Der Himmel wird beben
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»Versprichst du, nicht hohlzudrehen, wenn du es weißt?«
»Ich verspreche es.«
Lucien zögerte nur kurz.
»Es war Lucien de Marais«, sagte er dann. Er schaffte es, den Namen so auszusprechen, als wäre er ihm nicht allzu vertraut.
Schockiert starrte ich ihn durch den Spalt an. War er eigentlich von allen guten Geistern verlassen? Ich hatte ihn die ganze Zeit rausgehalten, hatte seine Identität geschützt, um ReVerse nicht noch mehr gegen Maraisville aufzubringen. Und jetzt gab er sich gegenüber dem eifersüchtigen Anführer des Widerstands einfach zum Abschuss frei?
»Lucien de Marais?« Knox Gesichtsausdruck glich meinem vermutlich aufs Haar. »Der Bruder des Königs? Bist du sicher?«
Lucien nickte. »Ja, bin ich. Troy hat es mir erzählt.«
»Troy wusste davon?«
»Von Anfang an. Keine Ahnung, warum er es dir nicht gesagt hat.«
Knox sank auf einen Hocker. »Wie konnte sie … ausgerechnet er …«
»Es war nicht ihre Schuld.« Lucien stützte sich auf den Tresen. »Wusstest du, dass er ein Schakal ist, schon seit Jahren?«
Ich war kurz davor, in die Küche zu stürmen und ihn von noch größeren Dummheiten abzuhalten. Er durfte sich nicht so sehr gefährden! Aber ich stand wie angewurzelt da, während er weitersprach.
»Maraisville hatte Phee unter Verdacht, deswegen hat man Lucien auf sie angesetzt, um sicherzugehen. Wie ich gehört habe, ist er ziemlich gut darin – und obwohl sie so stark ist, war sie ein leichtes Ziel. Du warst weg, sie allein unter Feinden und hungrig nach menschlichem Kontakt. Sie hatte keine Chance.«
Plötzlich wusste ich, was Lucien bezweckte, denn in Knox’ Augen flackerte etwas auf, das ich seit dem Abend am Strand nicht mehr gesehen hatte: Verständnis. Luciens Plan schien es zu sein, Knox wieder auf meine Seite zu bringen. Nur hatte er sich als Preis dafür eine Zielscheibe auf den Rücken gemalt.
Unterbrich sie. Sofort. Ich fragte mich, wieso dieser Befehl erst jetzt kam. Hatten die in Maraisville geschlafen?
Ich schlich die Treppe nach oben, um sie anschließend wieder herunterzutrampeln.
»Hey, hier seid ihr.« Ich lächelte, als ich in die Küche kam. »So ernst? Was ist los?« In der CoolUnit suchte ich nach etwas zu trinken.
»Nichts.« Knox lächelte ebenfalls. »Wir haben nur geredet.«
»Geredet?« Ich streifte Lucien mit meinem Blick, aber der nickte nur, als wolle er mir sagen, dass alles nach Plan lief. »Worüber denn?«
»Über dich«, sagte Lucien und grinste. »Ich wollte wissen, ob du auch früher schon diese Angewohnheit hattest, ständig deinen Kram zu vergessen, wenn du irgendwo hin musst.«
»Gerüchte.« Ich verkniff mir das Lächeln, als ich an unser damaliges Treffen in meiner Wohneinheit dachte.
»Ja, das habe ich ihm auch gesagt.« Als Knox zu »Emile« herübersah, grinste er, und ich erkannte Dankbarkeit in seinem Blick. Das Manöver hatte funktioniert: Knox glaubte jetzt nicht nur, dass ich ein Opfer der Umstände gewesen war. Er erkannte in Emile auch einen Verbündeten, der ihn deckte, wenn es nötig wurde. Mit diesem fünfminütigen Gespräch hatte Lucien unsere Chancen, die OmnI zu finden, drastisch erhöht – und mich davor bewahrt, meinem Ex-Freund etwas vormachen zu müssen. Selbst wenn ich Lucien nicht geliebt hätte, wäre ich schwer beeindruckt gewesen.
»Ist mit Elodie eigentlich alles in Ordnung?«, fragte ich scheinheilig, weil ich Knox loswerden wollte. »Sie lief vorhin an mir vorbei, und ich hatte den Eindruck, sie hätte geweint.«
Prompt stand Knox auf. »Tatius’ Tod ist verdammt schwer für sie. Ich werde mal nach ihr schauen. Bis später.« Er sah mich so freundlich an, wie schon seit Wochen nicht mehr. Dann verschwand er aus der Küche.
»Du hättest das nicht tun sollen«, sagte ich, nachdem die Tür sich geschlossen hatte.
