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Der Himmel wird beben

Page 34

by Kiefer, Lena


  »Ja, so undankbar wie ich«, sagte ich offen. Dann haderte ich kurz, sprach es aber doch aus. »Vielleicht sollten Sie es die Menschen endlich wissen lassen. Warum es die Abkehr gibt und wieso sie uns allen das Leben gerettet hat.«

  »Nein.« Leo­pold schüttelte den Kopf. »Ich habe dir schon einmal gesagt, dass diese Nachricht den umgekehrten Effekt hätte, zumindest für einige wenige. Und wie wir wissen, reichen die aus, um eine Katastrophe auszulösen.«

  Ich senkte den Blick. »Ja, das weiß ich.«

  Wir schwiegen einige Augenblicke. Dann atmete Leo­pold hörbar ein.

  »Ophelia, ich will ehrlich zu dir sein.« Er sah zur Tür, als befürchte er eine Unterbrechung. »Ich verstehe, warum du dieses Attentat verüben wolltest. Und ich erkenne an, dass du in den letzten Wochen dein Bestes getan hast, um deinen Fehler zu korrigieren. Aber … mehr als den alten Deal kann ich dir nicht anbieten. Wenn du die OmnI zurückbringst, bekommst du die zehn Jahre und kannst nach Hause gehen.«

  Mein Magen wurde zu einem harten, kalten Knoten. Plötzlich merkte ich, dass ich mir Hoffnung gemacht hatte – ernsthafte Hoffnung auf eine Zukunft für Lucien und mich. Aber das war dumm gewesen. Dumm und falsch.

  Ich räusperte mich. »Natürlich«, sagte ich tapfer und starrte auf den Boden. »Das ist immer noch ein sehr großzügiges Angebot.«

  »Um deine Familie musst du dir jedoch in keinem Fall Sorgen machen«, fügte Leo­pold an, »ganz egal, ob du Erfolg hast, man wird sie nicht behelligen. Das verspreche ich dir.«

  Ich nickte. Wahrscheinlich hätte ich sagen sollen, dass ich dankbar für diese Geste war, aber ich brachte kein Wort heraus.

  »Lucien liebt dich.« Leo­polds Stimme klang unglücklich und ich sah überrascht auf. »Es ist nicht so, dass ich das nicht wüsste oder es mir nichts bedeutet. Mein Bruder hat in den letzten Jahren mehr als genug für mich getan, um ihm jedes Glück zu gönnen. Die Umstände lassen jedoch nicht zu, dass ich dich seinetwegen über das Gesetz stelle und …« Er brach den Satz ab. Ich konnte sehen, dass es ihn schmerzte, mir das sagen zu müssen. Es war jedoch nicht seine Schuld.

  »Ich verstehe schon«, sagte ich leise. Einen Moment kehrte Schweigen zwischen uns ein.

  »Ich habe Lucien noch nicht gesagt, dass der Deal bestehen bleibt.« Leo­polds graue Augen suchten nach Unterstützung. »Du kennst ihn, er wird das nicht akzeptieren. Ich hoffe, du hilfst mir, damit er es versteht.«

  Ein Nicken war alles, was ich zustande brachte. Mein Hals war wie zugeschnürt.

  Da ging die Tür auf und jemand kam herein.

  »Du bist wach«, strahlte Lucien und dämpfte sein Lächeln erst, als er seinen Bruder sah. »Ich habe etwas zu essen bestellt, es kommt bald. Imogen ist auch gleich da. Habt ihr schon darüber gesprochen, wie es weitergeht?« Sein Blick sprang von Leo­pold zu mir.

  »Nicht im Detail.« Der König schüttelte den Kopf. »Aber das Ziel ist immer noch das gleiche wie vorher. Wir müssen die OmnI zurückholen.«

  »Ach, das kriegen wir schon hin.« Lucien setzte sich neben mich auf die Lehne und nahm meine Hand wie automatisch in seine. »Wir haben den DataPod, also werden wir sie bald lahmlegen.« Er schaute mich an. »Wie geht es dir?«

  »Alles in Ordnung.« Ich schaute ihm nur kurz in die Augen und dann auf unsere verschränkten Finger. Es tat zu weh, ­Luciens zuversichtlichen Blick zu sehen, während meine Hoffnung längst einen grausamen Tod gestorben war.

  »Bist du sicher?« Sein Daumen strich über meinen Handrücken. Ich wollte antworten, aber ich brachte kein Wort heraus.

  Imogens Ankunft rettete mich.

