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Der Himmel wird beben

Page 30

by Kiefer, Lena


  »Ein Hoch auf deinen Optimismus«, sagte ich düster.

  »Was soll ich sagen? Das ist meine Superkraft.« Lucien grinste und ich schmiegte mich an ihn. »Phoenix hat zwar versucht, mir das auszutreiben, aber er hat irgendwann aufgegeben.«

  »Richtig, Phoenix.« Ich verzog das Gesicht. »Wann hat er sich erinnert, dass Leo­pold ihm noch einen Gefallen schuldet?«

  »Irgendwann im Winter, über ein Jahr nach dem Brand. Wir waren erst vor einigen Wochen ins Juwel eingezogen, und ich quälte mich damals immer im Fitnessraum der Schakale, weil meine Freizeit ohne Technik ziemlich langweilig war.« Er senkte die Stimme. »Verrate niemandem, dass ich das gesagt habe.«

  Als Antwort drückte ich einen Kuss auf seine Wange.

  »Jedenfalls ging die Tür auf und Phoenix kam herein. Er grüßte mich nicht, sondern musterte mich nur von oben bis unten und sagte dann: Wir haben viel Arbeit vor uns.«

  »Der alte Charmeur«, sagte ich.

  »Da sagst du was.« Lucien nickte. »Er hat mich angeschaut, als wäre er Forscher und ich ein Insekt unter seinem Mikroskop. Am liebsten hätte ich ihn einfach stehen lassen.«

  »Kanntest du ihn vorher schon?«

  »Flüchtig, aus der Firma meines Vaters. Aber ich mochte ihn nie und hatte überhaupt keine Lust, für ihn zu arbeiten.«

  »Was ihn wohl kaum interessiert haben dürfte.«

  »Natürlich nicht.«

  Ich schüttelte den Kopf. »Du warst gerade mal 16, noch nicht einmal erwachsen. Wie konnte er das von dir verlangen?«

  »Für Phoenix war es das ideale Alter. Er hat Caspar ausgebildet, da war er achtzehn. Er dachte, je früher man anfängt, desto besser das Ergebnis. Aber ich hatte darauf keinen Bock.« Lucien grinste schief. »Also habe ich in den Tests extra schlecht abgeschnitten und auch sonst nichts ausgelassen. Ich kam zu spät, habe mich dumm gestellt, war ungeschickt, hab Widerworte gegeben und Phoenix jeden Tag gezeigt, dass ich ihn zum ­Kotzen finde.«

  »Das hat er dir kaum durchgehen lassen.« Ich nahm einen bitteren Geschmack im Mund wahr. »Wie hat er …?«

  »Gar nicht.« Lucien schüttelte den Kopf. »Er hat mich nicht gebrochen, wenn du das denkst. Davon hält er nichts. Phoenix will Leute, die ihre Gefühle unter Kontrolle haben. Er glaubt, wenn man versucht, Emotionen abzuschalten, brechen sie irgendwann hervor.«

  »Aber warum hast du dann deine Meinung geändert?«

  »Wegen Leo­pold.« Lucien seufzte. »Ich war gerade zwei Monate dabei und meine Hoffnung war, dass Phoenix bald aufgeben und mich in Ruhe lassen würde. Aber da kam Leo zu mir und erklärte mir, es gäbe eine Vereinbarung: die Verpflichtung zum Dienst bei den Schakalen als Preis für mein Überleben. Er erklärte mir, dass Phoenix nie lockerlassen würde, weil es ihm nicht nur darum ging, irgendeinen Teenager auszubilden. Er wollte mich, mit all meinen Fähigkeiten, von denen ich damals noch gar nichts wusste.« Er atmete aus. »Also habe ich mich gefügt.«

  Ich schwieg, während ich mir vorstellte, wie das für Lucien gewesen sein musste. Als ich mich in Maraisville eingeschleust hatte, war ich zwei Jahre älter gewesen und hatte immerhin anständige Ausbilder und Kollegen gehabt. Hätte sich Phoenix persönlich um mich gekümmert, wäre ich voller Freude zum Dreijahres-Clearing angetreten und dann nach Hause geflüchtet.

  »Deine Ausbildung war wohl anders als meine«, stellte ich fest.

