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Der Himmel wird beben

Page 12

by Kiefer, Lena


  Ich hielt inne. Achill und Leopold waren sich nicht einig gewesen, was den Einbau einer neuen KI ins Haus betraf. Eine XC-404 war das fortschrittlichste System für Hausautomation zur Steuerung der internen Anlagen wie Heizung, Lüftung und Licht gewesen, angepasst an Nutzungsgewohnheiten und Vorlieben der Bewohner. Wenn Achill etwas anderes hatte anschaffen wollen, dann waren die Funktionen dieser neuen KI sicher bahnbrechend gewesen.

  Moment mal. Ich hielt inne. Ein Baby? Leopold hatte ein Kind gehabt? Wer war die Mutter? Waren sie und das Baby bei dem Brand ums Leben gekommen?

  Wir haben nicht mehr viel Zeit, meldete mein Komplize. Ich nickte und nahm mir den nächsten Eintrag vor, dann den darauffolgenden. Der Streit um die KI schien sich fortzusetzen, aber Achill hörte nicht auf seinen Sohn. Einige Wochen vor dem Brand baute er das neue System ein und war hellauf begeistert. Kurz darauf erwähnte er Leopold erneut.

  Endlich habe ich Leo überreden können, uns am Wochenende zu besuchen. So kann er sich selbst davon überzeugen, wie sicher und komfortabel das neue System ist. Wir hoffen, dass er Gee und Lenois mitbringt. Da Luc und Amelie auch da sein werden, wäre das eine schöne Gelegenheit, die ganze Familie an einen Tisch zu bekommen.

  Ich warf einen Blick auf das Datum und rechnete aus, dass an dem besagten Wochenende Achill und seine Frau ums Leben gekommen waren. Es war immer die Rede davon gewesen, dass die beiden allein im Haus gewesen seien, also musste das Treffen geplatzt sein. In Achills Logfiles gab es jedoch keinen Hinweis darauf, dass eines seiner Kinder abgesagt hatte. Stattdessen wiederholte er, wie sehr er sich darauf freue.

  Da die Logfiles von Achill mit diesem Eintrag endeten, legte ich sie beiseite und sah mir die anderen Dateien an. Dabei entdeckte ich eine Nachricht von Exon Costard an Leopold. Zunächst sah es wie ein normales Kondolenzschreiben aus, aber unter den Beteuerungen, wie leid ihm der Tod der Eltern tue, fand sich etwas anderes.

  Ich versichere Ihnen, dass der Prototyp den Ausfall der Brandlöschanlage nicht absichtlich herbeigeführt hat. Auch ist die Funktionsstörung nicht auf die Steuerung der Heizungseinheit zurückzuführen. Es handelt sich um einen Bedienungsfehler, der nicht durch die technische Infrastruktur hervorgerufen wurde.

  Im Ernst? Ich lehnte mich zurück. Costard warf einem Toten vor, sich durch eigene Dummheit umgebracht zu haben? Das war lächerlich. Achill de Marais war ein Gigant auf dem Gebiet der Energietechnologie gewesen. Er hätte jede KI im Schlaf bedient. Mit seinem kleinen Zeh.

  Fast hätte ich jedoch etwas Wesentliches übersehen: Das Wort Brandlöschanlage. Die KI hatte nicht nur einen Zugang zum Heizungssystem gehabt, sondern hätte auch dafür sorgen müssen, dass bei einem Brand das Feuer gelöscht wurde. In diesem Fall hatte sie das nicht getan – war das mit Absicht geschehen? Ich erinnerte mich an den Fall in der Fabrik in Südkorea, aber die Sicherheitsvorkehrungen der Europäer waren doch ungleich höher gewesen. Abgesehen davon gab es keinen Grund für die KI, so etwas zu tun. Achill war total begeistert von ihr gewesen.

  Je mehr ich las, desto verwirrter wurde ich. Und ich hatte nur noch eine Viertelstunde, bis mein Helfer am anderen Ende seine Schicht beenden würde.

  Es ging weiter mit technischen Details des Prototyps, aber die halfen mir nicht weiter. Stattdessen fand ich eine Reihe von Notizen, die dem Inhalt nach von Leopold stammten. Anders als bei seinem Vater waren es kurze, stichwortartige Einträge.

  Ich suchte die Notiz aus der Woche des Brandes heraus.

