Der Himmel wird beben
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»Lucien ist keine Waffe, sondern ein Mensch, der ein Recht auf sein eigenes Leben hat!« Ich hob das Kinn, so weit ich konnte. Aber davon ließ Phoenix sich nicht beeindrucken.
»Er ist der Bruder des Regenten und ein Schakal, der seiner Pflicht nachzukommen hat. Und das wird er, wenn er erst mal von deinem schädlichen Einfluss befreit ist. Du bist nichts weiter als eine Störung im Ablauf, lästiger Sand im Getriebe. Aber damit ist jetzt Schluss. Ich werde dich aus dieser Gleichung entfernen.«
»Lucien wird Ihnen das nie verzeihen«, drohte ich.
»Denkst du, das kümmert mich? Ich will, dass er funktioniert. Dazu muss er mich nicht mögen.« Phoenix schnaubte. Dann wandte er sich den Ärzten zu. »Fangen Sie an. Wir müssen das so schnell wie möglich hinter uns bringen.«
Ich wehrte mich weiter, zerrte und zog an meinen Fesseln. Phoenix wurde ungeduldig.
»Jetzt geben Sie ihr endlich was zur Beruhigung, verflucht!«
»Das haben wir schon, aber es dauert, bis es anschlägt. Schnell wirkende Sedativa würden das Clearing verhindern. Seit der neuen Formel –«
»Ach, richtig, die neue Formel.« Phoenix sah mich aus kalten Augen an. »So eine Panne wie bei deinem Freund Knox wird nicht noch einmal passieren. Wir haben das Serum verbessert. Keine Hintertür mehr für ein – wie nennt Aurora Lehair es? – Restoring.«
Sie fuhren mit den Vorbereitungen fort, und ich überlegte panisch, was ich tun sollte. Ich dachte daran, was Knox mir über das Clearing gesagt hatte. Es ist so, als würde dir deine Seele aus dem Körper gerissen. Als würdest du dich auflösen und alle wichtigen Menschen in der gleichen Sekunde verlieren. Mir war egal, dass es wehtun würde, mir war egal, dass ich danach niemand mehr war. Was ich nicht ertragen konnte, war der Gedanke an die Menschen, die ich liebte. An meinen Dad, an meinen Bruder, an Jye … und an Lucien. Er hatte in seinem Leben so viel verloren und trotzdem niemals aufgegeben, sondern immer weitergemacht. Aber ich wusste, mein Clearing würde ihn brechen. Ich wusste es, weil es mich gebrochen hatte, jemanden auf diese Weise zu verlieren. Der Verlust von Knox hatte mich kopflos gemacht, hasserfüllt und dumm. Ich hatte falsche Entscheidungen getroffen, mich in Gefahr gebracht – und andere noch mehr. Das durfte Lucien nicht passieren. Niemals.
Ich nahm all meine Kraft zusammen und stemmte meine Füße auf das Ende des Tisches. Und dann schrie ich. Ich schrie so laut um Hilfe, dass sie alle zurückwichen, die Soldaten, die Ärzte, Phoenix selbst. Ich schrie aus Zorn, aus Kummer, vor Ungerechtigkeit und Schmerz. Ich wusste, solange ich schrie, würden sie mir nichts tun. Solange ich schrie, nahmen sie mich Lucien nicht weg. Solange ich schrie, war ich noch ich.
Ich tat es, so lange ich konnte, holte jeden Fetzen Energie aus meinem Körper. Aber niemand kam, um zu helfen. Niemand kam, um das Clearing zu verhindern. Und irgendwann verließ mich die Kraft und das Beruhigungsmittel tat seinen Dienst. Mein Schreien nach Hilfe wurde ein Flehen, ein Krächzen, dann ein Wimmern. Schließlich verstummte ich.
Man legte mir Sensoren für die Vitalfunktionen an, stülpte eine Haube über meinen Kopf, mit Aussparungen nur für Nase und Mund. Sie zog sich fest wie ein Insekt, das mein Gehirn aussaugen wollte. Ich konnte nichts dagegen tun. Kälte strömte in meine Muskeln, als hätte mein Körper aufgegeben. Meine Augen schlossen sich, ich spürte hundert feine Nadeln auf meiner Kopfhaut. Mein Widerstand legte sich schlafen.
Es war vorbei.
