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Der Himmel wird beben

Page 29

by Kiefer, Lena


  »Doch, meistens schon. Was ich gefühlt habe, war nicht weg, nur weil die OmnI mich angelogen hat. Ich wollte zwar, dass es verschwindet, aber so etwas lässt sich nicht einfach abstellen.« Ich schüttelte den Kopf. »Das mit dir hat mich einfach überrollt. Als ich nach Maraisville gekommen bin, war ich auf vieles gefasst, aber nicht auf dich.«

  »Du meinst, du hast nicht damit gerechnet, auf jemanden zu treffen, der dermaßen charmant, gutaussehend und geistreich ist?« Er schnippte ein imaginäres Stäubchen von seinem Arm.

  »Doch, damit schon«, sagte ich. »Aber nicht mit dir.«

  Lucien lachte und küsste mich. Als er damit fertig war, sah ich ihn an.

  »Eigentlich warst du meine Rettung.«

  »Deine Rettung?«, fragte er leise. »Wieso das?«

  »Weil ich keine Ahnung hatte, wie verbittert und besessen ich geworden war. In deiner Nähe war es mir egal, ob ich je wieder InterLinks trage. Es war mir egal, ob es die Abkehr gibt oder nicht. Ich wollte nur bei dir sein und sicher, dass es so bleibt.« Ich hielt inne. »Das klingt ziemlich kitschig, oder?«

  »Ein bisschen. Aber ich mag es, wenn du kitschig wirst.« ­Lucien nahm mich in die Arme und ich lehnte meine Stirn an seine.

  »Wehe, du erzählst jemandem davon«, drohte ich.

  »Kein Wort, versprochen.« Er berührte meine Nase mit seiner. »Wo wir gerade davon sprechen … Eigentlich hatten wir ja einen Deal.«

  »An den wir uns gehalten haben. Wir haben nicht über die Schakale geredet oder über ReVerse.«

  »Caspar ist ein Schakal«, gab Lucien zu bedenken, während er sich einer speziellen Stelle an meinem Hals widmete. »Zählt das nicht?«

  »Wovon redest du?«, murmelte ich. Meine Konzentration war dahin. »Wer ist Caspar?«

  Luciens raues Lachen war die einzige Antwort, die ich darauf bekam.

  29

  Es war mitten in der Nacht, aber Lucien und ich lagen noch wach, aneinandergekuschelt und schweigend. Meine Müdigkeit versuchte mich zu überwältigen, aber schlafen konnte ich nicht. Tausend Fragen gingen mir im Kopf herum, doch ich stellte keine davon. Wir hatten noch ungefähr sechs Stunden, bevor die Welt draußen wieder eine Rolle spielte. Ich wollte sie nicht herein­lassen, indem ich über Dinge sprach, die jenseits dieser Mauern lagen.

  »Was ist los?« Lucien löste sich von mir und stützte einen ­Ellenbogen auf.

  »Was soll sein?« Ich sah ihn an.

  »Du denkst nach. Ich kann es hören.« Er lächelte und fuhr mit den Fingern sanft über meine Schläfe.

  »Kannst du nicht.«

  »Doch, natürlich. Also?«

  Ich seufzte. »Wir haben einen Deal.«

  »Ja, aber wenn du so laut grübelst, ist der Deal eh hinfällig.« Er ließ sich wieder aufs Kissen sinken, hörte aber nicht damit auf, mich zu streicheln. »Sag mir, was dir im Kopf herum­spukt.«

  »Sicher?«

  »Sicher.«

  Ich wollte schon zu der allerwichtigsten Frage ansetzen – wie wir weitermachen sollten, wenn diese Nacht vorbei war –, als mein Blick auf Luciens makellose Haut fiel und ein anderer Gedanke sich vordrängelte.

  »Wie hast du damals diesen Brand überlebt?«, platzte es aus mir heraus. Feingefühl: 1+, Scale.

  »Was?« Lucien schreckte hoch und die Decke rutschte bis zu seinen Hüften herunter. Sein Gesichtsausdruck war panisch. »Woher weißt du davon?«

  Schnell hob ich die Hände. »Ich habe es niemandem gesagt, versprochen.«

  »Darum geht es nicht. Woher weißt du das? Wer weiß es noch?« Seine Stimme war eindringlich, aber frei von Zorn. Er war nicht sauer auf mich, weil ich es wusste. Er machte sich Sorgen, auf wen das noch zutraf.