  Als sie hereinkam, musterte sie mich eindringlich, dann setzte sie sich mit ausreichend Abstand neben Leo­pold und warf ihm nur einen kurzen, sehr nüchternen Blick zu. Wenn man die beiden so sah, konnte man sich nur schwer vorstellen, dass sie früher mal verliebt gewesen waren. Oder dass sie ein gemeinsames Kind hatten.

  »Sagt mir jetzt mal jemand, was hier los ist?« Lucien sah besorgt aus. »Hat sich etwas geändert, von dem ich nichts weiß?«

  »Nein, es hat sich nichts geändert.« Leo­pold schien sich zu wappnen, bevor er seinen Bruder ansah. »Die alte Vereinbarung gilt nach wie vor. Wenn Ophelia die OmnI zurückbringt, bekommt sie zehn Jahre Clearing und darf gehen.«

  »Was? Bist du wahnsinnig?« Lucien sprang auf. »Ophelia hat doch wohl gezeigt, dass wir ihr vertrauen können! Wieso willst du sie immer noch bestrafen?«

  Imogen und Leo­pold sahen beide mich an. Offenbar war das der Moment, in dem ich Lucien klarmachen sollte, was für eine tolle Nachricht das war.

  »Ich habe versucht, ihn zu töten«, würgte ich hervor. »Und ich bin Schuld, dass ReVerse die OmnI bekommen konnte. Zehn Jahre sind ein fairer Deal.«

  »Wie kannst du so etwas sagen?« Er starrte mich an, fassungslos. »Das ist kein fairer Deal! Leo­pold weiß, wieso du es getan hast.« Er sah seinen Bruder an. »Du weißt es!«

  »Natürlich weiß ich das.« Der König hob die Hände. »Aber das ändert nichts. Ich verliere jede Glaubwürdigkeit, wenn ich Ophelia begnadige. Oder wenn sie hier lebt und mit dir zusammen ist. Das musst du doch begreifen.«

  »Darum geht es dir, um deine Glaubwürdigkeit?« Lucien schnaubte vor Wut. »Du tust mir das an, nur weil du glaubwürdig bleiben willst?«

  »Vielleicht können wir fünf Jahre vereinbaren, wenn es so weit –«

  »Wow, wie großzügig von dir!«, fuhr Lucien ihn an. Ich wusste, dass es nicht um mein Clearing ging, sondern darum, dass ihm verboten wurde, mit mir zusammen zu sein. Ein tiefes Pochen zerrte an meinem Magen.

  »Wir haben keine Wahl, Luc.« Imogen mischte sich ein. »Wenn wir uns nicht an unsere eigenen Gesetze halten, nehmen wir uns jede Legitimation.«

  Es wurde still, und Lucien las ihr Gesicht, ihre beiden Gesichter, wie es wahrscheinlich niemand außer ihm konnte. Dann lachte er auf.

  »Daher weht der Wind«, rief er. »Cohen hat mal wieder Order gegeben, oder? Ihr hört noch auf ihn? Nach allem, was er getan hat, solltet ihr ihn aus der Stadt jagen!«

  »Das können wir nicht.« Leo­pold klang resigniert. »Du weißt, wieso.«

  »Ach, immer die gleiche verdammte Leier!« Lucien schnaubte erneut. »Wie lange soll das noch so gehen? Wie lange willst du dich noch dem Diktat dieses Tyrannen unterwerfen?« Mein Herz tat weh, als ich seinen trotz aller Rage flehenden Unterton hörte. Er kämpfte hier nicht nur für sich, sondern vor allem für uns. Und ich konnte ihm dabei nicht helfen.

  »Ich lasse mir nicht alles von ihm diktieren«, wehrte sich Leo­pold. »Aber in dem Fall verlangt er einfach nur, dass wir dem Gesetz folgen.«

  »Und würdest du dem auch folgen müssen, wenn er stirbt?« Ich hörte tödliche Entschlossenheit in Luciens Worten. »Wir könnten das gleich jetzt erledigen. Ich bin gerade echt in Stimmung für einen Mord!«

  »Das würde doch nichts ändern.« Imogen seufzte. »Cohen Phoenix hat ein gutes Netzwerk aus Geheimdienstleuten und Staatsbediensteten anderer Länder. Sicher hat er sich darum gekümmert, dass einer von ihnen die Informationen über dich bekommt, wenn ihm etwas passiert.«

  »Dann lassen wir es eben darauf ankommen. Soll er doch herum­er­zäh­len, dass ich mithilfe von Technologie gerettet wurde. Das war vor der Abkehr!«