»Sofort aufhören!« Eine laute Stimme drang durch meinen Dämmerzustand. »Cohen, bist du jetzt völlig übergeschnappt?«
»Du hast hier nichts zu suchen!«, feuerte Phoenix zurück.
»Ich habe überall etwas zu suchen!« Wegen der Haube konnte ich nichts sehen, aber die Stimme gehörte Imogen. War sie gekommen, um mir zu helfen? »Ich bin deine Vorgesetzte, Cohen. Wenn du unautorisierte Clearings durchführst, dann geht mich das sehr wohl etwas an!« Ich hörte energische Schritte. »Schnallen Sie das Mädchen sofort los. Das ist ein Befehl.«
Wieder hörte ich Schritte. »Großer Gott, Ophelia!« Das war Lucien. Tränen stiegen mir in die Augen, als ich seine Stimme erkannte. Es gab ein helles Knacken, dann einen dumpfen Aufschlag. Jemand machte sich an meinen Handgelenken zu schaffen und schließlich an den Füßen. Als man mir endlich die Haube vom Kopf nahm, sah ich Phoenix am Boden. Seine Nase blutete.
»Verschwinde«, sagte Lucien zu ihm, zitternd vor Wut. »Ich weiß nicht, was ich mit dir mache, wenn ich dich noch eine Minute länger hier sehe.«
»Das wirst du bereuen«, keuchte Phoenix. Trotzdem rappelte er sich auf und verließ den Raum.
Und dann war Lucien da, seine Arme und seine Wärme, er fing mich ein und verhinderte den Absturz in die Dunkelheit. Kraftlos verbarg ich mein Gesicht in seiner Halsbeuge und hielt mich an ihm fest.
»Komm, wir bringen dich hier weg«, sagte er sanft.
»Was ist mit Jye?« Ich hob den Kopf und sah ihn an.
»Sie sind mit der Operation fertig.« Imogen lächelte leicht. »Ich bleibe hier, bis wir Genaueres wissen.«
»Danke«, murmelte ich, obwohl das völlig unzureichend war. »Für alles. Wenn du nicht da gewesen wärst –«
»Schon gut.« Sie nickte. »Geht besser, bevor noch mehr Leute kommen.«
Ich stützte mich auf Lucien, aber das Sedativum war immer noch in meinem Blut. Mehrfach stolperte ich, meine Beine zitterten unkontrolliert, der Boden war kalt unter meinen nackten Füßen. Lucien bemerkte es und hob mich hoch. Ich legte die Arme um seinen Hals und meinen Kopf an seine Schulter. Als ich seinen Geruch einatmete, kehrte Ruhe in mir ein.
Draußen war es dunkel. Wir fuhren mit einer der schwarzen TransUnits, ich blieb fest in Luciens Umarmung. Wir sprachen nicht miteinander, bis wir in der Festung waren. Er half mir zum Aufzug und von dort durch einen warm beleuchteten Flur zu einer großen Doppeltür. Ich war zu erschöpft, um zu bemerken, wo ich war.
In irgendeinem Zimmer half Lucien mir, die dreckige Kleidung auszuziehen und zog mir vorsichtig ein T-Shirt über den Kopf. Dann kroch ich in ein großes, sauberes Bett, das Licht ging aus und Lucien umschloss mich wieder mit seinen Armen, die Hände an meinem Rücken, zart, aber fest. Es war der perfekte Schutzschild.
»Du kannst jetzt schlafen, Stunt-Girl«, murmelte er. »Ich pass auf dich auf.«
»Ich weiß«, sagte ich. Dann schloss ich die Augen.
Ich wachte am frühen Morgen auf, weil sich etwas neben mir bewegte. Benommen öffnete ich die Augen und sah eine Hand, die meine Schulter berührte. Erschrocken zuckte ich zurück. Dann erkannte ich, dass es Lucien war.
»Ophelia, hey.« Er flüsterte. »Kann ich dich kurz allein lassen? Ich muss dringend mit Imogen und Leopold sprechen.«
»Es ist noch dunkel«, murmelte ich verschlafen.
»Ich weiß.« Er lachte leise. »Aber wir haben nur wenig Zeit, bis ReVerse uns vermissen wird. Keine Sorge, ich bin nebenan. Ruf einfach, wenn etwas ist.«
Ich nickte nur und Lucien drückte mir etwas Weiches in die Arme – sein Stoffkänguru Dr. Grey. Dann küsste er mich auf die Stirn und ging. Bald hörte ich durch die geschlossene Tür gedämpfte Stimmen, aber es störte mich nicht, im Gegenteil. Ich ließ mich von dem Dreiklang mitziehen, kuschelte mich an das Stofftier und schlief schließlich wieder ein.