  »Sehr.« Lucien Stirn legte sich in tiefe Falten. »Es gab keine Theorie und keine Praxis mit anderen Anwärtern, ich wurde direkt ins kalte Wasser geworfen. Phoenix hat mich um die halbe Welt gescheucht, mir unmögliche Aufträge zugeteilt und nie auch nur einen Funken Gnade gezeigt. Was er mir physisch abverlangt hat, war krass, aber in dem Alter steckt der Körper so einiges weg. Schlimmer war der Rest – die Einsamkeit, die Leere, jahrelang nichts als Missionen, alle zwei Monate eine ­andere Identität … Es gab Momente, da wusste ich nicht mehr, wer ich bin.«

  Ich dachte an die Worte, die er mir in seiner Wut an den Kopf geworfen hatte. Aber ich wollte ihn nicht unterbrechen.

  »Und dann warst da plötzlich du.« Er lächelte mich an, liebevoll und warm. »Mit dir gab es endlich wieder so etwas wie ein normales Leben mit Nähe und echter Zuneigung und Spaß. In dem Moment, als wir uns begegnet sind, wusste ich, dass ich zum ersten Mal seit Jahren die Chance auf etwas habe, über das ich selbst entscheiden kann. Auf etwas, das wirklich real ist.«

  Ich senkte den Blick. »Das war jetzt auch ein bisschen kitschig«, sagte ich, um meine Verlegenheit zu überspielen.

  »Ich weiß. Aber im Gegensatz zu dir weiß ich guten Kitsch zu schätzen.« Lucien grinste und küsste mich. Es war das hundertste Mal in den letzten Stunden, ich bekam trotzdem nicht genug davon. Aber als er sich von mir löste, sah ich Neugier in seinen Augen.

  »Das hast du klug eingefädelt. Erst fragst du mich über meine Vergangenheit aus, damit wir irgendwann so müde sind, dass du nichts mehr über dich erzählen musst.«

  »Was willst du denn wissen?«, strafte ich seine Vermutung Lügen.

  »Wie bist du zu ReVerse gekommen?«

  »Oha, du möchtest die ganze traurige Geschichte meiner Fehlentscheidungen hören?«

  »Auf jeden Fall.« Er grinste.

  »Okay.« Ich erzählte ihm davon, wie mein Leben vor der ­Abkehr gewesen war – mit der Aussicht auf eine glänzende Karriere und der Erleichterung durch die InterLinks, mit denen ich normal hatte leben können. Ich sagte auch, wie hart der Fall gewesen war, nachdem Leo­pold Technologie verboten hatte und ich nicht wusste, wie es weitergehen soll. Lucien unterbrach mich nicht und ich war froh darüber. Ich sprach nicht gerne über diese Zeit, aber er hatte ein Recht darauf. »Nachdem meine Eltern sich getrennt hatten, sind wir nach Brighton gezogen und mein Dad hat Lexie kennengelernt. Sie ist eine Phobe und hatte zwei damals noch sehr junge und für mich total nervige Kinder, deswegen war ich nie gerne zu Hause, habe auf dem Heimweg oft herumgetrödelt oder einen Schlenker zur Promenade gemacht. Dort sind mir irgendwann ein paar Jugendliche aufgefallen, die jeden Nachmittag um die gleiche Zeit in das Thea­ter am Pier gegangen sind. Ich wollte wissen, was sie machen und bin hinterher. Einer von ihnen hat es gemerkt und mich gefragt, warum ich ihnen folge. Ich habe ihn nur angestarrt und bin davon­gerannt.«

  Lucien lachte. »Toller erster Eindruck.«

  »Allerdings. Aber ich bin dann noch mal hingegangen. Ich wusste zwar nicht, was dahintersteckt, aber es erschien mir besser als der Rest meines langweiligen Lebens.«

  »Aber als du herausgefunden hast, was sie machen, hat dich das nicht abgeschreckt?«

  »Nein.« Ich schüttelte bedauernd den Kopf. »Du verstehst das vielleicht nicht, aber ich war schrecklich wütend und habe mich ungerecht behandelt gefühlt. Leo­pold war der Feind, der böse König, der mir alles weggenommen hatte. Ich wollte ihn hassen. Ich wollte, dass die Abkehr ein Ende hat und habe geglaubt, dass ReVerse der richtige Weg ist.«

  »Ich verstehe das durchaus.« Lucien strich mir über die Wange. »Nach allem, was dir passiert ist, verstehe ich es sogar sehr gut.«

  Ich sah ihm in die Augen. »Ist das dein Ernst?«

  »Natürlich. Was in der Bevölkerung los sein würde und was die Abkehr für die Menschen bedeuten könnte, das hat Leo­pold vielleicht theoretisch durchdacht, aber nie richtig verstanden. Er hat immer nur gesehen, dass sie nötig ist, und alles andere dahinter zurückgestellt.«