Lucien hob müde die Schultern. »Es war der einfachste Weg.«
»Ja, aber jetzt –«
»Es war das Richtige.« Er warf mir einen ernsten Blick zu, und ich verstand, dass wir diese Diskussion nicht jetzt führen sollten. Dann verzog er das Gesicht.
»Was ist?«, fragte ich.
»Phoenix«, formte er lautlos mit den Lippen und deutete auf sein Ohr. »Er ist angepisst, weil ich verraten habe, dass dieser … wie hieß er noch … Lucien de Marais ein Schakal ist.«
»Ein ziemlich merkwürdiger Typ, wenn du mich fragst«, erwiderte ich grinsend.
»Ja, ich habe davon gehört. Aber jetzt weiß ReVerse das immerhin auch.«
Das schien Teil des Plans gewesen zu sein, wie ich an dem entspannten Zug um Luciens Mund erkannte. Indem er sich offenbart hatte, war Phoenix’ Alleinanspruch an ihn gesunken. Wenn publik wurde, dass der Bruder des Königs für den Geheimdienst arbeitete, konnte man Lucien nicht mehr so bedenkenlos einsetzen wie bisher. Ich lächelte in mich hinein und wartete.
»Er ist weg«, sagte Lucien zwei Minuten später. »Wutentbrannt, sagt Imogen.«
»Ich bin untröstlich.« Wieder grinste ich. Leider änderte das an meiner Situation rein gar nichts.
»Gab es etwas Interessantes mit Costard?« Lucien blieb am Tresen stehen, auch wenn ich seiner Haltung ansah, dass er mich am liebsten in den Arm genommen hätte. So ging es uns nun seit einer gefühlten Ewigkeit, und es wurde immer schlimmer. Manchmal hatte ich Angst, dass ich vergessen würde, wie Lucien sich anfühlte, bis mir einfiel, dass das ohnehin bald passieren würde. Es war kein Wunder, dass ich schlecht schlief.
»Ja und nein.« Ich wollte ihm unbedingt erzählen, dass die OmnI nach meinem Vorbild erschaffen worden war. Aber nicht, während Maraisville mithörte. Also sagte ich nichts darüber. »Er hat sich wie immer bedeckt gehalten, aber ich habe vielleicht einen Anhaltspunkt, der mir helfen könnte, herauszufinden, wo er die OmnI versteckt hat.«
»Und? Welchen?«
»Kann ich noch nicht sagen. Es ist nur eine Idee, auf die Costard mich gebracht hat.« Bei dem Gedanken, dass ohne mich die Abkehr niemals notwendig gewesen wäre, war mir immer noch schlecht. Und offensichtlich sah man meine Hilflosigkeit, denn Lucien fragte: »Brauchst du deine Kapseln? Vielleicht können wir dir welche besorgen.«
Meine Dose mit dem Mittel, das die Wirkung des HeadLock aufhob, war seit dem Angriff verschollen.
»Ich fürchte, die helfen mir gerade nicht weiter.« Ich kam zum Tresen und legte meine Hand ein paar Zentimeter von Luciens entfernt auf die geflieste Fläche. Als er seine Finger hob und sanft über meine gleiten ließ, stahl sich ein bisschen Wärme in mein Herz zurück. Das war alles, was wir manchmal bekamen – eine schnelle, verstohlene Berührung. Aber es machte nichts besser. Es war eher so, als wollte man einen Flächenbrand mit einem Reagenzglas voll Wasser löschen.
»Was brauchst du dann?«, fragte Lucien.
Dich, dachte ich. Dich und eine andere Welt. Aber das sagte ich nicht.
»Zeit. Zeit und ungestörten Zugriff auf die Datenbanken.«
Es dauerte sechs Tage oder vielmehr Nächte, bis ich der Wahrheit endlich näherkam. Ich hatte überlegt, meinen Vater oder sogar meine Mutter zu kontaktieren, aber ich konnte mit keinem von ihnen sprechen, ohne dass Maraisville es über die Links mitbekam. Also klemmte ich mich hinter eines der Terminals, wann immer es in der Zentrale ruhig wurde, und begann mit der Arbeit.
Das Gespräch mit Costard hatte eine Idee gezündet, die ich aber nicht recht zu fassen bekam. Ich wusste, dass die Wahrheit irgendwo in meinem Innern vergraben war, weil sie meine Erinnerungen nur überschrieben und nicht gelöscht hatten. Aber da ich meine InterLinks nicht schon wieder grillen konnte, musste ich ohne neue Kapseln daraufkommen.
