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Der Himmel wird beben

Page 21

by Kiefer, Lena


  »Das weiß ich. Aber du hast es getan.« Er deutete zu der Tür, aus der wir gekommen waren. Sein Blick war schwer zu deuten. »Geh jetzt, wir haben keine Zeit.« Er blinzelte, um die Über­wachung durch Maraisville wieder zu aktivieren.

  Am liebsten hätte ich vor Frust über diese ganze Situation geschrien. Seit ich wusste, dass Lucien mich nicht angelogen hatte, wollte ich nichts lieber, als mit ihm reden. Über die OmnI, über uns, über das Attentat und alles andere. Aber das konnte ich nicht. Also folgte ich seinem Befehl und ging.

  Ich fand Knox im Salon, wo er gemeinsam mit Jye verschiedene Karten auf einem Terminal sichtete. Sie waren allein.

  »Das war also dein Ernst«, sagte ich. »Du willst noch heute zurückschlagen.«

  »So ist es. Wir können das auf keinen Fall hinnehmen.« Knox’ Gesicht war erschöpft, aber seine Augen leuchteten zornig.

  »Nein, können wir nicht. Aber ein Angriff ohne Planung und Konzept? Das ist Wahnsinn.« Ich sprach extra ruhig, um ihn nicht zu reizen.

  Vergeblich.

  »Warst du in den letzten Stunden hier?!« Knox’ Wut explodierte. »Der König hat gerade versucht, unsere Insel in Schutt und Asche zu legen!«

  »Das wissen wir überhaupt nicht!«, rief ich. »Wir wissen, dass es einen Angriff gegeben hat, das ist alles. Wir wissen nicht, wer es war!«

  »Komm schon, Phee.« Jye sah mich an. »Es hat nicht jeder eine FlightUnit im Vorgarten stehen.«

  »Nein, aber der König ist nicht der Einzige, der eine hat«, sagte ich. »Costard besitzt auch welche. Ich bin heute mit einer davon zur OmnI geflogen.«

  »Warum sollte Costard uns angreifen? Er kämpft für uns.« Jye sprach in normaler Lautstärke, aber seine stoische Art war nicht besser als Knox’ Wut.

  »Er vielleicht. Aber die OmnI nicht.« Ich wandte mich an Knox. »Wir haben doch erst vor ein paar Stunden darüber gesprochen, dass sie ihre eigenen Pläne verfolgt. Sie manipuliert dich, sie manipuliert euch alle! Warum siehst du das nicht?«

  »Man hat uns angegriffen, Ophelia!«, fuhr er mich an. »Was soll ich deiner Ansicht nach tun? Es hinnehmen und auf das nächste Mal warten? Es war Glück, dass nicht mehr passiert ist!«

  »Es war kein Glück, es war Berechnung!« Wie konnten sie nur so blind sein? »Das waren Nanopartikelwaffen, die inner­halb von Sekunden alles hier im Meer versenken könnten. Warum dann nur ein paar Löcher in die Mauer reißen und den Pool zerstören? Die Zielsysteme von FlightUnits lassen sich auf den Zentimeter genau programmieren. Wenn derjenige gewollt hätte, dass hier nichts übrig bleibt, dann wäre nichts mehr übrig.«

  »Vielleicht war es eine Warnung«, sagte Jye.

  »Oder es ging um etwas anderes.« Knox musterte mich so argwöhnisch, als wäre ich eine Fremde. »Vielleicht waren sie wegen Emile, Troy und dir hier.«

  Kurz blieb mir die Luft weg. »Das ist Schwachsinn!«, stieß ich dann hervor.

  »Ach wirklich?« Knox sah mich an. »Sie haben innerhalb von wenigen Wochen drei Anwärter ihrer kostbaren Schakale verloren. Vielleicht haben sie herausgefunden, dass ihr hier seid.«

  »Deswegen auch nur der eher harmlose Angriff.« Jye schoss sich auf Knox’ Theorie ein. »Wenn sie dachten, die OmnI wäre hier, dann konnten sie kein Risiko eingehen.«

  Die Schlüsse waren nicht schlecht und ich begann zu schwimmen. Also wagte ich mich noch einen Schritt weiter.