Als ich das nächste Mal die Augen öffnete, war es draußen hell. Jemand hatte vergessen, die Vorhänge zu schließen und das graue Licht des frühen Tages drang durch die großen Fenster direkt ins Zimmer. Ich streckte mich und checkte meinen Körper, aber es war alles okay. Ich fühlte mich fast normal. Zumindest äußerlich.
Erst jetzt bemerkte ich, dass ich in Luciens Schlafzimmer war – in genau dem Raum, aus dem ich damals ins Refugium gegangen war, um Leopold zu töten. Ich hätte nicht gedacht, ihn jemals wieder zu betreten. Alles war wie in der Nacht, als ich aufgestanden war und meinen fatalen Plan in die Tat umgesetzt hatte. Fast alles. Das Bett war das gleiche, die Regale, auch die Vorhänge und der Teppich. Nur ich war jetzt eine andere.
Ich setzte mich auf. Je länger ich wach w
ar, desto mehr Bilder des gestrigen Tages strömten auf mich ein. Jye, Phoenix, das Clearing. Plötzlich fror ich und kam mir schmutzig vor. Ob ich wohl duschen gehen durfte?
Früher hatte ich mich in diesen Räumen ganz selbstverständlich bewegt, aber jetzt fühlte ich mich fremd. Also stand ich auf, setzte Dr. Grey beiseite und ging nur kurz ins Bad, um dann etwas zum Überziehen zu suchen. Ich fand meine Kleidung von gestern, aber ich ließ sie liegen. In ihr steckte die Angst um Jye, die Panik vor dem Clearing … ich wollte sie nicht wieder anziehen.
Kurz überlegte ich, dann warf ich meine Vorbehalte über Bord und ging ins Ankleidezimmer. Bewusst sah ich nicht zu der verborgenen Tür an der hinteren Wand. Ich wollte nicht daran denken, was passiert war, nachdem ich das letzte Mal hindurchgegangen war.
Nach kurzem Sichten der Klamotten lieh ich mir eine Sporthose und einen Pullover von Lucien aus. Da fiel mein Blick auf ein Fach, das abgesehen von einem einzelnen Kleidungsstück leer zu sein schien. War das etwa …?
Ich griff danach und holte es heraus. Der Stoff entrollte sich genauso wie vor einigen Monaten, als ich ihn zum ersten Mal aus einer weißen Schachtel gezogen hatte. Es war die grüne Jacke, meine grüne Jacke. Mein Herz tat einen schmerzhaft freudigen Schlag. Er hat sie aufgehoben.
Ich zögerte kurz, aber dann zog ich die Jacke über, gefolgt von der geliehenen Hose. Schließlich ging ich ins Schlafzimmer zurück und machte das Bett, weil ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte. Da fiel mir auf, dass ich nebenan keine Stimmen mehr hörte. Waren sie weg?
Vorsichtig öffnete ich die Tür und sah ins Wohnzimmer. Im ersten Moment dachte ich, es wäre leer.
»Guten Morgen, Ophelia.«
Ich fuhr herum.
Leopold lehnte am Fenster, in einem zerknitterten blauen Hemd und Jeans. Er war unrasiert und sah aus, als hätte er mehrere schlaflose Nächte hinter sich – müde, mit hohlen Wangen und dunklen Ringen unter den Augen. Wahrscheinlich schlief er nicht besonders gut, seit ich die OmnI befreit hatte. Mein schlechtes Gewissen drückte mir auf den Magen.
»Dein Freund Jye ist stabil. Wir haben dafür gesorgt, dass er im Medical Department sicher ist.«
»Vielen Dank«, nickte ich. »Es ist sehr großzügig, dass Sie ihn behandeln.«
Ich hatte keine Ahnung, wie ich mit dieser Situation umgehen sollte. Bei unserer letzten Begegnung hatte ich versucht, Leopold zu töten – und ich war nicht davon ausgegangen, ihm je wieder zu begegnen. Unangenehm berührt vergrub ich meine Finger in der zu großen Hose von Lucien und war mir meiner strähnigen Haare und der nackten Füße nur zu bewusst. Trotzdem konnte ich nicht einfach umdrehen und flüchten, also kam ich weiter in den Raum hinein und blieb unschlüssig zwischen Sessel und Sofa stehen.