Knox hatte mir nach dem Gespräch mit Lucien Zugang zu allen Datenbanken gegeben, über die ReVerse verfügte. Die Bergsilhouette, die ich bei meinem OmnI-Besuch gesehen hatte, war mir bekannt vorgekommen, also war meine Strategie, danach zu suchen. Ich ging Orte durch, Notizen, Einträge zu allem, was mit der OmnI zu tun hatte. Gemeinsam mit Lucien wälzte ich Landkarten, um den Berei
ch einzugrenzen – er hatte von Europa wesentlich mehr gesehen als ich und wusste besser, wo es eine solche Formation von Felsen und bewaldeten Hügeln gab. Manchmal half uns sogar Knox, ohne genau zu wissen, wobei.
Wovon wir ihn jedoch nicht abhalten konnten, waren die Aktionen gegen Königstreue. Angestachelt von Elodie, Troy und einigen anderen wurden weiterhin strategische Schläge gegen Militärposten, Funktionäre und verbündete Privatleute geführt. Die Lage spitzte sich täglich zu und uns rannte die Zeit davon. Dass der DataPod noch bei ReVerse war, musste nichts heißen. Vielleicht hatten Costard und Troy eine andere Lösung für die OmnI gefunden.
Ich rieb mir die Augen. Es war etwa sieben Uhr am Abend und die meisten waren beim Essen. Lucien hatte mich vor einer halben Stunde allein gelassen, weil er den am Strand positionierten Verzerrer der Insel kontrollieren wollte. Da Maraisville bereits zum Schlag gegen ReVerse rüstete, musste im Fall des Falles die Abschirmung deaktiviert werden. Also kümmerte sich Lucien offiziell um die Wartung des Signalerzeugers unten am Meer – ein Angebot, das Knox dankbar angenommen hatte.
Ich wich meinem Ex-Freund nicht mehr aus, aber ich hielt trotzdem eine gewisse Distanz aufrecht. Dass ich eines Tages so wenig für ihn empfinden würde, hätte ich nie gedacht. Aber seine Kriegstreiberei und die verbitterte Verweigerung jeder vernünftigen Argumentation stießen mich geradezu ab. Der Verdacht, dass ich früher genauso geklungen hatte wie er, machte es nicht besser. Knox stand für alles, was ich gerne für immer hinter mir gelassen hätte.
Problematik von wiederkehrenden Fehlern, las ich im nächsten Bericht einer Forschungsdokumentation von Costard über die OmnI. Sie waren in einem Haufen Datenmüll auf einem Server vergraben gewesen, den er ReVerse zur Verfügung gestellt hatte.
Dass er sich nicht besser darum bemüht hatte, die Daten zu löschen, zeigte mir, wie wenig er ReVerse ernst nahm. Für ihn und die OmnI war diese Gruppe von jungen, wütenden Leuten nichts weiter als billiges Kanonenfutter in ihrem Krieg gegen Leopold. Nur war ReVerse das leider nicht bewusst.
Ich scrollte weiter und vertiefte mich in das Dokument. Eine komplizierte Abfolge von Kürzeln bildete den nächsten Abschnitt, danach folgte eine schematische Zeichnung mit unzähligen Verknüpfungspunkten, die mit Zahlen beschriftet waren. Es kam mir irgendwie bekannt vor. Akribisch studierte ich die Einzelheiten, bis mir ein Licht aufging: Das war die neuronale Struktur einer KI, einer sehr komplexen noch dazu. Die Notizen dazu waren für den Aufenthaltsort der OmnI zwar unwichtig, aber ich begann dennoch, sie zu lesen.
Erneutes Auftreten von Circle Errors, stand da, Kompensation über Alternativ-Strategien nicht erfolgreich. Ich hatte schon von diesem Problem gehört.
Wenn künstliche Intelligenzen früher eine Aufgabenstellung bekommen hatten, war es manchmal vorgekommen, dass sie Fehler wiederholten, die sie zuvor bereits gemacht hatten. Circle Error war nur ein besser klingendes Wort dafür, sich im Kreis zu drehen. Ich stockte. Im Kreis drehen. Die KI drehte sich im Kreis und kam deswegen zu keinem schlüssigen Ergebnis. Genau wie ich bei meiner Fahndung nach der OmnI.
Es war nur ein winziger Gedanke, eine kleine Erkenntnis, und trotzdem ging mir plötzlich ein Licht auf.
Und endlich, nach einer Woche mühsamer Recherche, wusste ich, wo ich suchen musste.
35
Eine halbe Stunde später stand ich auf und rannte die Treppe hinauf, aus der Tür, am immer noch leeren Pool entlang und schlug den Weg ein, der hinunter zum Strand führte. Es war kühl und windig und hatte geregnet, deswegen glitt ich auf dem feuchten Schotter beinahe aus. Trotzdem bremste ich nicht ab. So schnell ich konnte, lief ich den schmalen Pfad hinunter, dann durch die eng stehenden Felsen und schließlich in Richtung der Bungalows, wo sich der Verzerrer befand.
