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Der Himmel wird beben

Page 27

by Kiefer, Lena


  »Runter da!«, brüllte ich.

  Als Lucien sprang, hielt ich die Luft an. Er segelte auf das Gestänge zu, streckte die Hände aus, aber er verfehlte die Strebe. Seine Finger rutschten daran vorbei ins Leere. Mit einem Übelkeit erregenden Geräusch knallte er eine Etage tiefer mit der Brust gegen die Stahlkonstruktion und hielt sich in letzter ­Minute fest. Sein Schrei in meinem Ohr übertönte alles andere.

  »Luc!« Der Behälter stürzte in die Tiefe, aber es interessierte mich nicht. »Geht es dir gut? Bitte sag was!«

  »Es geht schon«, ächzte er. »Der Behälter ist unten. Ich hole ihn, sobald der Transport stoppt.«

  Ich fixierte seine Vitalanzeige. Luciens Rippen waren tiefrot unterlegt. »Okay, ich komm runter und helfe dir.«

  »Nein, das –«, fing er an.

  »Ist nicht nötig?« Das mit dem Unterbrechen konnte ich auch. »Red keinen Scheiß, Lucien. Du hast dir wahrscheinlich die Rippen gebrochen!«

  »Der Anzug wird das schon erledigen.«

  »Der Anzug kann keine Wunder vollbringen!« Meine Füße waren längst auf der Verankerung.

  »Aber du schon?« Es klang amüsiert.

  »Halt die Klappe«, gab ich zurück. »Du hast für heute genug den Helden gegeben. Lass dir gefälligst helfen.«

  »Aye, Ma’am.«

  Es wurde still im Schacht, der Umtransport war jetzt abgeschlossen.

  Ich kletterte über die Verankerung aufs Gerüst, dann stieg ich nach unten, vorsichtig, aber eilig. Da ich am Transportband hinunterklettern konnte, war mein einziges Problem die mangelnde Sicherung, und damit kam ich klar. Schnell war ich bei Lucien angekommen. Sein Gesicht hinter dem Visier des Helms sah erschöpft aus.

  »Soll ich fragen?«

  »Nein«, antwortete er. »Es tut weh, aber es bringt mich nicht um. Lass uns einfach die verdammte Kiste holen und verschwinden.«

  »Das ist der beste Satz, den ich heute von dir gehört hatte.« Ich lächelte und berührte ihn am Arm. Dann stieg ich weiter nach unten. Wir kletterten an den Ebenen C, D und E vorbei, bis auf den Grund. Dort sprang ich vom Gerüst und ging zum Behälter.

  »Warte mal.«

  Lucien hielt mich am Arm fest und zog mich in eine überraschende Umarmung.

  Mein Herz machte einen Satz, aber ich mahnte mich nicht nur wegen seiner Rippen zur Vorsicht. Ohne Erfolg: Als wir uns voneinander lösten, war weder sein Blick der eines Kollegen noch meiner. Aber dann stießen unsere Helme gegeneinander und erinnerten mich an unsere Abmachung.

  Schnell machte ich einen Schritt zurück und sah auf die Anzeige: ich hatte nur noch Energie für eine knappe Stunde.

  »Wir sollten starten.« Ich legte den Kopf in den Nacken und sah nach oben bis zur Zugangsluke für das ReachCenter hoch über uns am Ende des Schachtes. Sie schien unglaublich weit entfernt. Dann fiel mein Blick auf Lucien.

  »Was ist?«, fragte er sanft.

  »Nichts«, log ich. Denn in diesem Moment war mir etwas klar geworden: Es gab Dinge, die waren weit entfernt. Und dann gab es Dinge, die waren unerreichbar.

  27

  Der Aufstieg war eine Tortur. Die dreißig Meter schienen endlos, der Behälter zwischen uns wurde mit jeder Strebe schwerer. Mit nur einem freien Arm zu klettern war schwierig genug, aber gegen die Zeit war es ein echter Kampf. Aufgeben war trotzdem keine Option.

  Ein Auge hatte ich permanent auf dem Display. Mein Anzug hatte noch genug Reserven für zwanzig Minuten, aber Luciens Anzeige leuchtete längst rot. Ich blieb auf einer Strebe stehen, justierte meinen Griff um den Behälter.

  »Du hast kaum noch Energie.« Besorgt sah ich zu Lucien.