»Es ist richtig, das zu tun«, sagte Leopold. »Wenn wir aufhören, Menschenleben zu achten, sind wir nicht besser als unsere Feinde. Wo wir gerade davon sprechen, eure Angreifer wurden gefasst. Es war eine Gruppe von Radicals, die es offenbar darauf angelegt hatte, Technologie von ReVerse zu stehlen.«
»Das erleichtert mich. Also, dass sie gefasst wurden.« Jyes Überlebenskampf war damit weder von ReVerse noch von Costard verschuldet worden. Und trotzdem schwebte er nur deswegen in Lebensgefahr, weil es Leute gab, die nicht akzeptieren konnten, dass es die Abkehr gab.
Leopolds Blick wurde wachsamer. »Wie geht es dir?«
»Ich … gut. Besser als erwartet.« Wenn etwas meine Scham noch größer machen konnte, dann sein freundliches Verhalten.
»Es tut mir sehr leid, was gestern passiert ist«, sagte Leopold. »Phoenix hatte keine Befugnis, bei dir ein Clearing durchführen zu lassen.«
Ein Lachen drang aus meinem Brustkorb nach oben. Ich versuchte, es in einem Husten zu verstecken – ohne Erfolg.
»Was ist so lustig?« Der König hob eine Augenbraue.
»Nichts.« Ich schüttelte den Kopf. »Nur die Tatsache, dass Sie sich bei mir entschuldigen, kommt mir absurd vor.« Tief holte ich Luft und sah Leopold an. »Mir tut es unendlich leid, was ich getan habe. Ich weiß, dass ich es nicht rückgängig machen kann und es keine Entschuldigung dafür gibt. Ich hätte Ihnen vertrauen müssen, nach allem, was ich vorher erfahren hatte. Aber ich habe es nicht getan. Und auch wenn es völlig unzureichend ist, möchte ich, dass Sie wissen, dass … dass ich das sehr bereue.«
Leopold sagte eine ganze Weile nichts, sondern sah mich an, musterte mich, als würde er in meinem Gesicht nach etwas suchen. Schließlich nickte er leicht. »Das ändert jedoch nichts daran, dass wir uns mit den Folgen dieser Entscheidung herumschlagen müssen.«
»Das ist mir bewusst«, sagte ich schnell. »Deswegen werde ich alles daran setzen, die OmnI zurückzubringen.«
»Ich weiß. Du hast gute Arbeit geleistet, während du bei ReVerse warst.« Leopold ging zum Sofa und setzte sich, die Unterarme auf seine Knie gestützt. »Die OmnI ist allerdings nicht unser einziges Problem. Mich beunruhigen auch die Leute, die sie in Betrieb nehmen wollen.«
»Sie meinen Exon Costard?« Ich wusste nicht, ob ich mich setzen durfte. Also blieb ich stehen, die Hände auf die Rückenlehne des Sessels gelegt.
»Natürlich an vorderster Front Costard, aber er ist nicht allein. Dank Lucien und dir konnten wir live mitverfolgen, wie sich eine illustre Runde ehemaliger Wirtschaftsgrößen bei ReVerse die Ehre gegeben hat. Ilara Nyberg, Victor Vale, Aurora Lehair … sie alle arbeiten daran, die OmnI in Betrieb zu nehmen und ihr die Freiheit zu verschaffen, die sie fordert. Und selbst wenn diese Unterstützer das nicht schaffen, sind sie trotzdem eine Gefahr.«
»Weil sie dann trotzdem gegen Sie Front machen könnten?«
Leopold nickte. »Viele von ihnen oder ihre Eltern waren schon früher Konkurrenten von AchillTechnologies und hatten beeindruckende Ressourcen, haben sie offenbar noch. Damit wären sie in der Lage, meine Herrschaft ernsthaft zu gefährden. Wir sind bereits dabei, diese Mittel ausfindig zu machen, aber sie haben sie gut versteckt. Und wenn wir die OmnI nicht zurückbekommen, droht eine Katastrophe. Costard wird keine Sekunde zögern, sie gegen mich einzusetzen.« Er deutete auf den Sessel. »Du musst nicht stehen, während wir uns unterhalten.«
Dankbar ging ich um den Sessel herum und setzte mich, die grüne Jacke fest um mich gewickelt. Ich dachte über Leopolds Worte nach und mir fiel etwas ein. »An diesem Abend, nach dem Einbruch bei De Dorigo – da haben Sie mich ermutigt, mir die Daten von Costard anzuschauen. Warum?«
Leopold legte den Kopf schief. »Glaubst du mir, wenn ich sage, dass ich sie einfach vor allen anderen sehen wollte?«
»Nein«, sagte ich ohne Zögern.