  »Sie würden niemals für ein paar kleine Anwärter so einen Aufwand betreiben«, widersprach ich. »Ganz im Gegensatz zur OmnI. Sie hat hier etwas zu verlieren. Wahrscheinlich geht ihr alles nicht schnell genug, vielleicht arbeitet ReVerse in ihren Augen nicht effizient! Ein Angriff wäre dann die beste Methode, um uns zu motivieren.«

  »Hörst du dich eigentlich reden? Weißt du, wie absurd das klingt?!« Knox starrte mich an. »Warum sollte sie das tun? Sie ist auf unserer Seite!«

  »Sie ist nur auf ihrer eigenen Seite!«, rief ich. »Wann kapiert ihr endlich, dass die OmnI niemals für ReVerse arbeiten wird, sondern immer nur umgekehrt?!«

  Es klopfte und Martin streckte den Kopf herein. »Jye? Aurora hat nach dir gefragt. Es geht um Tatius.«

  Mein Freund nickte und ging hinaus. Knox und ich waren allein.

  »Ich kann nicht dasitzen und nichts tun«, sagte er hart. »Wenn der König uns nun im Visier hat, müssen wir uns wehren. Wir waren viel zu lange nur die Laufburschen für andere.«

  »Deswegen schwingst du Kriegsreden? Wir sind nicht die Radicals, verdammt! Wir brauchen Pläne, keine Selbstmordmissionen!«

  »Wir? Du tust so, als wärst du ein Teil davon.« Er sah mich kalt an. »Dabei traust du der OmnI kein bisschen.«

  »Ja, weil ich weiß, wozu sie fähig ist!« Langsam gingen mir die Argumente aus. An Knox’ Stelle hätte ich mich auch für eine fehlgeleitete Irre gehalten. Ich musste den Kurs wechseln.

  Müde ging ich zu einem der Sofas und setzte mich. »Ich mache mir Sorgen um dich«, sagte ich leise. »Du beschwörst einen Krieg herauf, der eine Menge Opfer fordern wird. Wenn er ausbricht, gibt es kein Zurück mehr.«

  »Das weiß ich.«

  »Tust du das wirklich?« Ich sah ihn an. »Ist dir bewusst, was das für uns alle und nicht zuletzt für dich bedeutet? Wenn du dich für diesen Krieg entscheidest, wird er dich verändern. Als Anführer muss man mehr aushalten, als man ertragen kann.« Seit ich Leopold kannte, wusste ich das.

  »Glaubst du, das könnte ich nicht?« Knox’ Gesicht blieb ­eisern. »Denkst du, du hast das Recht auf Unzerstörbarkeit für dich allein gepachtet?«

  »Unzerstörbar? Ich bin alles andere als das.« Freudlos lachte ich auf. »Im Gegenteil, mich hat das Ganze doch längst zerstört. Aber ich will nicht, dass dir das Gleiche passiert.«

  »Woher willst du wissen, dass es dafür nicht schon zu spät ist?«

  »Weil ich an dich glaube.« Ich holte tief Luft. »Das könnte ich nicht, wenn du schon verloren wärst.«

  In seinem Blick regte sich etwas, wurde weich und ich glaubte, gewonnen zu haben. Aber dann verschwand es und machte Platz für grenzenlose Härte. Knox stand auf. »Wir werden im Laufe des Tages angreifen. Entweder bist du dabei oder nicht.«

  »Mach das nicht, Knox. Ich bitte dich.« Meine Stimme war nur noch ein flehendes Flüstern.

  »Es tut mir leid, Phee.« Er drückte die Klinke herunter. »Aber ich bin der Anführer. Diese Leute vertrauen mir. Ich habe keine Wahl.« Damit ging er und ließ mich allein zurück.

  Ich stützte das Gesicht in die Hände und schloss die Augen. Mir kam kein Laut über die Lippen. Nach Knox’ Clearing hatte ich gewütet, geflucht und geschrien. Ich hatte nicht akzeptieren wollen, dass er weg war. Aber jetzt blieb ich still. Denn als sich die Tür in diesem Moment hinter ihm schloss, wusste ich, dass er für immer verloren war.

  21

  Tatius starb in den frühen Morgenstunden an den Folgen der Verletzung. Sein Tod hinterließ grenzenlose Verzweiflung und eiskalte Wut bei seinen Freunden. Ich musste hilflos zusehen, wie Jye, Knox und alle anderen ein Ziel aussuchten, ihren Rache­feld­zug planten und schließlich gingen, um sich auszurüsten.

  Da ein Angriff auf Maraisville keinen Erfolg versprach, hatte man eine Delegation königlicher Gesandter als Ziel gewählt. Sie waren wegen eines Treffens in die frankopäischen Alpen gereist. Ihr Tod sollte die Vergeltung dafür sein, dass man uns angegriffen hatte.