  Er schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich haben die Sensoren bei dem Aufprall was abgekriegt. Mir geht es gut.«

  »Lügner.«

  Er grinste müde hinter dem Visier. »Ich dachte, wir wären darüber hinweg, dass du mich so nennst.«

  »Nicht, wenn du mich tatsächlich anlügst.« Ich schnaubte. »Gib mir deinen Arm, ich übertrage dir etwas von meinen Reserven.«

  »Du hast selbst nicht mehr genug.«

  »Mehr als du.«

  »Nein, lass.« Er schüttelte den Kopf. »Sie wird schon bis oben reichen. Es gibt so eine Art Back-up.« Er packte den Behälter wieder fester und machte sich auf den Weg, zur nächsten Stufe.

  »Dir ist klar, dass du Priorität hast, oder?«, fragte ich, während ich weiter nach oben stieg. »Der Bruder des Königs ist wesentlich wertvoller als das Mädchen, das den Regenten töten wollte.«

  »Wie wäre es, wenn du mal den Mund hältst?«, fragte Lucien freundlich. »Das spart auch Energie.«

  Wieder schnaubte ich, auch wenn er recht hatte. Aber vielleicht gab es doch eine Lösung. Mein Blick fiel auf die Führungsschiene, an der ich mich festhielt. Das könnte eventuell gehen. Es war riskant, aber das war ja unser Motto des Tages.

  »Weißt du, was noch mehr Energie spart?«, fragte ich. »Gar nicht klettern zu müssen.« Ich hatte erneut angehalten, den Behälter auf dem Bein abgestützt und betätigte über Augenbewegungen nun das Display in meinem Helm, um das Zugangsmenü der Transportanlage aufzurufen.

  »Wenn du jetzt die Nuklearraketen umschichten willst, um auf einer von ihnen nach draußen zu fliegen, streike ich.« ­Luciens Stimme klang erschöpft.

  »Haha«, machte ich. »Ich bringe nur das System in Gang, so kommen wir nach oben. Dann müssen wir noch rasch rüber zum Ausgang, aber das schaffen wir schon.«

  Lucien fragte nicht nach und das machte mir mehr Sorgen als jede sarkastische Bemerkung. Ich hielt einen Moment inne, dann traf ich eine Entscheidung. Er wollte keine Energie von mir? Gut, dass ich seine Erlaubnis nicht brauchte.

  Schnell holte ich mir den Befehl für die Koppelung mit seinem Anzug aufs Display. Dann griff ich über den Behälter, packte seinen Unterarm und verband die Schnittstellen an unseren Handgelenken. Der Transfer passierte so schnell, dass Lucien nichts dagegen tun konnte.

  »Was ..?« Er schnappte nach Luft, um sich zu beschweren, dann stieß er sie wieder aus. »Danke«, sagte er kleinlaut.

  »Gern geschehen.« Jetzt hatte jeder von uns noch für zehn Minuten Energiereserven zur Verfügung. Aber in der Zeit konnten wir das trotzdem unmöglich ohne Unterstützung schaffen. »Ich versuche es mit dem Wartungsmodus«, sagte ich. So etwas gab es bei allen Anlagen. Amber Island musste das Transportsystem regelmäßig überprüfen, damit es im Ernstfall funktionierte.

  Da ich jetzt wusste, wie es funktionierte, bekam ich sofort Zugriff auf die Kontrollen. Prompt brachte Amber Island die Transportroboter in Gang – allerdings in alle Richtungen, kreuz und quer, wie zufällig. Der Roboter auf meiner Schiene fuhr nach unten, ich packte ihn trotzdem, um nicht in die Tiefe gestoßen zu werden. In Luciens Schiene schnellte das System mit ihm nach oben und riss mir den Behälter aus der Hand. Zum Glück konnte er ihn auch allein halten.

  »Ophelia?«, erklang es alarmiert in meinem Ohr.

  »Bin gleich da … hoffe ich.«

  Zum Glück änderte sich die Richtung meines Transportroboters gerade wieder und ich wurde mit ihm nach oben gezogen. Als ich mit Lucien auf einer Höhe war, sprang ich zur Seite auf die Stahlstreben und klammerte mich fest.

  »Wir müssen über die Verankerung auf die andere Seite.« Die Öffnung zum ReachCenter war direkt gegenüber. Sich wie auf dem Hinweg an der Verstrebung entlang zu hangeln, war keine Option. Wir mussten darüber hinwegbalancieren, um zum Ausgang zu kommen.