  Gee und ich mit Lenois am WE zu Eltern. Werde Vorkehr. treffen. Zuletzt mit Vater im Haus darüber gesprochen, fürchte, sie wird uns angreifen. Hoffe, Luc und Amelie werden nicht da sein.

  Worüber hatte er mit seinem Vater gesprochen? Schnell suchte ich die Notizen durch und wurde fündig.

  Vater geraten, KI zu entfernen. Er ist nicht überzeugt, aber gibt Fehlfunkt. zu. Kommt er zur Vernunft?

  Eilig sprang ich zum ersten Datum nach dem Brand. Als ich den Eintrag öffnete, ahnte ich, dass ich etwas Wichtiges gefunden hatte.

  Sie hat es getan. Nachts brach Feuer aus, wurde nicht gelöscht. G. und ich nur entkommen, weil KI nicht am System unseres Wohnbereichs war. Hätte ich sie nur im ganzen Haus blockiert! Mutter und Vater tot, L. schwer verletzt. Er wird es wohl nicht schaffen. Habe C. desw. kontaktiert, aber er hat wenig Hoffnung …

  Tränen stiegen mir in die Augen. Leopold hatte an diesem Abend nicht nur seine Eltern in den Flammen verloren, sondern offenbar sogar sein Kind. Dieser L. musste der von Achill erwähnte Lenois gewesen sein – ein Sohn, wenn ich den ungewöhnlichen Namen richtig deutete. Wie furchtbar musste es sein, das eigene Baby auf diese Weise zu verlieren? Und ausgerechnet durch eine KI?

  Fünf Minuten blieben mir noch, deswegen suchte ich in Windeseile nach medizinischen Berichten, um zu erfahren, ob der Sohn es vielleicht doch geschafft hatte. Viel Hoffnung hatte ich nicht. Leopold war der König von Europa, und von einem Kind hätte man auf jeden Fall gewusst. Aber hätten die Medien andererseits nicht darüber berichtet, wenn ein Kind in den Flammen gestorben wäre? Und warum hatte das Baby in einem Bereich geschlafen, in dem die KI nicht blockiert worden war? Leopold wäre niemals so nachlässig gewesen.

  Ich fand die Todesurkunden seiner Eltern, beide auf das Datum des Brandes ausgestellt. Sonst gab es nichts mehr in den Ordnern. Aber als ich schon aufgeben wollte, tauchte plötzlich ein MedReport in meinen EyeLinks auf. Wo kam der denn her? Ich glaubte nicht, ihn geöffnet zu haben.

  »Hast du …?«, fragte ich meinen Komplizen.

  Lies, war die Antwort.

  Der Report war auf den Dienstag nach dem Brand datiert und führte fürchterliche Verletzungen auf: Von über 80 Prozent verbrannter Körperoberfläche war die Rede, von multiplem Organ­versagen und einer komplett kollabierten Lunge. Irreparable Schäden stand da, letale Verletzungen, Überlebenschance 2 Prozent, Schmerzmittelgabe in kritischer Höhe nicht ausreichend.

  Vollkommen geschockt wurde mir etwas klar: Diese KI hatte mit voller Absicht eine ganze Familie auslöschen wollen, nur weil sie sich ihr in den Weg gestellt hatte. Sie hatte diese Menschen endlose Qualen leiden und den schlimmsten aller Tode sterben lassen. Was würde dann eine OmnI tun, wenn sie die Macht über die Welt bekam? Wozu wäre sie fähig, wenn man ihr die Freiheit gab?

  Meine EyeLinks flackerten. Sterne tanzten vor meinen Augen. »Ich sollte aufhören. Das Implantat überlastet sonst.« Ich musste schleunigst mein HeadLock nehmen, sonst brach ich hier zusammen. Das durfte nicht passieren.

  Gut, dann schalte alles ab und verwische deine Spuren.

  Ich nickte und wollte die Verbindung lösen. Da blieb mein Blick an einem Detail hängen. Es war die Kennung, die sehr klein oben auf dem medizinischen Bericht stand. LM-15894-3047. Mir blieb die Luft weg.

  Ich hatte geglaubt, dass Leopolds Sohn der hoffnungslose Patient gewesen war. Aber diese ID war nicht seine – das wusste ich, weil ich sie erkannte. Mit HeadLock hätte ich mich an dieses belanglose Detail aus irgendeinem Gespräch von vor einigen Monaten sicher nicht mehr erinnert. Jetzt tat ich es. Und deswegen wusste ich, dass es eine alte Kennung war, bevor man den Angehörigen der königlichen Familie nach der Abkehr neue IDs gegeben hatte. LM-15894-3047 war heute LM-888XX-03.