  »Du willst es darauf ankommen lassen? Damit würde alles, was wir in den letzten sechs Jahren erreicht haben, infrage gestellt«, sagte Leo­pold. »Du verkennst, dass Phoenix das gleiche Ziel hat wie wir, die Abkehr aufrechtzuerhalten und einen Point-Out zu verhindern.«

  »Also erwartet ihr von mir … was?« Lucien sah die beiden an. »Dass ich es akzeptiere und weitermache wie bisher?«

  »Wir müssen alle Opfer bringen«, sagte Imogen. »Glaub mir, es wird irgendwann leichter.«

  »Etwa so wie bei euch?«, rief Lucien. »Soll ich mir auch irgendeinen Lückenbüßer wie Ray suchen, den ich nicht liebe? Oder vielleicht bis an mein Lebensende unglücklich und allein bleiben?«

  Leo­pold holte Luft. »Wir haben uns aus sehr guten Gründen
dafür entschieden, nicht –«

  »Eure Gründe sind mir scheißegal! Das war eure Entscheidung, eure allein. Aber gerade entscheidet ihr über mich, über mein Leben und meine Gefühle! Merkt ihr nicht, wie abartig das ist?«

  »Du weißt, dass wir dich brauchen«, sagte Leo­pold und ich sah, wie sehr ihn Luciens Worte trafen. »Ohne dich geht alles zum Teufel, sonst würde ich es nicht verlangen. Es ist hart für dich, aber –«

  »Hart? Das ist nicht hart. Es ist unerträglich!« Lucien funkelte ihn an. »Leo, du bist mein Bruder und ich liebe dich – sonst hätte ich die letzten Jahre sicher nicht getan, was ich getan habe. Und du weißt, ich habe dich in all dieser Zeit nie um etwas gebeten, aber jetzt bitte ich dich: Tu mir das nicht an. Alles, aber nicht das.«

  »Ich habe keine Wahl!«

  »Du bist der verfluchte König von Europa! Wenn du diese Wahl nicht hast, wer dann?«

  »Luc!«, rief Imogen dazwischen. Ihre Stimme war verändert, sie klang hilflos und verzweifelt. »Cohen hat Lynx bedroht«, sagte sie so leise, dass ich es kaum verstand.

  Stille.

  »Er hat was?!« Ich sah Luciens schockiertes Gesicht.

  »Bisher hat er diese Grenze nie überschritten, aber heute schon«, sagte Imogen erstickt. »Er hat mir vorhin klargemacht, dass er den passenden Leuten von Lynx erzählen wird, wenn wir die Sache mit Ophelia nicht aus der Welt schaffen. Ich habe ihn auf die ursprünglichen zehn Jahre runtergehandelt, wenn sie die OmnI zurückbringt, aber mehr konnte ich nicht tun.«

  »Nein. Das ist ein Bluff, das kann nicht …« Lucien brach ab. »Er würde das nicht tun.«

  »Kannst du mir das versprechen?« Imogens Gesicht wurde hart. »Kannst du mir versprechen, dass mein Sohn nicht zum Freiwild für jeden Feind des Königs wird, wenn ich nicht tue, was er sagt?«

  Lucien schwieg. Er hätte es ihr gern versprochen, das wusste ich. Aber er konnte es nicht.

  »Es tut mir so leid.« Das war Leo­polds Stimme, leise und zaghaft. Er sah erst mich an, dann seinen Bruder. »Ich weiß, dass ich unendlich viel von dir verlange, Luc. Aber es gibt keine ­andere Lösung.«

  »Ich verstehe.« Luciens Stimme klang erstickt, und als er mich ansah, brach es mir das Herz. Da war Fassungslosigkeit, Angst, Liebe und etwas, das ich nicht benennen konnte. Fürsorge? Ich wusste, er würde seinen Neffen nicht in Gefahr bringen. Er würde Lynx nicht opfern, um selbst glücklich zu sein. So war er einfach nicht.

  Als Leo­pold und Imogen den Raum verließen, bekam ich es kaum mit. Ich umarmte Lucien, und er erwiderte es, mit dieser Mischung aus Leidenschaft und Sanftheit, die ich so sehr liebte.

  Und dann weinte er. Er weinte und ich weinte mit ihm, während mir eine Sache völlig klar wurde, unumstößlich und so tief in Stein gemeißelt, dass nichts auf der Welt sie je von dort entfernen konnte:

  Diese Chance, auf die wir gehofft hatten, die gab es nicht.

  Es würde sie nie geben.