  »Womit er recht hatte.«

  »Ja, schon. Aber einem jungen und sehr schlauen Mädchen in Brighton hätte es vermutlich geholfen, die Gründe für seine Entscheidung zu kennen. Und vielen anderen sicher auch.« ­Lucien sah mich an. »Mal ehrlich: Was wusstet ihr bei ReVerse über die Hintergründe der Abkehr?«

  »Nicht viel, nur das, was in den offiziellen Verlautbarungen zu finden war. Technologie stumpft die Menschen ab und isoliert sie, und so weiter.« Ich hob die Schultern. »Wir wollten uns damit nicht abfinden, aber wir haben auch nie tiefer nachgebohrt. Wir waren nur eine jugendliche Ortsgruppe in Brighton, die meilenweit entfernt von Ferr
o oder Maraisville war – zu wenige Informationen, zu viel Wut. Trotzdem schäme ich mich, wenn ich daran denke, wie ich geredet und was ich gedacht habe.«

  »Du hast geglaubt, dass sie dir geben können, wonach du suchst: ein Ziel.«

  Überrascht sah ich auf. »Woher weißt du das?«

  »Ich lese dich wie ein Buch«, sagte Lucien voller Überzeugung.

  »Seit wann?«, fragte ich milde skeptisch.

  »Autsch«, sagte er. »Das tut weh. Reicht es nicht, dass Phoenix mich ständig daran erinnert, wie sehr ich bei dir versagt habe?«

  »Du hast nicht versagt.«

  »Ich habe mich in dich verliebt und deswegen übersehen, dass du beim Widerstand warst.«

  »Und ich habe mich in dich verliebt und deswegen den Wider­stand zum Teufel gejagt«, hielt ich dagegen.

  »Um schließlich auf eine KI zu hören und meinen Bruder töten zu wollen. Was uns beide hierher gebracht hat.« Lucien lachte. »Das macht uns wohl zum tragischsten Paar seit Romeo und Julia.«

  Ich lachte mit, obwohl nichts daran wirklich lustig war. »Du hast vergessen, dass wir beide dachten, der andere hätte uns nur benutzt.«

  »Stimmt.« Lucien nickte nachdenklich. »Das hebt unsere Geschichte vielleicht sogar auf das Niveau von Helena und Paris. Man wird Geschichten über uns schreiben, ganze Epen voller Verrat, Liebe und Leidenschaft. Ich sehe es schon auf der großen Bühne.«

  Ich musste kichern. »Verrat, Liebe und Leidenschaft, im Ernst?«

  »Natürlich. Allerdings müssten wir in dem Stück deinen Namen ändern. Nicht, dass Shakespeares Erben behaupten, wir würden klauen.«

  »Das sehe ich ein«, nickte ich. »Können wir in unserem Epos aus Troy einen buckligen Idioten machen? So einen, der immer über seine eigenen Füße stolpert?«

  »Auf jeden Fall.« Lucien breitete die Arme aus, damit ich es mir darin bequem machen konnte. »Ich bin außerdem dafür, dass er einen sehr dämlichen Tod stirbt.«

  »Den dämlichsten aller Zeiten«, stimmte ich zu. »Wir brauchen dann aber auch Phoenix, der eine Horde von Hunden über die Bühne scheucht, die ihm ständig in den Hintern beißen.«

  »Brillante Idee. Solange nur die Heldin am Ende den Helden bekommt. Auf einem verfallenen Turm, wo sie immer für ihre Stunt-Show übt.« Lucien lächelte.

  »Klingt perfekt.«

  Wir redeten noch mehr albernes Zeug, aber die Pausen wurden länger und der Tonfall immer schläfriger. Zwar versuchte ich dagegen anzukämpfen, aber es war sinnlos: Irgendwann konnte ich nicht mehr verhindern, dass ich, meine Beine mit denen von Lucien verschlungen und meinen Kopf an seiner Schulter, in den besten Schlaf glitt, den ich seit Monaten gehabt hatte.

  30

  Die Dämmerung vor dem Sonnenaufgang hüllte das Meer in ein besonderes Licht, irgendwie blass, aber trotzdem intensiv. Grau und blau wogten die Wassermassen auf und ab, gewaltig und unendlich. Das Meer interessierte sich nicht für unsere Probleme oder Entscheidungen. Es war schon lange vor uns da gewesen und würde auch noch lange nach uns da sein. Ihm war es egal, dass mein Herz zerriss, während ich hier saß und zusah, wie die Welt aus der Dunkelheit auftauchte.