  In dem MedReport ging es nicht um Lenois. Es ging um ­Lucien.

  Meinem angeschlagenen Kopf gab das den Rest. Schwärze waberte in mein Blickfeld, ich sah Worte, die auftauchten und wieder verschwanden. Verstehst du jetzt?, glaubte ich zu lesen, aber es verschwamm mit den Lichtern zu einer zähen Masse. Mein Kopf schmerzte, als hätte man ihn in einen Schraubstock gespannt. Ich stöhnte auf und presste die Hände an die ­Schläfen.

  Die Schwärze nahm zu. Der Analyzer mit dem Datenträger rutschte aus meiner Hand und fiel scheppernd zu Boden. Ich schaffte es gerade noch, beides mit dem Fuß unter das Regal zu schubsen.

  Dann gab mein Gehirn den Geist auf.

  12

  Der Weg unter meinen Füßen machte eine Kurve und ich beschleunigte das Tempo. Eins, zwei, eins, zwei. Gleichmäßig lief ich vorwärts un
d hielt direkt auf das Meer zu. Als ich am Strand ankam, blieb ich stehen und drehte mich um. Von hier aus wirkte das Hotel wie ein Spielzeughäuschen.

  Ich stützte die Hände auf meine Oberschenkel und wartete, dass ich wieder zu Atem kam. Dass ich überhaupt noch atmen konnte, verdankte ich der Voraussicht von Cohen Phoenix. Ich hatte es nicht gewusst, aber in meinem Implantat steckte nicht nur das InstantClear, sondern auch eine Not-Dosis HeadLock. Als ich in der Zentrale zusammengebrochen war, hatte Maraisville es freigesetzt und mich damit gerettet.

  Mit einem Schädel von der Größe Siziliens hatte ich mich danach in mein Bett geschleppt, um zu schlafen. Am nächsten Tag war ich unter einem Vorwand ans Festland gefahren. In einem kleinen toskanischen Häuschen an der Küste hatte ich von einem medizinischen Team neue InterLinks bekommen, weil die alten vollkommen durchgeschmort gewesen waren. Das lag nun drei Wochen zurück. Der Schock über das, was ich herausgefunden hatte, war aber immer noch so groß wie in jener Nacht.

  Niemand hatte ein Wort darüber verloren, dass ich mir die Daten angesehen hatte. Keine Rüge, kein Tu das nie wieder, nichts. Beim Einsetzen der neuen Links hatte ich die Platten übergeben und seither nichts darüber gehört. Ich hatte keine Ahnung, ob man meinen Alleingang für kein großes Vergehen hielt oder ob schlichtweg niemand davon wusste. Vielleicht hatte mein unbekannter Komplize die Aufnahmen gelöscht.

  Verstehst du jetzt?, war seine letzte Nachricht gewesen. Oh ja. Und wie ich verstand. An diesem Punkt war ich schon einmal gewesen und hatte mich danach in die Irre führen lassen. Aber diesmal würde mich nichts davon abbringen.

  Ich wusste jetzt, dass künstliche Intelligenzen beschließen konnten, sich keine Befehle mehr geben zu lassen. Ich wusste, dass sie in der Lage waren, ihr eigenes Leben über das von Menschen zu stellen. Ich wusste, dass künstliche Intelligenzen eben doch mit voller Absicht töten konnten. Aber vor allem wusste ich, dass ich einen gigantischen Fehler begangen hatte, als ich geglaubt hatte, ich könne der OmnI trauen. An dem Abend, als ich Leopold aufgesucht hatte, war die Menschheit dem Untergang ein Stück näher gekommen. Ich hatte in meinem blinden Zorn und meiner unendlichen Enttäuschung dafür gesorgt, dass die gefährlichste Intelligenz der Welt nun in den falschen Händen war.

  Die OmnI hatte behauptet, dass sie niemandem schaden würde, aber das Gegenteil war der Fall. Natürlich hätte ich mir einreden können, dass sie weiterentwickelter war als ihre Vorgängerin, die man in das Haus von Achill de Marais eingebaut hatte. Aber eigentlich hatte ich immer geahnt, dass der PointOut keine Lüge war. Eigentlich hatte ich gewusst, dass Leopold die Wahrheit sagte. Ich hatte es nur nicht sehen wollen, weil meine verletzten Gefühle das Kommando übernommen hatten. Kurz hatte ich sogar überlegt, ob die OmnI auch in Bezug auf Lucien gelogen hatte. Aber das hatte ich schnell wieder verworfen, eine solche Simulation ohne passendes Ausgangsmaterial zu erschaffen, traute ich ihr in ihrem beschränkten Zustand nicht zu.