  »Niemand. Ich schwöre es. Ich …« Wie konnte ich ihm möglichst kurz davon erzählen? »Wir haben aus Costards ehemaliger Villa Berichte über die OmnI gestohlen. Weißt du davon?«

  Er nickte, immer noch alarmiert.

  »Zuvor hatte Costard mich um einen Gefallen gebeten«, ergänzte ich eilig. »Er wollte, dass ich weitere Datenträger in dem Tresor zerstöre, ohne dass ReVerse etwas davon merkt. Aber stattdessen habe ich sie mitgenommen.«

  Lucien nickte wieder. Auch das wusste er.

  »Einen Tag später habe ich sie an eure Leute übergeben.« Ich zögerte kurz. »Nur habe ich mir die Dateien vorher angesehen. Es waren vor allem Logfiles von deinem Vater und von Leopold, dazu viel Datenmüll über die OmnI und einiges über den Brand. Ich habe das alles gelesen, aber ich war allein, und der Med­Report über dich war nicht bei Costards Daten, sondern wurde mir aus Maraisville zugespielt. Niemand bei ReVerse weiß etwas davon.«

  Lucien schien nicht beruhigt. »Aber wer in Maraisville sollte dir so sensible Informationen zukommen lassen?«

  »Das weiß ich nicht. Es war jemand, der keine Vorbehalte gegen mich hatte, also sicher nicht Phoenix oder einer der Schakale. Ich dachte erst an dich, aber die Wortwahl hat nicht zu dir gepasst.«

  »Nein, ich war das nicht. Allerdings –« Plötzlich fiel Lucien auf sein Kissen zurück und stöhnte auf. »Deswegen!«, rief er.

  »Deswegen was?«, fragte ich.

  Er zog die Decke wieder über uns und schien erleichtert zu sein. »Es gab große Aufregung, weil die Aufzeichnungen deiner InterLinks plötzlich lückenhaft waren. Jeder wollte wissen, was zur Hölle passiert war, aber die Daten waren einfach weg. Es müssen die aus der Nacht gewesen sein, als du meinen MedReport gelesen hast.«

  »Ist das etwas Gutes?«

  »Auf jeden Fall.« Er küsste mich schnell. »Der Einzige, der unbemerkt Dateien löschen kann, ist Leopold.«

  »Leopold?« Jetzt war ich an der Reihe, hochzuschrecken. »Das heißt, er war es, der mir die Datei über dich geschickt hat?«

  »Er muss es gewesen sein.« Lucien strich beruhigend über meinen Arm. »Entspann dich, Stunt-Girl. Das ist eine gute Nachricht.«

  »Aber das kann nicht sein.« Zwar passten die Worte meines mysteriösen Komplizen zu Leopold. Allerdings würde das bedeuten, er hätte mir Zugang zu der Vergangenheit seiner Familie gewährt, zu den persönlichen Aufzeichnungen seines Vaters, zu Geheimnissen, die man nur mit engsten Vertrauten teilte – obwohl ich ihn hatte töten wollen. War das möglich?

  »Es gibt keine andere Erklärung«, sagte Lucien.

  »Aber er würde doch nie zulassen, dass ich das sehe«, widersprach ich. »Vor allem nicht, wenn es so bedeutend ist. Er muss mich hassen. Ich wollte ihn umbringen!«

  Lucien schüttelte den Kopf. »Leopold ist ein sehr rationaler Mensch. Er kennt Abneigung oder Antipathie, aber Hass kommt in seinem Gefühlsspektrum nicht vor.«

  »Trotzdem müsste ich in seinen Augen die Letzte sein, die erfahren sollte, wie eure Eltern gestorben sind – oder was mit dir passiert ist.«

  »Wenn er wollte, dass du diese Dateien siehst, dann hatte er Gründe dafür.« Luciens Gesicht verschloss sich. »Die hat er immer.«

  Etwas an seinem Tonfall ließ mich aufhorchen. »Was ist zwischen euch vorgefallen?«, fragte ich.

  »Nichts Besonderes.« Er sortierte ein paar Haarsträhnen hinter meine Schulter. »Leopold und ich sind sehr verschieden, waren wir schon immer. Deswegen haben wir selten die gleiche Vorstellung davon, wie man mit … schwierigen Situationen umgehen sollte. Aber das wird schon wieder.« Es klang nicht so, als wolle er darüber reden.