  »Gut.« Ich straffte meine Schultern. »Ich gehe zuerst, dann wirfst du mir den Behälter rüber.«

  Er nickte. »Bitte stürz nicht ab.«

  »Weil das deine diversen Rettungen aus der Vergangenheit sinnlos machen würde?«

  »Keine Witze jetzt, okay?«

  »Okay.«

  Lucien hielt meine Hand, als ich auf die Verankerungsstrebe kletterte und die ersten zwei Schritte machte. Unter mir reichte der Schacht bis in bodenlose Dunkelheit, die Leuchtkapseln am Grund waren längst erloschen.

>   »Nicht runtergucken.«

  »Leicht gesagt.« Ich ließ seine Hand los und ging weiter, setzte einen Fuß vor den anderen, fixierte mein Ziel. Als ich endlich sicheren Boden erreichte, wäre ich vor Erleichterung beinahe in die Knie gegangen. Aber noch war es nicht geschafft.

  »Bereit?«

  »Bereit.«

  Eine Hand fest am Gerüst, holte Lucien aus und schleuderte den Behälter zu mir hinüber. Ich wurde von seiner Wucht fast von den Füßen gerissen, aber ich fing ihn auf.

  Dann betrat Lucien die Strebe und breitete die Arme aus wie ein Seiltänzer. Ich wusste, dass er sehr geschickt war, aber seine Anzeige stand schon wieder auf Rot. Als er bei mir ankam, packte ich ihn vorsichtshalber am Arm und zog ihn zu mir. Er atmete schwer.

  »Deine Energie ist am Ende«, sagte ich. »Ich gebe dir noch mal was.«

  »Nein, nicht nötig.« Er ließ meine Hand los. »Komm, wir beeilen uns lieber.«

  Der Behälter öffnete den Ausgang ohne Probleme und wir traten hindurch. Lampen schalteten sich ein, als wir unser Ziel erreichten.

  Nach der stahlgrauen Umgebung der letzten Stunden war das ReachCenter nahezu heimelig. Es gab weiß bespannte Wände, funktionale Stühle, dazu Ausgabeklappen für die kleineren Gegenstände. Auf dem Boden war heller Teppich verlegt, der makellos rein war. Kein Wunder – seit seinem Bau vor sechs Jahren hatte niemand mehr diesen Raum betreten.

  »Nichts wie weg hier.« Ich ging an eines der Terminals und aktivierte es, um eines der Shuttles für uns freizuschalten.

  Im gleichen Moment ging ein Alarm los.

  »Strukturelle Integrität gefährdet. Evakuierungssequenz eingeleitet.« Ein Timer tauchte auf. »Bitte begeben Sie sich zu den Shuttles. Eine Minute bis zum Start.« Ich starrte wie gelähmt auf die Sekundenanzeige. Wieso war plötzlich die Stabilität von Amber Island gefährdet? Das war nicht geplant gewesen! Hatte das Sprengen der Schleusen doch mehr beschädigt als gedacht und zeigte jetzt erst seine verheerende Wirkung?

  Lucien erholte sich schneller von dem Schock. Eilig packte er den Behälter.

  »Los!«

  Wir nahmen wahllos einen der Gänge, die vom ReachCenter wegführten. Ich rannte vorweg, überließ Lucien unsere Fracht. Falls das Shuttle gesichert war, würde ich jede verfügbare Sekunde brauchen, um es zu öffnen. Ich wollte nicht wissen, was passierte, wenn der Countdown ablief und wir nicht in dem ­U-Boot saßen.

  Ich sah die Zugangsluke zum Shuttle am Ende des Ganges, legte noch an Tempo zu. Aber dann hörte ich ein tiefes Keuchen. Abrupt stoppte ich und drehte mich um. In dem Moment stürzte der Behälter mit einem dumpfen Schlag zu Boden. Im nächsten brach Lucien zusammen.

  »Luc! Nein!« Ich rannte zu ihm, drehte ihn auf den Rücken. Er war bewusstlos. »Scheiße!« Zittrig navigierte ich zu dem Übertragungsmenü. Er konnte all meine restliche Energie haben, wenn er es nur hier raus schaffte.

  <Übertragung nicht möglich. Ausgangsniveau zu niedrig.> zeigte das Display. Wieder fluchte ich. Wieso konnte ich nicht selbst entscheiden, wem ich meine letzten zwei Minuten gab?