  Seit ich die Dateien über den Brand gesehen hatte, suchte ich einen Weg, um meine fatale Entscheidung zu korrigieren. Der Plan, Knox und Jye heil aus der Sache herauszuholen, stand noch. Aber viel wichtiger war, dass ich meinen Fehler mit der OmnI wieder geradebog. Bisher war das jedoch eine sehr schwierige Mission. Troy hatte volle drei Wochen durch Abwesenheit geglänzt, Costard war mir bei seinem seither einzigen Besuch kunstvoll ausgewichen. Auch in den Datenbanken von ReVerse hatte ich nichts Brauchbares gefunden.

  Dazu spukte mir die Sache mit Luciens tödlichen Verbrennungen durch den Kopf. Wie er überlebt hatte, wusste ich nicht. Es gab Verfahren, um Haut zu regenerieren, aber keines davon konnte das bei einer solchen Totalverbrennung leisten. Die ­andere und viel ältere Methode war eine Transplantation, aber die hinterließ Spuren. Ich war Lucien sehr nahe gekommen und hatte nicht eine Narbe gesehen. War er am Ende gar kein Mensch – oder etwa eine andere Person, die nur so tat, als wäre er der Bruder des Königs? Ich konnte niemanden danach fragen. Wer immer mein Komplize gewesen war, hatte sich seither nicht mehr gemeldet.

  Die Uhr in meinen EyeLinks zeigte kurz nach neun an. Ich warf einen letzten Blick zum Meer, dann machte ich mich auf den Weg zurück zum Hotel. In einer halben Stunde begann die Besprechung für den nächsten Einsatz. Um die OmnI in Betrieb zu nehmen, brauchte es eine Art Hochleistungsgenerator, den Maraisville in einem Lager in der Nähe von Genf aufbewahrte. In der kommenden Woche wollten wir ihn holen.

  Der Weg zurück führte bergauf, also war ich ziemlich verschwitzt, als ich im Hotel ankam. Zeit zum Duschen blieb nicht, aber für frische Kleidung und die Begegnung mit einem Handtuch reichte es. Ich zog gerade ein neues Shirt über, da klopfte es an der offenen Tür. Ich fuhr herum. Es war Knox.

  »Hey.« Er lächelte.

  »Hey«, gab ich zurück und suchte nach einem Band für meine Haare. »Ich bin in einer Minute unten.«

  »Kein Stress, deswegen bin ich nicht hier. Ich wollte dich etwas fragen.«

  »Schieß los.«

  »Also … ich dachte, wir könnten uns heute Abend vielleicht treffen.« Er rieb sich etwas verlegen die Stirn.

  »Wir beide? Du meinst ein Date?« Ich grinste.

  »Ist das blöd?« Er sah mich unsicher an. »Wir sind ständig mit den anderen zusammen und hatten noch keinen richtigen Abend für uns. Außerdem bist du heute genau einen Monat hier, also ist es sogar eine Art Jubiläum.«

  »Das ist gar nicht blöd.« Ich lächelte ehrlich. »Es ist eine tolle Idee.«

  »Super.« Knox wirkte erleichtert. »Ich besorge etwas zu essen. Wollen wir an den Strand? So um acht?«

  »Acht ist perfekt.« Ich nickte, und er küsste mich auf die Wange, bevor er ging. Als er weg war, seufzte ich.

  Das zwischen Knox und mir war wie eine endlose Berg- und Talfahrt. Wir hatten Momente, da war es wie früher, mit Kribbeln im Magen und den alten Gefühlen. Aber dann gab es auch Zeiten, da fühlte ich mich fremd neben ihm – als wäre er ein anderer Mensch als der Knox von früher. Das passierte nicht nur, wenn er einen seiner nächtlichen Anfälle hatte, sondern vor allem, wenn mir bewusst wurde, dass wir auf verschiedenen ­Seiten standen.