  Lucien und ich hatten entschieden, bei dem Einsatz dabei zu sein. Zwar wollte Maraisville Vorkehrungen treffen, um die Gesandten zu schützen, aber Augen und Ohren vor Ort konnte man immer brauchen, auch um zu verhindern, das Knox oder Jye etwas geschah. Leider hatten wir die Rechnung ohne Troy gemacht. Kurz bevor wir aufbrechen wollten, tauchte er auf.

  »Sehr bedauerlich«, war sein Kommentar zu Tatius’ Tod. Knox, Jye und ich standen mit ihm in der Eingangshalle. »Es ist immer eine Tragödie, wenn jemand von uns auf solche Weise stirbt.« Ich beobachtete ihn genau, verfolgte jede seiner Regungen. Wusste er, dass es die OmnI gewesen war? Oder hatte sie ihn genauso an der Nase herumgeführ
t wie uns und nur Costard eingeweiht?

  »Wir werden ihn rächen«, schwor Knox. Sein Gesicht war mittlerweile so hart, dass ich glaubte, es sei aus Stein. Jye stand stumm daneben. Der Verlust seines Freundes musste ihm unendlich wehtun, aber ich konnte ihn nicht trösten. Ich hatte es versucht, aber in seiner Welt war gerade für Trauer kein Platz.

  »Da bin ich sicher.« Troy nickte. »Für Miss Scale gibt es allerdings einen anderen Auftrag.«

  Ich verengte die Augen. »Einen anderen Auftrag?«

  »Richtig. Die OmnI sagte, du wüsstest Bescheid. Es geht um Amber Island.«

  »Was? Jetzt?« Schockiert starrte ich ihn an. »Das ist unmöglich. Ich hatte bisher keine Zeit, mich darauf vorzubereiten!«

  »Nun, offenbar glaubt sie, dass du bereit bist.« Troys Mundwinkel zuckten zu einem verächtlichen Grinsen.

  Ich war verwirrt. Wieso wollte mich die OmnI jetzt auf eine solche Mission schicken, wenn sie sich doch vorher so große Mühe gegeben hatte, mich wieder auf ihre Seite zu bringen? Oder kam der Auftrag gar nicht von ihr, und Troy war es, der mich beseitigen wollte? Aber wer auch dahintersteckte, ich konnte mich nicht weigern. Nicht an diesem Tag und schon gar nicht vor Troy und den anderen.

  »Okay«, sagte ich widerwillig. »Ich mache mich fertig.« Einen Plan musste ich mir später überlegen.

  »Allein?« Jye sah zu Troy. »Ich habe von Amber Island gehört. Das ist kein Job für nur eine Person.«

  »Dann gehen wir mit«, sagte Knox, ohne mich anzusehen. »Direkt nach dem Angriff auf die Gefolgsleute des Königs.«

  Troy schüttelte den Kopf. »Das Zeitfenster ist zu eng. Die OmnI verlangt, dass Ophelia sofort aufbricht. Aber wenn sie es sich nicht allein zutraut, kann sie natürlich einen von euch tapferen Rittern mitnehmen.« Sein Lächeln wurde süffisant. Er wusste, dass Knox und Jye niemals auf den Schlag gegen den König verzichten würden.

  »Ich gehe mit.« Lucien kam zu uns, wie alle anderen bereits in seiner Einsatzmontur von ReVerse.

  »Woher weißt du, worum es geht, Bayarri?«, fragte Troy ihn misstrauisch.

  »Ich habe keine Ahnung, worum es geht.« Lucien grinste leicht bei seiner Lüge. »Aber wenn jemand einen tapferen Ritter sucht, fühle ich mich grundsätzlich angesprochen.«

  »Auf keinen Fall.« Knox schüttelte den Kopf. »Wir brauchen dich, Emile. Nur du und Phee wissen über die Sicherheitsprotokolle von Maraisville Bescheid.«

  »Das trifft auf Troy auch zu«, erwiderte ich schnell. »Ich denke, er kennt sie sogar am besten von uns.« Ich lächelte meinen Erzfeind liebenswürdig an. Sein eigenes Grinsen wurde kleiner und verschwand schließlich. Wenn es sein Plan gewesen war, mich allein in den Tod zu schicken, war der gründlich schiefgegangen.