  Wir schwiegen, und ich legte meinen Kopf auf Luciens Brust, weil es mich beruhigte, seinen Herzschlag zu hören. Ich wollte nicht noch einmal nach dem Brand fragen. Aber das musste ich auch nicht.

  »Ich war an dem Abend dort.« Ich konnte das Vibrieren von Luciens Stimme in meinem Körper spüren. »Eigentlich wollte ich mit Freunden in den Alpen klettern gehen, aber ich wusste, dass Dad und Leopold einen Puffer brauchen würden. Amelie musste kurzfristig zu einer Konferenz in Asien, Mum mochte keinen Streit – und Imogen wollte ich davor bewahren, sich zwischen die beiden stellen zu müssen. Also bin ich zu Hause geblieben.«

  Ich hob den Kopf. »Imogen? Imogen L
awson?« Im Logfile von Achill de Marais hatte ein anderer Name gestanden. »Ist sie Gee?«

  Lucien nickte. »Das war ihr Spitzname, als sie noch mit Leo zusammen war.«

  »Moment. Die beiden waren ein Paar?« Mir fiel ein, was noch in den Dateien gestanden hatte. »Das heißt, sie hatten ein Kind?«

  »Oh, das …« Lucien sah mich bedauernd an. »Du kannst mich alles fragen, Stunt-Girl. Aber nicht danach. Es ist nicht an mir, jemanden in diese Sache einzuweihen.«

  Ich nickte und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. »Natürlich, entschuldige.« Dass er mir überhaupt von dem Brand erzählte, war schon ein großer Vertrauensbeweis.

  »Der Abend verlief, wie ich es erwartet hatte«, erzählte ­Lucien weiter. »Leo und Dad haben die meiste Zeit gestritten, sich angeschrien und gegenseitig beschuldigt.«

  »So viel zu Leopolds Rationalität«, warf ich ein.

  »Wenn es um meinen Vater ging, war die oft zum Teufel. Leo und Amelie kommen eher nach meiner Maman, sie denken nach und wägen ab, bevor sie etwas sagen. Aber Dad war anders. Er hat sich oft von seinen Gefühlen mitreißen lassen – und Leopold damit regelmäßig auf die Palme gebracht. Deswegen gab es oft Stress, aber deswegen war er auch so erfolgreich. Mein Vater hat seine Ansichten immer mit absoluter Leidenschaft vertreten.«

  Ich lächelte ebenfalls. »Sieht so aus, als kämst du nach deinem Dad.«

  Lucien Mund zuckte ebenfalls kurz zu einem Lächeln, aber schnell legte sich ein Schatten über seinen Blick.

  »Wenn es zu wehtut, darüber zu reden …«, sagte ich vorsichtig.

  Er schüttelte den Kopf. »Der Schmerz ist immer da, egal, ob ich darüber rede oder nicht. Außerdem verdienst du die Wahrheit.«

  Ich verdiente gar nichts. Aber ich widersprach nicht.

  »Der Abend endete ziemlich spät, weil die Diskussionen kein Ende nahmen.« Lucien hob die Schultern. »Leopold wollte nach Hause fahren, aber Imogen hat ihn überredet, zu bleiben. Sie mochte meinen Dad sehr, wahrscheinlich hoffte sie, die beiden würden sich beim Frühstück wieder vertragen. Ich bin noch Laufen gegangen und erst nach Mitternacht ins Bett. Irgendwann gegen drei Uhr in der Nacht muss die KI dann den Brand ausgelöst haben.«

  »Bist du aufgewacht, als es passiert ist?«

  »Nein, ich habe nichts davon mitbekommen. Ich weiß nur, was in den Berichten steht. Leopold muss mich rausgeholt und am Leben gehalten haben, bis sie mich ins nächste Medical Department bringen konnten.« Luciens Stimme zitterte leicht und ich fasste seine Hand fester. »Ich erinnere mich an grauenhafte Schmerzen in ein paar wachen Momenten, aber die meiste Zeit haben sie mich mit Medikamenten zugedröhnt.«

  Ich dachte an den Bericht, den ich gelesen hatte. Irreparable Schäden, letale Verletzungen, Überlebenschance 2 Prozent, Schmerzmittelgabe in kritischer Höhe nicht ausreichend. Mein Magen rebellierte und ich kuschelte mich noch enger an Lucien. Das ist Vergangenheit, sagte ich mir. Er ist hier und am Leben.