  Seit ich aufgewacht war, kreiste nur eine Frage in meinem Kopf: Wie soll es jetzt weitergehen? Ich hatte die Augen geöffnet und Lucien angesehen, der neben mir schlief, das Gesicht entspannt, die Locken auf dem Kissen ausgebreitet. In diesem ­Moment hatte ich nichts anderes gefühlt als die Liebe zu ihm.

  Aber dann war der Glücksmoment verdrängt worden: von der Angst, ihn zu verlieren – und der Gewissheit, dass genau das passieren würde. Beides hatte mich mit eisernem Griff gepackt und nicht mehr losgelassen. Ich wusste, ich hätte liegen bleiben sollen, um jede Sekunde auszukosten, aber es ging nicht. Also hatte ich mich in eine der Decken gewickelt und war nach draußen gegangen. Nun saß ich hier auf der Terrassenmauer, mit Blick auf den Atlantik und ohne einen Schimmer, was ich tun sollte.

  Es wunderte mich nicht, dass ich bald Schritte hörte. Wir waren so eng ineinander verschlungen gewesen, dass Lucien es gemerkt haben musste, als ich aufgestanden war.

  »Hey.« Zwei Arme legten sich um mich und ich spürte seinen Körper an meinem Rücken. Der Geruch von sauberer Kleidung mit einer leichten Lavendelnote stieg mir in die Nase – er hatte offenbar irgendwo Klamotten gefunden.

  »Hey.« Ich schloss die Augen und legte meine Hände auf seine Unterarme, um sie noch enger um mich zu ziehen. Lange sagte keiner von uns etwas, während wir auf das Meer hinaussahen.

  »Was tun wir jetzt?«, fragte ich leise.

  »Wir bringen die OmnI zurück.« Lucien lockerte seine Umarmung nicht. »Und danach …« Ich spürte, wie er einatmete.

  »Danach bekomme ich zehn Jahre Clearing.« Davor fürchtete ich mich am meisten. Es war eine unerträgliche Vorstellung, ­Lucien und alles zwischen uns zu vergessen. Vor einigen Wochen hatte ich mir noch genau das gewünscht, als ich dachte, er habe mich verraten. Aber diesen Verrat hatte es nie gegeben.

  »Du weißt, dass ich deine Strafe möglicherweise verhindern kann«, sagte Lucien und schmiegte seine Wange an meine Haare.

  »Vielleicht könntest du das. Aber zu welchem Preis?«

  »Wenn du die OmnI zurückbringst –«

  »Wenn ich die OmnI zurückbringe, habe ich nur meinen eigenen Fehler wiedergutgemacht«, unterbrach ich ihn. »Deswegen wird man mir kaum wieder vertrauen. Ganz Maraisville wird gegen mich sein.«

  »Und wen interessiert das?« Lucien ließ mich los und ich schwang meine Beine über die Mauer und drehte mich zu ihm um.

  »Dich sollte es interessieren.« Ich zog die Decke fester um mich. »Willst du dich wirklich gegen alle Menschen stellen, die dir etwas bedeuten? Nur, um für jemanden zu kämpfen, den sie hassen? Das hält niemand auf Dauer aus.«

  »Du hast keine Ahnung, was ich aushalte.« Eiserne Entschlossenheit trat auf Luciens Gesicht. Mein Herz zog sich zusammen – und wurde dann weit, weil meine Gefühle für ihn sonst keinen Platz fanden. Er meinte es ernst. Er wollte gegen ganz Maraisville antreten, nur um mit mir zusammen zu sein. Aber das konnte ich nicht verlangen. Ich durfte es nicht.

  »Du weißt, dass ich dich liebe«, sagte ich leise und spürte einen Kloß in meinem Hals. »Deswegen will ich nicht, dass du so was für mich tust. Wenn du noch mehr verlierst …«

  »Was sollte ich denn schon verlieren, wenn ich für dich kämpfe?« Lucien sah mich an. »Meinen Job? Der bedeutet mir nichts. Meine Freunde? Wenn sie mich deswegen hängen lassen, kann ich gut auf sie verzichten.«

  »Gilt das auch für deinen Bruder?« Ich wischte mir über die Wangen.

  »Mein Bruder sollte wollen, dass ich glücklich bin. Und ich bin glücklich mit dir.« Lucien lächelte traurig und lehnte seine Stirn an meine. »Du willst nicht, dass ich noch mehr verliere?«, fragte er leise. »Dann hilf mir, das zu verhindern.«

  »Ich weiß nicht, wie«, flüsterte ich.