  33

  Ich fühlte mich krank. Kaputt. Leer. Ich hatte das Gefühl, ich löste mich langsam in meine Bestandteile auf.

  Seit zwei Wochen waren wir wieder im Hauptquartier von ReVerse. Niemand hatte erwartet, dass Phoenix Lucien gestatten würde, mit mir zurückzukehren. Aber offensichtlich war er sich seiner Position und der Tatsache, dass Lucien seinen Befehlen Folge leisten würde, so gewiss, dass er es zugelassen hatte.

  Man hatte uns so ausgestattet, dass es keine Schlupflöcher gab. Wir trugen InterLinks, die sich nicht manuell abschalten ließen, meine wurden allerdings deaktiviert, wenn ich in Luciens Nähe war. Wenn mein Gehirn die Links also nicht überlasten sollte, musste ich mich ein paar Stunden am Tag bei ihm aufhalten. Und das war Folter.

  Als Lucien vor zwei Monaten auf die Insel gekommen war und ich geglaubt hatte, er würde mich hassen, war das grauenhaft gewesen. Aber die Situation jetzt war das Fürchterlichste, was ich je erlebt hatte. Wir konnten nicht so reden, wir konnten uns nicht so berühren, wir konnten uns nicht einmal so anschauen, wie wir es wollten. Und wir lebten beide mit der unumstößlichen Gewissheit, dass selbst das vorbei sein würde, wenn wir die OmnI endlich hatten. Denn sobald die Welt für alle anderen gerettet war, würde unsere ausgelöscht werden.

  »Hast du etwas Neues?«, fragte Lucien.

  »Vielleicht.« Wir standen am Strand und machten eine Pause während der morgendlichen Laufrunde, die wir zu unserer Tradition gemacht hatten. Es war der einfachste Weg, um Informationen auszutauschen, ohne von ReVerse belauscht zu werden. Seit das Hotel aus allen Nähten platzte, hörte eigentlich immer jemand zu. »In den Aufzeichnungen habe ich Transporte von NaC-6K an mehrere Orte gefunden.«

  »Wie viele davon?«

  »Genug, um es zur Kühlung eines Rechenzentrums zu verwenden.« Die OmnI und ihre zusätzlichen Komponenten erzeugten enorm viel Wärme, deswegen brauchte es eine effiziente Kühlung, damit das System einwandfrei funktionierte. »Vielleicht ist das endlich ein Hinweis.«

  »Gut. Dann ist es hoffentlich bald vorbei.« Lucien sah mich nicht an, sondern fixierte einen Punkt am Horizont, die Arme verschränkt, die Schultern angespannt. Er war schon lange nicht mehr er selbst. Da war keine Weichheit in seinen Zügen, kein Lächeln oder Funkeln in seinen Augen. Ich wusste, dass er mich liebte und ich ihn, aber sehen lassen durften wir das den anderen nicht. Also funktionierten wir nur noch, arbeiteten Tag und Nacht daran, die OmnI zu finden. Unermüdlich scannten wir Aufzeichnungen, Datenbanken, mischten uns so viel wie möglich unter die Leute und fragten jeden aus, der etwas wissen konnte. Und das alles nur wegen Troy.

  »Wenn dieser blöde Idiot endlich kommen und den DataPod holen würde, könnten wir uns dieses ganze Rumraten sparen«, sagte ich.

  »Glaubst du, das wird er noch tun?« Lucien sah mich immer noch nicht an.

  Ich hob die Schultern. »Keine Ahnung. Irgendwas stimmt da nicht.«

  Eigentlich hätten wir schon vor zwei Wochen am Ziel sein müssen. Wir waren mit dem infizierten DataPod zu ReVerse zurückgekehrt, auf einen schnellen Sieg eingestellt … aber Troy hatte das verdammte Ding nie abgeholt. Angeblich brauchte er den DataPod noch nicht, hatte er Knox gesagt. Ich hatte daraufhin genickt und auf cool gemacht, aber später war ich in Tränen ausgebrochen, mitten in der Nacht und völlig allein. Ich hasste es, mich auf diese selbstzerstörerische Art schwach zu fühlen, nur konnte ich nichts tun. Zum ersten Mal, seit ich beschlossen hatte, gegen die Abkehr zu kämpfen, wusste ich nicht, wie es weitergehen sollte.

  »Kannst du mit Knox darüber reden? Er muss uns endlich einweihen.« Lucien holte mich aus meinen Gedanken.

  Ich schüttelte den Kopf.

