiegsam und weich, dabei trotzdem robust. Aber jetzt hatte man eine Menge Dreck auf dem Material verteilt und der Stoff war steif und kratzte auf der Haut. Außerdem stanken die Sachen wie Kleidung, die jemand drei Wochen nicht ausgezogen hatte. Als ich wieder hinter dem Paravent hervorkam, war ich nicht nur ein Android. Ich war ein Android, der sich als Penner verkleidet hatte.
Raleida setzte mich auf einen Stuhl und bearbeitete meine Haare. Sie waren auch vorher schon durch die Gefangenschaft verfilzt gewesen, aber nach Raleidas Behandlung sahen sie aus, als hätte ich sie ewig nicht gewaschen. Die hellbraunen Strähnen waren strohig und stumpf, dazu waren kleine Zweige und Schmutz in einen groben Zopf hineingewebt, der wirkte, als hätte ich ihn ohne Spiegel und Kamm geflochten. Meine Kopfhaut juckte unangeneh
m und ich sehnte mich mehr denn je nach einer Dusche. Trotzdem bedankte ich mich.
Raleida musterte mich kühl. »Viel Erfolg.«
Sie ging und ich wurde in den Raum mit der Liege zurückgebracht. Phoenix wartete bereits dort. Er unterzog mich einer Musterung, dann gab er mir einen kleinen Becher.
»Trink das.«
Ich stellte keine Fragen und gehorchte. Mit einem Schluck kippte ich die dunkelgrüne Flüssigkeit in meinen Rachen.
Sofort bereute ich es. Das Gebräu verätzte meinen Mund und die Speiseröhre, bevor es meinen Magen in Brand steckte. Ich hustete und würgte, jemand drückte mir einen Eimer in die Hand, keine Sekunde zu spät. Es schien Stunden zu dauern, bis das Würgen aufhörte. Die Übelkeit blieb. Erschöpft sank ich auf der Liege zusammen. Phoenix’ Blick wirkte zufrieden. Es schien ihn zu freuen, dass ich mir die Seele aus dem Leib gekotzt hatte.
»Was zur Hölle war das?«, keuchte ich.
»Wenn du zwei Wochen durch den italopäischen Raum geirrt bist, wirst du kaum viel Nahrung oder frisches Wasser gefunden haben.« Er zeigte zum ersten Mal ein echtes und sehr beängstigendes Lächeln. »Das Mittel simuliert den Zustand von Unterernährung, Dehydration und der Infektion mit einigen Keimen. Es ist nach meinen Vorgaben entwickelt worden.«
»Herzlichen Glückwunsch«, murmelte ich. Mein Körper meldete Großalarm: Ich fühlte mich krank und schwach, hatte wahnsinnigen Hunger und Durst. Als ich nach dem Glas auf dem Tisch griff, stand Phoenix auf.
»Das würde ich lassen.« Er stellte das Wasser außer Reichweite. »Alles, was du in den nächsten drei Stunden zu dir nimmst, kommt postwendend wieder heraus.«
Großartig. »Hätten sie mich nicht einfach umbringen können?«, stieß ich hervor. Das wäre vermutlich weniger ekelhaft gewesen. Und schneller vorbei.
Er sah mich an, die Augen kalt wie Stahl. »Sei lieber vorsichtig mit deinen Wünschen, Ophelia. Du weißt nie, ob sie nicht doch noch in Erfüllung gehen.«
Für einige Stunden brachte man mich zurück in meine Zelle, wo sich die Minuten dehnten und meine Gedanken um die Frage kreisten, ob ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Es war, als würde sich alles wiederholen: Erneut musste ich in ein unbekanntes Terrain eindringen und den Menschen dort vormachen, ich wäre eine von ihnen. Schon wieder musste ich taktieren, lügen und auf der Hut sein. Und es war egal, ob ich die Kraft dafür hatte. Ich musste es tun.
Dufort trat an die Scheibe meiner Zelle. »Es geht los.«
Ich stand auf und ging zur Türöffnung. Da ich immer noch die Sedativum-Manschette trug, gab es keine Fesseln, als ich Dufort zum Ausgang folgte.
Vor den Toren des Gefängnisgebäudes röhrten die Aggregate einer FlightUnit. Dufort begleitete mich, als ich einstieg. Außer uns waren zwei Soldaten an Bord, die mich jedoch nicht beachteten. Ich setzte mich auf einen der hinteren Plätze und schnallte mich an. Dufort ließ sich mir gegenüber nieder, nahm ein Pad hervor und schwieg.