  »Was haben sie mit dir gemacht?«, fragte ich leise. »Ich habe gelesen, dass die Chancen schlecht standen.«

  »Sie standen katastrophal. Ich glaube, alle wussten, dass ich nicht zu retten war. Aber dann hat Leopold Phoenix kontaktiert und ihn um Hilfe gebeten. Als Geheimdienstchef meines ­Vaters kannte er Leute, die alternative Methoden erprobt hatten. ­Dubiose Methoden, nah an der Illegalität, wenn nicht sogar darüber hinaus.«

  »Was für Methoden?«

  Lucien löste sich ein wenig von mir und hielt mir seinen Arm hin.

  »Was siehst du?«

  Ich sah hin. »Ähm … deinen Arm?«

  »Und darauf?«

  »Haut?«

  »Richtig. Und falsch. Es ist synthetische Haut.«

  »Synthetisch?« Ich strich vorsichtig darüber. »Wie …?«

  »Sie wurde im Labor hergestellt und an meinen Körper angepasst.«

  »Wow. Wie viel der Oberfläche bedeckt sie?«

  »Etwa 70 Prozent.« Er lächelte. »Du scheinst überhaupt nicht schockiert zu sein.«

  »Wieso sollte ich?« Fasziniert sah ich mir seinen Arm genauer an. Mir war früher schon aufgefallen, dass Luciens Haut ungeheuer glatt und makellos war, aber ich hatte das für gute Gene gehalten. Dabei war es Technologie. Das Gewebe sah zwar aus wie Haut, inklusive der Härchen, die jeder normale Mensch hatte. Aber es war synthetisches Material. »Das ist extrem fortschrittlich – und wahnsinnig gefährlich. Wenn das jemand heraus­findet …«

  »Dann wäre Leopold seine Glaubwürdigkeit los.« Lucien stieß die Luft aus. »Ich bin eine Art OmnI – oder sogar noch schlimmer. Dass es sie gibt, könnte er vielleicht noch mit machtpolitischen Interessen erklären. Aber wenn herauskäme, dass er seine Überzeugungen verraten hat, um seinen Bruder zu retten, dann wäre er erledigt.«

  »Er hat nur getan, was jeder für seine Familie tun würde.«

  »Ja, das hat er. Nur ist er nicht jeder.« Lucien senkte den Blick.

  »Wenn es drauf ankommt, spielt das keine Rolle.« Ich streichelte seinen Arm, bis er mich wieder ansah. »Wie fühlt sich das für dich an? Wie eine ganz normale Berührung?«

  »Nicht ganz. Es hat gedauert, bis alles passte und die Sensorik kalibriert war. Am Anfang habe ich mich gefühlt, als würde ich in einer Plastiktüte stecken. Aber mittlerweile bin ich es gewohnt.« Er berührte meine Wange. Es fühlte sich an wie immer.

  »Brauchst du Medikamente?« Ich dachte an mein HeadLock.

  »Nein. Alles wird über ein Implantat gesteuert, so ähnlich wie deines zur Überwachung. Das regelt die Energieversorgung und alle anderen Funktionen.«

  »Hast du deswegen keine Luft bekommen, als wir im Shuttle waren? Weil du dein Implantat nicht hattest?«

  »Nein, daran lag es nicht. Oder nicht ganz.« Er zeigte auf seine Körpermitte. »Mein Herz und meine Lunge müssen mehr arbeiten, weil die technische Steuerung meiner Hautfunktionen so viel zusätzliche Energie verbraucht. Das ist normalerweise kein Problem, aber auf Amber Island habe ich ihnen etwas zu viel zugemutet.«

  »Wusstest du nicht, dass es gefährlich werden könnte?«

  »Doch, natürlich. Aber das Risiko musste ich eingehen. Ich hatte Glück, dass du da warst und so klug bist, wie man dir nachsagt.« Lucien küsste mich. »Ich habe mich noch gar nicht dafür bedankt.«

  »Es wurde ja Zeit, dass ich mich mal revanchiere.« Ich lächelte. »Aber du kannst ganz normal damit leben? Ich meine …«

  »Hattest du bisher den Eindruck, bei mir würde irgendetwas nicht normal funktionieren?« Er hob eine Augenbraue. Weil ich das noch immer heiß fand, ließ ich mich davon ablenken und er nutzte den Moment und küsste mich. Wir waren auf direktem Weg in Gefilde, wo man keine Worte braucht, aber ich riss mich zusammen und schaffte ein bisschen Abstand zwischen uns. Bevor wir wieder InterLinks bekamen, wollte ich nicht nur das eine von ihm – auch wenn es sehr verlockend war.