  »Seit dem Angriff auf die Insel hat er sich zu sehr verändert. Ich glaube nicht, dass er mir noch genug vertraut, um auf mich zu hören.«

  Luciens Nicken sah ich aus dem Augenwinkel. »Dann ver­suche ich es. Aber wenn das nicht funktioniert …«

  »Ich weiß.« Wenn es nicht klappte, würde ich meine Beziehung zu Knox wieder aufbauen müssen. So sehr Lucien und mir das widerstrebte – wir brauchten Ergebnisse. Wir mussten die OmnI finden.

  »Er hat bisher nichts gegen Emile, vielleicht klappt es also.« Lucien hob die Schultern. »Vielleicht kann ich ihn bei der Gelegenheit auch davon abbringen, ständig Aktionen gegen Königstreue zu fahren.«

  »Schön wär’s. Aber ich fürchte, das ist nicht mehr allein seine Entscheidung.«

  ReVerse war inzwischen auf einem sehr gefährlichen Kurs. Ich hatte gehofft, dass die Euphorie und die Rachegier nachlassen würden, aber leider hatte beides sich gehalten. Nun wurden die Vorstöße zwar gezielter geplant, aber der Berg aus Hass wuchs ständig. Bei meiner ersten Ankunft war das Hotel noch voll mit Leuten aus ReVerse-Ortsgruppen gewesen, gut organisiert, vom Wunsch nach einer besseren Welt getrieben. Mittlerweile kamen immer mehr Ex-Soldaten und Costard-Sympathisanten hier an, die einen überirdischen Hass auf den König hatten. Teilweise kamen auch Clearthroughs, denen ­Aurora ­Lehair ihre Erinnerungen zurückgegeben hatte und die deswegen umso wilder darauf waren, Leo­pold zu vernichten. Sie alle
tauchten die Atmosphäre der Insel in ein flammendes Rot aus aggressiven Parolen: Hauptsache blutig, Hauptsache tödlich. Über die ursprünglichen Ziele von ReVerse hatte ich schon länger niemanden mehr reden hören.

  Meistens konnten Lucien und ich Schlimmeres verhindern, weil Maraisville früh genug erfuhr, was die Truppe plante. Aber Knox schien der Richtung, die Costard dem Widerstand gab, bedingungslos zu folgen.

  Ich hatte den Eindruck, dass mein Ex-Freund mehr denn je eine Marionette in einem Krieg war, den er nicht verstand. Er tat mir deswegen leid, aber ich wollte nicht in seiner Nähe sein. Er schien das zu spüren und zu akzeptieren. Also hatte ich ihn in den letzten zwei Wochen so weit wie möglich gemieden und es auch auf Jyes »Verschwinden« geschoben. Mein bester Freund war noch in Maraisville und erholte sich – was mit ihm passieren würde, hatte man noch nicht entschieden. Für ReVerse galt er als verschollen und wir hatten behauptet, er habe uns nie abgeholt. Die Reaktion darauf? Eine kurze Suchaktion und dann die Rückkehr zur Tagesordnung. Knox sorgte sich, aber er hatte sich der Order von Troy gefügt, keine Ressourcen für eine Suche nach Jye einzusetzen. Das sagte eine Menge darüber aus, wie der Widerstand mittlerweile funktionierte.

  »Laufen wir zurück?« Lucien sah mich zum ersten Mal an diesem Tag wirklich an. Mein Herz machte einen schmerzhaften Satz. Meine Hände zitterten, so sehr wollten sie ihn berühren.

  »Sollten wir wohl.« Ich zog meinen Zopf straff, dann drehte ich mich um und lief los. Schweigend joggten wir neben­einan­der zurück zum Hotel, aber es war nicht still, im Gegenteil. Unser Schmerz tobte lautstark in uns, während wir stumm hofften und gleichzeitig bangten, dass er bald ein Ende haben würde.

  Ausgerechnet Exon Costard fing mich ab, als ich mich an der Hintertür des Hotels von Lucien verabschiedete.

  »Ophelia? Können wir uns unterhalten?«

  Lucien warf mir einen wachsamen Blick zu, dann ging er.

  »Was gibt es?«, fragte ich nicht gerade freundlich. Ich war derartig dünnhäutig, dass ich es kaum verbergen konnte. Costard hatte in den letzten zwei Wochen mehrfach versucht, mich über ReVerse und vor allem Knox auszufragen. Ich hatte ihm nur Antworten gegeben, die niemandem wehtaten, aber im Gegenzug dafür keinerlei Informationen von ihm bekommen. Fragen über den Aufenthaltsort der OmnI wehrte Costard grundsätzlich ab.

 

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