Wir starteten. Durch das Fenster neben meinem Sitz konnte ich Maraisville sehen, das immer kleiner wurde. Ich erkannte die Festung und die Altstadt, meinen Wohnbezirk und den See. Am Hang außerhalb lag das Castello della paura, eine alte Burgruine mit einer tragischen Vergangenheit – vor allem für mich. Als wir darüber hinwegflogen, versetzte es meinem leeren Magen einen Stich.
»Bekomme ich kein Briefing?«, fragte ich, als wir bereits eine halbe Stunde geflogen waren. Dufort sah von seinem Pad auf.
»Warum sollte ich dich briefen? Du kennst ReVerse besser als ich. Außerdem halten wir ständigen Kontakt zu dir.« Er vertiefte sich erneut in seine Lektüre.
Ein Teil von mir wollte etwas sagen, sich bei ihm entschuldigen, weil er meinetwegen degradiert worden war. Es tat mir leid, dass meine Tat ihn zu Phoenix’ Fußabtreter gemacht hatte. Aber Dufort war es auch gewesen, der alles ins Rollen gebracht hatte – meine Rekrutierung und die Sache mit Lucien. Also sagte ich nichts.
Wir flogen Richtung Süden und ich sah hinunter zu den Dörfern und Landschaften, die an mir vorbeihuschten, dem dunklen Teppich der Wälder, den sandigen Feldern dazwischen und schließlich einer Hügelkette. Als wir uns dem Meer näherten, zog Dufort einen silbernen Gegenstand hervor. Es war die kleinere Version eines SubDerm-Injektors. Er drehte ihn in der Hand.
»Das wird dich die nächsten Tage über Wasser halten«, sagte Dufort. »Es sind fünf Einzeldosen. Versteck es irgendwo am Körper, wo man es bei einer Durchsuchung nicht findet. Du hast keine Ahnung, ob man dir von der ersten Sekunde an vertrauen wird.« Er sah mich an. »Wir werden dir einen neuen Injektor zukommen lassen, wenn es sicher ist. Wir deponieren ihn auf dem Festland, dann kannst du ihn unter einem Vorwand abholen.«
Ich schob den kleinen Zylinder mit dem Serum, das mein übersensibles Gehirn in Schach hielt, in eine versteckte Tasche an der Innenseite meines Oberarms. »Troy weiß von dem Medikament und seiner Wirkung. Wie soll ich ihm weismachen, ich hätte drei Wochen ohne Dosis überlebt?«
»Dafür bin ich nicht zuständig, Ophelia. Das ist dein Problem.« Dufort wich meinem Blick aus. Ich holte Luft.
»Hör zu –«
»Nein«, sagte er schnell. »Ich will kein Wort darüber hören. Du und ich, wir haben beide Fehler gemacht, die wir für den Rest unseres Lebens bereuen sollten. Aber das ist auch alles, was wir gemeinsam haben.«
Obwohl ich fand, dass er daran selbst die Schuld trug, fühlte ich mich schlecht. »Das alles hätte anders laufen können, wenn weniger Lügen im Spiel gewesen wären.« Ich sah ihn an.
»Ja, vielleicht«, gab er zurück. »Aber das werden wir wohl nie erfahren.« Dann wandte er sich ab und sah hinaus, bis die FlightUnit landete. »Wir sind da.«
Durch das Fenster sah ich ein Stück sandiges Land, dahinter etwas Wald. Ich schnallte mich los und Dufort nahm mir die Manschette ab. »Du bist einen Tagesmarsch von der Insel entfernt. Wir halten Kontakt mit dir und instruieren dich, in welche Richtung du gehen musst. In fünf Stunden wird es dunkel, bis dahin solltest du dir einen Schlafplatz gesucht haben. Das Gebiet ist unbewohnt, aber trotzdem halten sich eventuell Menschen dort auf. Sei wachsam.«
Meine EyeLinks kalibrierten sich erneut und passten sich der neuen Position an. In einem Feld an der Seite wurde FUNKTIONSTEST 12-14 angezeigt. Dann folgten einige Bilder und Buchstaben ohne Sinn, schließlich verschwand beides. Zurück blieb nur eine Richtungsangabe, die mir sagte, wohin ich gehen musste.
Dufort horchte auf etwas in seinen EarLinks. »Der Test ist abgeschlossen, du kannst dich auf den Weg machen. Denk daran, dein einziges Ziel ist die OmnI. Finde sie und bring sie zurück. Völlig egal, was es kostet.« Die Zugangsrampe der FlightUnit wurde heruntergelassen und Dufort ging mit mir hinaus. Der Boden unter unseren Füßen bestand aus sandigem Lehm, die Fläche war mit bodendeckendem Grün und brusthohen Sträuchern übersät. Es roch schwach nach Meer.