  Das Shuttle war zwanzig Meter entfernt und die Luke noch nicht offen. Mir blieben dreißig Sekunden. Das würde nie für den Behälter und Lucien reichen. Aber das musste es auch nicht. Sein Leben war mir wichtiger als diese verdammte Mission.

  Ich packte Lucien an den Schultern und schleifte ihn durch den Gang. Es kostete mich die restliche Energie. Fast sofort schlug mein Anzug Alarm und ich bekam keine Luft mehr. Wütend riss ich mir den Helm vom Kopf. Dieser Bereich war für Menschen konzipiert. Amber Island würde kaum einen Haufen Regierungschefs ersticken lassen.

  Die Luft war dünn und roch metallisch, aber man konnte sie atmen. Schnell befreite ich auch Lucien von seinem Helm, aber er wachte nicht auf. Mit aller Kraft, die ich noch hatte, zog und zerrte ich ihn zu dem Shuttle und schlug auf den Öffnungsmechanismus. Eine schreckliche Sekunde lang tat sich nichts. Mir fiel ein, dass ich mit dem Helm auch das Display für meine Verbindung zur Insel verloren hatte. Bitte geh auf, bitte geh auf.

  »Geh auf!«, schrie ich verzweifelt.

  Und endlich, endlich hatte ich mal Glück. Die Türen glitten zur Seite und ich hievte Lucien ins Innere. 15 Sekunden zeigte das Terminal an der Wand an. 14. 13. Zwanzig Meter von mir entfernt lag draußen noch der Behälter. Sollte ich es versuchen? Wenn ich es nicht schaffte, war wenigstens Lucien in Sicherheit.

  Ich sprang über die Schwelle auf den Gang, sprintete zum Behälter, packte ihn, drehte in der gleichen Sekunde auf dem Absatz um, rannte zurück. Die Kiste schleifte ich auf dem Boden hinter mir her, sie hüpfte auf und ab, riss an meinem Arm. ­Wütend zog ich sie enger an mich, sah, dass die Türen des Shuttles sich schlossen. Ich sprang ab, landete, knickte um, stürzte ins Innere und fing den Behälter gerade noch ab, bevor er Lucien treffen konnte. Ein Ruck ging durch das Shuttle, als sich die Verankerung löste. Dann wurde es hinausgeschossen.

  Wir wirbelten herum, ich presste mich mit dem Behälter an die Wand, hielt ihn weg von Lucien. Der rollte auf dem Boden zur Seite, auf die Konsole zu, ich warf mich dazwischen, knallte selbst mit dem Kopf dagegen. Kurz drehte sich alles, dann wurde es ruhig. Wir mussten im offenen Meer sein, glitten unter Wasser irgendwo hin. Es war mir egal. Hauptsache, weg.

  Lucien lag auf dem Boden, er war immer noch nicht bei Bewusstsein. Vorsichtig drehte ich ihn auf die Seite. Wieso wachte er nicht auf? Wieso griff der Anzug nicht ein?

  Ein Blick auf seinen Rücken reichte – an der Stelle, wo das Medikamenten-Panel gewesen war, klaffte ein breiter Riss. Er musste es sich bei der Aktion im Schacht abgerissen haben. Was jetzt? Ich hielt mein Ohr über sein Gesicht. Er atmete nur sehr flach.

  Hektisch sah ich mich um und entdeckte eine Klappe mit dem Zeichen für Notfall-Equipment. Fahrig öffnete ich sie und zerrte den schmalen Koffer heraus. Darin lagen drei kleine Tanks mit Sauerstoff und Masken. Ich griff einen davon und presste die Maske auf Luciens Gesicht. Mit einem leisen Zischen wurde der Sauerstoff freigegeben. Aber es half nicht, im Gegenteil. Luciens Körper verkrampfte sich, seine Arme begannen zu zittern. Schnell nahm ich die Maske weg.

  »Bitte bleib bei mir«, flehte ich, ohne jede Ahnung, was ich tun sollte. Wenn er zu wenig Sauerstoff im Blut hatte, hätte die Maske helfen müssen.

  Panisch kramte ich in meinem Kopf nach allem, was ich je von meiner Mutter über Erstickung gehört hatte. Manchmal lag es nicht an der Zufuhr von Sauerstoff, sondern an der Verarbeitung. Vielleicht war etwas passiert, das Luciens Körper daran hinderte?