  »Bist du dabei, Troy?« Knox sah ungeduldig auf die Uhr. »Wir wollen direkt starten.«

  »Wenn es gegen den König geht, bin ich immer dabei.« Troy sah mich an und es kam mir vor, als sickerte seine Abneigung gegen mich förmlich aus jeder Pore. »Wer weiß, vielleicht er­wischen wir dabei ja noch ein paar andere Leute. Ich habe gehört, sein Bruder wäre bei der Delegation.«

  Ich presste die Lippen aufeinander, sagte aber nichts. Immer­hin wussten wir nun, dass Troy keine Ahnung hatte, wer Emile wirklich war.

  »Eine von Costards FlightUnits wartet am Festland auf dich, Scale.« Troy zeigte in die Richtung. »Ihr habt eine halbe Stunde, um euch vorzubereiten.« Er nickte uns zu, dann ging er. Knox würdigte mich kaum eines Blickes, als er ihm folgte. Nur Jye sah ziemlich unglücklich aus. Ich strich ihm schnell über den Arm, dann ging er ebenfalls.

  »Wir sollten loslegen. Eine halbe Stunde ist nicht viel.« ­Lucien sah mich an, und mir wurde in diesem Moment bewusst, dass wir uns gerade für eine Zweiermission gemeldet hatten. Nur, dass wir nicht zu zweit sein würden. Da waren noch Amber Island, eine unlösbare Mission, dazu Tonnen von ungesagten Dingen und eine ganze Wagenladung Schuldgefühle. Ich seufzte. Was konnte da schon schiefgehen?

  »Hat Phoenix nichts dagegen, dass du mich begleitest?«, fragte ich, als wir in meinem Zimmer ankamen. Es war durch die Druckwellen beim Angriff verwüstet worden, aber die Mauern und Möbel waren noch weitgehend intakt. Ich ging zum Schrank und zog ein loses Brett zur Seite.

  »Nein. Das mit dem Anschlag auf die Delegation kriegen die Schakale auch ohne mich hin, aber Amber Island?« Lucien pfiff durch die Zähne. »Es sieht ganz so aus, als wollte dich jemand loswerden.«

  »Fragt sich nur, wer – die OmnI, Costard oder Troy. Ich tippe au-« Ich brach ab, weil ich vergeblich in dem Hohlraum herumtastete. Er war leer. »Verdammt. Die Dose ist weg.« Ich zog die Hand heraus.

  »Die mit den Kapseln, die dich zur Superheldin machen?« Es klang wie ein Witz, aber Luciens Gesicht blieb ernst. Ich wusste, woran er dachte – dass diese Kapseln zum Beinahe-Tod seines Bruders beigetragen hatten.

  »Ja, genau. Bei dem Einsatz könnte ich sie vielleicht brauchen, aber sie sind weg.« Ich suchte noch einmal danach, aber es war nichts zu machen. Vielleicht war die Dose nach unten gerutscht. »Wir müssen den Schrank wegschieben. Wenn –«

  »Dafür haben wir keine Zeit«, unterbrach mich Lucien. »Oder glaubst du, dass in deinem Gedächtnis etwas vergraben ist, was uns helfen kann?«

  Ich schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich nicht. Fiore hat im Unterricht mal kurz über Amber Island geredet, und die OmnI hat mir gesagt, was dort aufbewahrt wird. Aber sonst weiß ich nichts darüber.«

  »Dann vergiss die Kapseln.« Lucien war schon aus der Tür, und ich folgte ihm eilig, um Schritt zu halten. Während wir nach unten gingen, zählte er auf. »Wir brauchen Waffen. Sauerstoff. Temperaturvariable Kleidung. Notrationen. Werkzeug …«

  Als wir im Ausrüstungslager ankamen, war niemand da. Alle, die an dem Einsatz gegen den König teilnahmen, waren längst unterwegs. Ich ignorierte das ungute Gefühl in meiner Magengrube und zog eine Tasche aus dem Regal. Dann begann ich, die geforderten Sachen hineinzuwerfen. Lucien suchte währenddessen nach der Sorte Kleidung, die sowohl Hitze als auch Kälte abhielt. Als er fündig wurde, gab er mir einen Satz in meiner Größe und zog sein Shirt aus. Ich starrte eine Sekunde, dann drehte ich mich um.