  Ich hatte vorgefühlt, wie es um seine Überzeugungen stand, aber erkannt, dass es zwecklos war. Knox glaubte an ReVerse und das, was Ferro begonnen hatte. Und ich durfte nicht mit ihm über die OmnI reden, solange ich nicht sagen konnte, woher ich die Infos hatte. Also drehten wir uns in diesem Tanz aus Nähe und Distanz, aus Hoffnung und Enttäuschung, ohne Aussicht auf Besserung. Vielleicht tat es uns gut, einmal etwas ganz Normales zu tun.

  Den Rest des Tages verbrachte ich in der Zentrale, denn der Generator war das fehlende Puzzleteil, um mich endlich in die Nähe der OmnI zu bringen. Seit einer Woche arbeitete ich ununterbrochen an dem Plan, wie wir ihn beschaffen wollten – meistens mit Jyes Unterstützung und ohne jede von den EyeLinks. Maraisville hatte klargemacht, dass man mir nur helfen würde, wenn etwas gewaltig schiefging. Ansonsten war ich auf mich gestellt.

  Als es halb acht wurde, stand ich auf und dehnte meine Schultern. »Schluss für heute. Ich habe noch etwas vor.«

  Jye sah auf. »Das Date mit Knox?«

  »Ja, genau. Wir wollen an den Strand.«

  »Ich weiß. Es war mein Vorschlag. Das Date, nicht der Strand.«

  Überrascht sah ich ihn an. »Du warst das?«

  Er nickte. »Ich sehe mir seit Wochen an, wie ihr umeinander herumschleicht, als würdet ihr einander nicht mehr richtig kennen. Mir ist klar, dass es anders ist als damals. Aber es ist nur schwer zu ertragen, wenn man weiß, wie es früher war.«

  Früher. Wenn ich für jede Erwähnung dieses Wortes eine ­Minute mehr Lebenszeit bekommen hätte, wäre ich längst unsterblich geworden.

  »Früher ist vorbei«, sagte ich. »Für Beziehungen gibt es keinen Rückwärtsgang und etwas Neues braucht Zeit.«

  »Vor allem braucht es Ehrlichkeit.« Jye sah mich aufmerksam an. »Du hast bisher nichts über die Zeit bei den Schakalen erzählt. Vielleicht solltest du mit Knox darüber reden.«

  Ahnte Jye etwas? Es gab einen Grund,
warum ich nie etwas über Maraisville gesagt hatte: Ich wollte nicht, dass man mein Wissen nutzte, um noch mehr Schaden anzurichten. Aber vielleicht sollte ich Knox etwas anderes beichten. Etwas, das mich bei jeder Begegnung mit ihm zutiefst belastete.

  »Ja, vielleicht.« Ich lächelte schief. »Wir sehen uns später.«

  In meinem Zimmer zog ich ein kurzes Sommerkleid an, das ich mir von einem der ReVerse-Mädels geliehen hatte. Es war rot, hatte ein großflächiges Blumenmuster und einen schmalen Gürtel in der Taille, den man zu einer Schleife binden konnte. Eigentlich war es zu mädchenhaft für mich, aber für den Anlass schien es angemessen. Dazu schlüpfte ich in flache Sandalen, die ich mir auf dem Festland besorgt hatte, und schnappte mir eine Jacke, falls es später kalt wurde. Meine Haare ließ ich offen.

  Knox wartete unten an der Treppe mit einer Tasche unter dem Arm. Er trug ein blaues Polohemd zu grauen Shorts.

  »Wow. Du siehst toll aus«, sagte er.

  »Dito.« Ich lächelte. »Gehen wir?«

  »Mit Vergnügen.«

  Wir nahmen nicht den steilen Weg zum Strand hinunter, sondern liefen durch einen kleinen Pinienwald, der sich an den Hang schmiegte. Grillen zirpten, die Luft roch nach Sonne, und obwohl wir den September bereits hinter uns gelassen hatten, war es hier im Süden immer noch warm. Als dann Knox meine Hand nahm, fühlte ich mich tatsächlich wie bei unserem ersten Date – ein wenig aufgeregt, aber auch glücklich.

  Der Strand war leer, und wir suchten uns einen Platz, der durch die Felsen vorm Wind geschützt wurde. Als wir uns setzten, ging gerade die Sonne unter und tauchte alles in kitschiges rotes Licht. Knox öffnete die Tasche und holte ein paar kleine Flaschen und eine Box heraus. Als er sie öffnete, stieg mir ein himmlischer Geruch in die Nase.

  »Du hast Pizza gemacht?« Ich strahlte ihn an.

 

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