  In Luciens Augen tobte ein Sturm. »Ich habe dich das gestern schon gefragt, aber ich tue es jetzt noch einmal: Vertraust du mir?«

  »Mehr als sonst jemandem auf der Welt.«

  »Dann vertrau mir, dass wir einen Weg finden werden.« Er schloss mich in die Arme und ich klammerte mich an ihn, als wäre es das letzte Mal. Ich wollte ihm so gern glauben, wollte stark sein, aber mein Schmerz war stärker. Also weinte ich – um uns, um mich, um ihn und den Rest der Welt. Lucien hinderte mich nicht daran. Er hielt mich fest, flüsterte Unmengen von beruhigenden Worten in mein Ohr und war einfach nur da. Und obwohl ich nicht geglaubt hatte, dass es möglich war, liebte ich ihn in diesem Moment noch etwas mehr.

  Wir reizten die Zeit bis zur letzten Sekunde aus, aber irgendwann mussten wir zusammenpacken. Wehmütig sah ich mich um, während ich die Decken faltete und zurück in den Schrank legte. Lucien und ich hatten uns seit der Ankunft kaum eine ­Minute losgelassen, aber jetzt flüchteten wir uns beide in Geschäftigkeit. Ich war froh, etwas zu tun zu haben. Die Rumräumerei lenkte mich von dem ab, was danach kam.

  Es war gut gewese
n, alles rauszuheulen, aber besser fühlte ich mich deswegen kaum. Ich hatte nicht gelogen, als ich ­Lucien versichert hatte, ihm zu vertrauen – aber obwohl er zur königlichen Familie gehörte, war sein Einfluss begrenzt. Vielleicht konnte er sich für mich einsetzen. Vielleicht würde man mich rehabilitieren, wenn ich die OmnI zurückbrachte. Vielleicht konnte Leo­pold mir verzeihen, was ich getan hatte. Aber keines dieser Vielleichts war wahrscheinlich, und meine Hoffnung diente vor allem dem Selbstschutz. Ich konnte den Gedanken einfach nicht zulassen, dass ich mich nach dem Clearing nicht mehr an Lucien würde erinnern können.

  »Worüber denkst du nach?« Er deckte das Sofa ab und sah mich an.

  »Über kitschiges Zeug«, log ich und brachte ihn so dazu, mich zu küssen.

  »Noch eine halbe Stunde«, sagte er dann mit einem unglücklichen Blick auf die Uhr.

  Plötzlich fiel mir mit Schrecken etwas ein.

  »Costards Leute denken, du bist Emile. Wie kommen wir an ein neues Implantat, bevor man uns abholt?«

  »Wir werden nicht von Costards Leuten abgeholt.« Lucien schüttelte den Kopf. »Ich habe heute Morgen Caspar über den Anzug kontaktiert. Maraisville schickt selbst ein Team und bringt Implantate und Links mit. Sie haben sich um Costards Handlanger gekümmert, sodass wir später einfach auftauchen können, ohne vermisst worden zu sein.«

  Mein Herz sackte ein paar Etagen tiefer. Ich hatte nicht damit gerechnet, so bald mit Phoenix oder einem der anderen Schakale konfrontiert zu werden. Was würden wir denen sagen? Sagten wir überhaupt etwas über uns? Lucien hatte mich gebeten, ihm zu vertrauen. Aber auch wenn ich das tat, fiel es mir schwer, an einen Ausweg zu glauben.

  »Du grübelst schon wieder.« Lucien tippte mir sanft an die Stirn. Ich wollte widersprechen, aber ich kam nicht dazu, weil er meinen Mund gekonnt mit einem Kuss verschloss. Ich dachte schon darüber nach, das Sofa wieder aufzudecken. Aber da löste er sich von mir.

  »Wir müssen los«, seufzte er.

  »Eine Minute noch«, murmelte ich.

  Aus der einen Minute wurden fünf, aber dann konnten wir es nicht mehr länger hinauszögern. Wir streiften die Jacken unserer EffortSuits über die Klamotten aus dem Schrank, Lucien schulterte die Tasche und wir verließen das Haus. Ich sah mich nicht mehr um, während wir auf das kleine Wäldchen zugingen, wo wir laut Lucien das Team treffen sollten. Als wir im Schutz der Bäume waren, zog Lucien mich für einen letzten langen Kuss zu sich heran.

 

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