  Schnell verrenkte ich meinen Arm nach hinten und riss gewaltsam das Panel mit den SubDerm-Injektoren von meinem Anzug ab. Meine Hände glitten zitternd über die Metallzylinder, während ich die Beschriftungen las. HX-D3, PXI, W-HNA … Das war alles das Falsche. Lucien brauchte weder ein Beruhigungsmittel noch einen Adrenalin-Neutralisator. Da fiel mir etwas ins Auge. GH-47J. Etwas klingelte bei der Abkürzung. Es war ein Mittel zur Vermehrung roter Blutzellen, eine Art Doping. Damit konnte ich ihm vielleicht helfen.

  Ich nahm den Zylinder heraus und beugte mich über Lucien. Aber dann sah ich sein schneeweißes Gesicht und stockte. Was, wenn ich ihn damit umbrachte?

  Luciens Atmung war jetzt nicht mehr spürbar, sein Brustkorb bewegte sich nicht. Wenn du es nicht tust, stirbt er auf jeden Fall, sagte etwas in meinem Kopf. Ich gab mir einen Ruck, setzte den Injektor an seinen Hals und presste meinen Finger auf den Knopf. Das vertraute Zischen ertönte, dann war es still.

  Furchtbar still. Das Einzige, was ich hörte, waren die Aggregate des Shuttles, das uns irgendwo hinbrachte. Ich ließ Luciens Hand nicht los, prüfte permanent seinen schwachen Herzschlag, hoffte und bangte. Er durfte nicht sterben.

  Ich saß da, stumm, jede Zelle meines Körpers angespannt. In meinem Kopf flackerten Bilder auf und verschwanden wieder. Unsere Begegnung auf der Ruine, an die ich in den letzten ­Wochen nicht hatte denken wollen. Der erste Kuss, den ich für eine Lüge gehalten hatte. Aber es war alles wahr gewesen. Ich hätte an diesem Abend der OmnI kein Wort glauben dürfen. Ic
h hätte in dieser Nacht im Bett bleiben sollen, an Luciens Seite, wo ich glücklich gewesen war. Ich hätte niemals auf Leopold schießen dürfen. Wenn ich das nicht getan hätte, dann wären wir nicht hier. Dann wäre alles in Ordnung.

  Ich haderte, bereute und flehte stumm um Hilfe. Aber erst unzählige Minuten später hörte ich etwas. Es war ein leises Fiepen, als hätte eine Gasleitung ein winziges Loch. Ich beugte mich über Lucien und spürte einen Lufthauch an meiner Wange, kaum spürbar, aber vorhanden. Er atmete. Meine Tränen kamen, als hätte eine Schleuse sie zurückgehalten, liefen über mein Gesicht und tropften auf seinen Anzug. Ein ersticktes Schluchzen, noch eins, dann heulte ich vor Erleichterung und hörte eine Weile nicht mehr auf.

  Es dauerte eine weitere Stunde, bis Lucien zu sich kam. Ein hohles Husten, dann schlug er mit einem tiefen Atemzug die Augen auf. Ich war nicht einen Zentimeter von seiner Seite gewichen. Eine neue Kaskade Tränen machte sich auf den Weg, als ich sah, dass seine Haut langsam wieder Farbe bekam.

  »Hi«, schniefte ich und lächelte.

  »Hi«, murmelte er verwirrt.

  »Wie fühlst du dich?«

  »Müde«, sagte er. Ich lachte.

  »Wenn es nur das ist.«

  Ich gab ihm noch ein SubDerm-Medikament, das den Kreislauf stabilisierte, aber das meiste hatte sein Körper bereits selbst erledigt. Als unser Shuttle meldete, dass wir bald die Küste erreichen würden, setzte Lucien sich auf und war fast wieder der Alte.

  »Was machen deine Rippen?« Ich sah ihn an.

  »Die sind okay. Nichts gebrochen, schätze ich.«

  »Willst du dich auf die Bank setzen?«, fragte ich besorgt und wollte ihm aufhelfen.

  »Das schaffe ich schon.« Er stand allein auf, schien zu testen, ob sein Körper noch funktionierte. Dann setzte er sich hin.

  »Brauchst du etwas?« Ich sah ihn an, schon auf dem Weg zu einer der Klappen in der Wandverkleidung. »An Bord ist Wasser, einige Essensrationen und –«

  »Hör auf damit«, sagte er abweisend.

  »Was?« Ich drehte mich zu ihm um.

 

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