  »Also ist das der Gefallen, den Leopold Phoenix schuldet«, stellte ich fest. »Weil er dich gerettet hat, gehörst du jetzt ihm.«

  »So in der Art.« Luciens Blick verdunkelte sich. »Wir haben lange gedacht, dass er keine Gegenleistung verlangen würde, denn er hat die Schuld fast ein Jahr lang nicht eingefordert. Aber ich glaube, er hat einfach gewusst, dass in der Zeit nichts mit mir anzufangen war.«

  »Wie schlimm war es?« Ich verschränkte meine Finger mit seinen.

  »Schlimm«, gab er zu. »Es hat mehr als zwei Monate gedauert, bis sie mich aus dem künstlichen Koma geholt haben – und danach tat mir ständig alles weh. Aber das war nicht das Schlimmste daran. Das Schlimmste war, als ich aufgewacht bin und Leo an meinem Bett saß.« Luciens Augen füllten sich mit Tränen. »Ich wusste sofort, dass sie tot sind. Meine Eltern. Keine Ahnung, wie ich das aus seinem Blick gelesen habe, aber ich wusste es.«

  Diesmal war ich es, die ihn in meine Arme zog. Eine Weile sagte niemand von uns etwas. Erst dann sprach Lucien weiter.

  »Während ich im Koma gelegen hatte, war die ganze Welt auf den Kopf gestellt worden. Leopold hatte die Abkehr besc
hlossen, steckte trotz vieler Anfeindungen mitten in der Machtübernahme und hatte sich deshalb von Imogen getrennt, um sie zu schützen.«

  »Aber um dich hat er sich trotzdem gekümmert?«, fragte ich leise.

  »Er hat es zumindest versucht. Nachdem ich aus dem Medical Department raus war, hat er mir bei sich ein Zimmer eingerichtet und alles dafür getan, dass ich mich wohlfühle. Allerdings war ich kein besonders dankbarer Mitbewohner.« Lucien verzog das Gesicht.

  »Hast du ihm das Leben schwer gemacht?«

  »Schwer? Nein. Ich habe ihn terrorisiert.« Er schnaubte. »Aus meiner Sicht war mein Leben vorher perfekt gewesen und plötzlich eine absolute Katastrophe. Ich war fünfzehn, meine Eltern waren tot, ich hatte ständig Schmerzen und musste mich mit einem Körper herumschlagen, der nicht mehr so funk­tio­nierte wie früher. Also war ich wütend, einsam und habe Leo­pold dafür gehasst, dass er Dad diese verdammte KI nicht ausgeredet hat. Manchmal habe ich ihn sogar dafür gehasst, dass er mich gerettet hat. Und oft genug habe ich ihm das ins Gesicht gesagt.«

  Ich stellte mir vor, wie die Marais-Brüder stritten und sich anschrien. Ich sah förmlich, wie Lucien seinen überforderten dreißigjährigen Bruder für den Tod ihrer beider Eltern verantwortlich machte und Leo­pold wiederum versuchte, seine Entscheidung verzweifelt zu verteidigen. Aber obwohl das eine grausame Vorstellung war, spürte ich großen Respekt vor Leo­pold. Er hatte alles aufgegeben, um das Richtige zu tun, hatte seine große Liebe verlassen und in Kauf genommen, dass seine Geschwister ihn hassten.

  Und ich hatte versucht, ihn zu töten. In diesem Moment schämte ich mich dafür wie nie zuvor.

  »Ich hätte auf ihn hören müssen«, sagte ich leise.

  »Das ist etwas, was uns wohl beiden schwerfällt.« Lucien lächelte schief.

  »Allerdings hast du nicht den Grundstein für eine globale Katastrophe gelegt.« Ich wich seinem Blick nicht aus. »Ich habe geholfen, die Welt ins Chaos zu stürzen, nur weil ich mich in dich verliebt habe.«

  »Du hast es getan, weil die OmnI dich belogen hat«, korrigierte Lucien. »Noch ist es nicht zu spät, das wieder hinzubiegen.«

 

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