»Das hatte ich auch nicht erwartet.« Er lächelte leicht. »Ich glaube, es war mein Ego. Nach allem, was du mir an den Kopf geworfen hattest, wollte ich dich unbedingt vom Gegenteil überzeugen.«
Ich erinnerte mich an das Gespräch zwischen Lucien und Imogen in dem Traum – dass sie gesagt hatte, Leopold würde unter dem Attentat leiden. »Was ich in dieser Nacht gesagt habe, bevor ich versucht habe … Es war nicht richtig. Ich war von der OmnI beeinflusst worden und –«
»Tatsächlich?«, unterbrach mich Leopold. »Du bist für eine Organisation in die Stadt gekommen, die sich der Beendigung der Abkehr verschrieben hat. Also hast du lange vor dem ersten Kontakt mit der OmnI entschieden, gegen das Verbot von Technologie zu kämpfen.« Seine Augen funkelten auf eine Weise, die ich von seinem Bruder nur zu gut kannte. Aber es war keine Wut, eher Wachsamkeit. »Ich halte dich nicht für einen Mitläufer, Ophelia. Deswegen gehe ich davon aus, die wahren Gründe für dein Handeln gehört zu haben, als deine Waffe auf mich gerichtet war. Oder etwa nicht?«
Was sollte ich darauf antworten? Natürlich waren das die Gründe, die sich ReVerse auf die Fahnen schrieb – die Prinzipien, nach denen ich selbst lange gelebt hatte. Das Streben nach Freiheit und Selbstbestimmung war die oberste Devise des Widerstandes.
»Doch, das ist richtig«, gab ich zu. »Aber daran glaube ich nicht mehr.«
»Also denkst du nicht länger, dass die Menschen unglücklich
mit meiner Entscheidung sind?«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte ich. »Es ist die einzig richtige Entscheidung. Entweder Abkehr oder PointOut. Da fällt die Wahl nicht schwer.«
»Das sagst du jetzt, nachdem du davon überzeugst wurdest.« Leopold musterte mich ernst. »Deswegen will ich von dir wissen: Ist es das, was die Bevölkerung denkt? Dass ich ein Despot bin, der ihnen etwas verbietet, das ihnen zusteht und das sie lieben? So wie dein Vater?«
Er schien sich jedes Wort gemerkt zu haben. »Mein Vater lebt mit Ihrer Entscheidung und hat sich nie etwas zuschulden kommen lassen.«
»Daran habe ich keinen Zweifel. Aber das ist es nicht, was ich damit sagen will.« Leopold stand auf und ging wieder zum Fenster. Er war aufgewühlt, das konnte ich sehen. »Ich habe diese Entscheidung getroffen, weil ich keinen anderen Ausweg gesehen habe. Ich wollte nie jemanden in seinem freien Willen beschränken, aber nun glauben alle, genau das wäre mein Ziel gewesen. Macht zu bekommen … und Kontrolle.« Er atmete aus. »Die Lage in der Welt wird instabiler. Asien und Südamerika sind in Unruhe, Nordamerika setzt das Verbot nicht mehr konsequent durch. Immer mehr Widerstandsgruppen drängen ans Tageslicht, vor allem im Norden. Stimmen werden laut, dass es Zeit sei, etwas zu ändern.«
»ReVerse bekommt ständig Zuwachs«, stimmte ich zu. »Das Hotel auf der Insel wird immer voller und es sind eine Menge Ex-Militärs und Spezialisten dabei. Seit Costard bei ihnen mitmischt, werden sie jeden Tag stärker.«
»Ich weiß.« Leopold seufzte. »Ich war wohl naiv, als ich geglaubt habe, die Versorgung mit allem Wichtigen wäre genug, um die Menschen zufriedenzustellen.«
»Das ist nicht naiv«, widersprach ich. »Wir haben alles bekommen, was wir brauchen. Es wäre undankbar, mehr zu verlangen.«
»Du meinst, so undankbar wie du?«