  »Komm schon, ernsthaft?« Zum ersten Mal seit Ewigkeiten hörte ich wieder einen vertrauten Ton in seiner Stimme. »Das hast du alles schon gesehen. Mehrmals.«

  »Ich weiß«, sagte ich und kam mir dämlich vor. »Aber –«

  »Hey.« Plötzlich war er neben mir und der Blick aus seinen Augen todernst. »Wir sind Profis, oder nicht? Wir müssen das jetzt durchziehen.«

  »Klar. Profis.« Es klang eher kläglich. Sein Aber du hast es getan drehte eine Dauerschleife in meinem Ohr. Ich hätte auf nichts zwischen uns hoffen dürfen, aber ich spürte, dass ich dumm genug gewesen war, es zu tun. Offenbar war ich nicht halb so schlau, wie ich dachte.

  »Gut.« Er nickte und nahm seine Sachen.

  »Lucien?«, sprach ich ihn dann doch noch einmal an.

  »Ja?«

  »Ach, nichts.« Ich schüttelte den Kopf und kniff dann doch.

  Wir zogen uns schweigend um, packten alles zusammen und waren vor Ablauf der halben Stunde fertig. Als wir in der Eingangshalle auf den UnderTrans warteten, kam Jye zu uns. Seine Augen waren rot unterlaufen.

  »Können wir kurz reden, Phee?«

  »Ich warte draußen.« Lucien nahm die Tasche und verließ die Halle. Ich merkte, dass er nah genug bei mir blieb, um meine EyeLinks offline zu lassen. Das war ein sehr feiner Zug von ihm.

  »Die anderen sind doch schon längst weg. Was machst du noch hier?« Ich sah Jye verwundert an.

  »Ich wollte nicht mit.« Er setzte sich auf die Treppe und ich tat es ihm gleich. »Mir ist klar geworden, dass ich so nicht sein möchte. Es wäre falsch, irgendwelche Menschen umzubringen, nur weil Tate …« Seine Stimme brach. Ich schlang die Arme um ihn.

  »Es tut mir so leid, was passiert ist.« Bei einem solchen Verlust gab es keine Worte, die helfen konnten. Jye hatte in seinem Leben so viele Menschen verloren. Es war nicht fair, dass e
s schon wieder ihn getroffen hatte. »Dass du trotzdem nicht nach Rache schreist … dafür bewundere ich dich.«

  »Musst du nicht.« Er schniefte. »Du hattest nämlich recht. Es war nicht der König, der uns angegriffen hat.«

  Überrascht sah ich auf. »Du glaubst mir? Warum?«

  »Weil ich nicht glauben kann, dass er diese Insel beschießen würde, wenn es hier doch jemanden gibt, der eine wichtige Mission für ihn erledigt.«

  Jye sah mich ernst an.

  Ich schrumpfte unter seinem Blick. Wusste er es? Oder riet er gerade ins Blaue?

  »Ich –«

  »Spar dir die Mühe. Ich weiß es schon seit Wochen.« Er ­lächelte schief.

  »Seit Wochen?« Ich starrte ihn an. »Warum hast du mich nicht verraten?«

  »Weil ich das nicht wollte.« Jye seufzte. »Ich habe immer an ReVerse geglaubt, an die Vision von Ferro und das Ende der Abkehr. Aber es gibt eine Person, an die ich noch ein bisschen mehr glaube – und das bist du. Nicht, weil du klug bist oder meistens weißt, was zu tun ist. Sondern weil du ein Herz hast. Ein sehr großes Herz. Manchmal handelst du ein bisschen blind, aber am Ende tust du doch immer das Richtige.«

  Ich hätte ihm widersprechen müssen, aber der Kloß in meinem Hals machte es unmöglich.

  Jye sah auf seine Hände. »Als du nach deiner Zeit in Marais­ville hier angekommen bist, wusste ich, dass etwas anders ist. Ich dachte erst, dass es an der Ausbildung liegt oder der monate­langen Einsamkeit, aber irgendwann ist mir klar geworden, dass du den Glauben an ReVerse verloren hast. Und wenn Ophelia Scale den Glauben an das Ende der Abkehr verliert, dann muss es ernst sein.«

  »Du hast mich nie darauf angesprochen«, sagte ich leise.

  »Nein, ich hatte Angst. Ich wollte, dass alles wieder so wird wie früher. Also habe ich Knox ermutigt und gehofft, ihr würdet es hinkriegen. Das war dumm.«

  »Es war das, was ein Freund tun würde«, widersprach ich.

  »Es war das, was ein Egoist tun würde.« Jye schüttelte den Kopf. »Aber als dieser Angriff kam und wir alle glaubten, der König wäre schuld, bist du etwas zu entschlossen für ihn eingetreten. Da wusste ich, es muss gute Gründe für die Abkehr geben. Gründe, von denen du dich hast überzeugen lassen.«

 

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