»Bist du bereit?«, fragte mich Dufort. Es erinnerte mich an den Einsatz in der Villa Mare, an eine Zeit, in der noch alles in Ordnung gewesen war.
»Nein«, sagte ich ehrlich.
Zum ersten Mal seit meiner Verhaftung erkannte ich in Duforts Gesicht meinen ehemaligen Ausbilder wieder. »Ich bin sicher, du bekommst das hin.« Er nickte mir zu. »Pass auf dich auf.«
»Du auch«, sagte ich und meinte es ehrlich. Dann atmete ich tief ein, drehte mich um und marschierte los.
Es war ein schöner, sonniger Tag. Jeder andere hätte das warme Wetter sicher genossen, das Zwitschern der Vögel und das entfernte Rauschen des Meeres. Aber für mich war es grässlich. Nach der langen Zeit ohne Tageslicht und irgendwelchem Kontakt zur Außenwelt war die Sonne zu grell, das Meer zu laut, und den verdammten Vögeln hätte ich am liebsten den Schnabel zugehalten. Außerdem fühlte sich meine Kleidung an, als wäre sie aus Schmirgelpapier, und mein Hunger brachte mich fast um. In der FlightUnit hatte ich noch etwas Wasser zu mir genommen, aber mein Körper quälte mich trotzdem mit Schwindel und Schwäche als Folgen des Phoenix-Gebräus. Zum Glück floss durch das Gebiet ein kleiner Fluss. Als ich ihn erreichte, trank ich gierig u
nd hielt dann mein Gesicht in das kühle Wasser. Wäre ich allein gewesen, hätte ich mich bis zum nächsten Morgen nicht mehr geregt.
Allerdings war ich nicht allein. In meinem Kopf gab es nun ein Implantat, das eine Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch Maraisville ermöglichte. Ich wusste nicht, wer mir die Befehle gab, die in unregelmäßigen Abständen vor meinen Augen auftauchten, aber eines war klar: Er oder sie mochte mich nicht. Ein unbarmherziges Geh sofort weiter, du hast nur noch drei Stunden bis Sonnenuntergang trieb mich wieder auf die Beine. Sehnsüchtig sah ich dem fließenden Wasser hinterher, als ich den Hinweisen der EyeLinks folgte.
Es war ein merkwürdiges Gefühl, hier draußen in Freiheit zu sein und trotzdem keine Privatsphäre zu haben. Ich nutzte die Zeit, um mich wieder an die EyeLinks zu gewöhnen und trainierte unauffällige Augenbewegungen, um nicht erkennen zu lassen, dass ich welche trug. Wenn ich bei ReVerse ankam, musste ich vorbereitet sein, damit sie mich nicht enttarnten.
Die Vegetation wandelte sich von Büschen zu Pinien, der Boden wurde steiniger. Ich ging in gemäßigtem Tempo und hielt die Augen offen. Ab und zu begegnete mir ein Fuchs oder ich sah eine Schlange auf dem Boden, aber sonst war die Gegend verlassen. Ich war froh darüber. Wenn mich jemand in dieser Verfassung sah, würde das nur Fragen aufwerfen und Aufmerksamkeit erregen. Auf keines von beidem war ich scharf.
Als es dämmerte, entdeckte ich einige alte Mauern, die zu einer Ruine gehörten. Sie stand auf einem Hügel mit Blick über das tiefblaue Meer und bot sicher einen guten Schlafplatz. Aber da jedes alte Gemäuer mich entweder an Lucien oder an Leopold erinnerte, ging ich weiter. Kurz darauf fand ich eine Stelle, wo die Bäume dicht an dicht standen und mich ein paar Büsche zusätzlich vor neugierigen Beobachtern versteckten. Dort setzte ich mich auf den Boden und lehnte meinen Rücken an einen Stamm. Eine Nachricht tauchte in meinen EyeLinks auf. Status?
»Ich lebe noch«, sagte ich. »Wie man sieht.« Ich bewegte den Kopf von rechts nach links. Meine EyeLinks blendeten etwas ein: Regenwahrscheinlichkeit für die kommende Nacht: 65 Prozent. Voraussichtliche Temperatur: 13–16 Grad. Ich sah nach oben, aber das Blätterdach kam mir stabil genug vor, um einen Regenguss zu überstehen. Da keine weitere Nachricht folgte, schien Maraisville einverstanden zu sein. Vielleicht war es ihnen aber auch schlicht egal.