Ich war schon in Sichtweite, da traf mich ein Gedanke mit voller Wucht und meine Füße bohrten sich abrupt in den Sand. Meine Euphorie hatte mich bis zu diesem Punkt getrieben, aber jetzt wurde mir klar: Mein Durchbruch bedeutete nicht nur den Sieg über die OmnI. Es bedeutete auch das Ende für Lucien und mich.
Wie festgewachsen stand ich dort, während eine Gestalt aus dem Bungalow trat und innehielt, als sie mich in der Dämmerung entdeckte. Mein Herz zog sich zusammen, als ich Lucien erkannte. Dann zwang ich mich weiterzugehen.
»Ich weiß, wo sie ist«, sagte ich atemlos, als ich bei ihm angekommen war. Luciens Zopf war vom Wind zerzaust worden, und in seinem Blick erkannte ich die Zuneigung, die er sonst sehr sorgsam versteckte. Für eine Sekunde wurde meine Sehnsucht nach ihm so groß, dass ich alles über den Haufen werfen wollte, um ihn wenigstens zu umarmen. Nur das Wissen, dass Phoenix ihn dafür bestrafen würde, hielt mich davon ab.
Lucien sagte nichts, er fragte nicht nach oder drängte mich dazu, ihm etwas zu erzählen. Stattdessen zeigte er auf das Meer hinaus.
»Ist das nicht wunderschön?«, fragte er in merkwürdigem Tonfall. Ich folgte seinem Blick und hatte keine Ahnung, was er meinte. Es war dämmrig, die Sonne hatte sich heute noch nicht blicken lassen, und das Meer war nichts weiter als eine graue Masse, deren Wellen laut an den Strand brandeten.
»Was –«, begann ich, aber da griff Lucien nach meiner Hand.
»Komm mit.« Ungeduldig zog er mich zu den Bungalows, in denen früher wohlhabende Feriengäste Urlaub gemacht hatten. Heute waren die Räume bis auf ein paar dort gelagerte Liegestühle und Sonnenschirme leer. Ich wollte erneut fragen, was los war, da packte Lucien mich und küsste mich mit solcher Heftigkeit, dass mir die Luft wegblieb. Mein Gehirn setzte aus, und ich erwiderte den Kuss, als hätte ich nach zwei Wochen Wüste endlich Wasser gefunden. Aber dann schob ich ihn von mir.
»Bist du wahnsinnig? Wenn Phoenix das mitkriegt –«
»Kann er nicht.« Lucien zog einen Gegenstand aus der Tasche. Es war der schwarze Stift, den Costard bei unserem Gespräch dabeigehabt hatte.
»Woher hast du den?«
»Ich habe ihn Costard abgenommen, als er gegangen ist. Du weißt doch –«
»Man darf die Daumen nicht benutzen«, murmelte ich.
»Genau.« Er grinste. Ich verlor keine weitere Zeit, sondern zog Lucien wieder an mich und küsste ihn, fieberhaft und fordernd, aber bevor es über einen bestimmten Punkt hinausging, hielt er mich auf.
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte er atemlos und warf den Störsender achtlos auf die Liege. »Und wir müssen etwas Wichtiges besprechen, bevor Maraisville merkt, was los ist. Ich kann behaupten, die Unterbrechung läge am Verzerrer, aber sind wir ehrlich …« Er brach ab. »Du hast gesagt, du weißt, wo die OmnI ist?«
»Ja. Ich bin die ganze Zeit auf der falschen Spur gewesen. Weil mir die Berge vage bekannt vorkamen, aber ich das Bild nicht aus meinem Gedächtnis abrufen konnte, dachte ich, es sei eine der verlorenen Erinnerungen aus meiner Kindheit, als die OmnI nach meinem Vorbild konstruiert wurde, aber –«
»Sie wurde was?« Lucien starrte mich an. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich ihm davon noch gar nichts hatte sagen können.
»Das ist jetzt nicht wichtig.« Schnell fasste ich zusammen, was Costard mir erzählt hatte. »Jedenfalls haben wir das Ganze falsch angefangen. Ich war nicht vor Jahren an diesem Ort, den ich gesehen habe, sondern erst vor Kurzem, aber ich habe ihn aus einer völlig anderen Perspektive gesehen. Nämlich aus der Luft. Und ich bin auch deswegen nicht drauf gekommen, weil er an einer völlig anderen Stelle zu finden ist, als wir dachten.«
Bei unserer Suche nach dem Standort der OmnI hatten wir einen der halben Stunde Flugzeit entsprechenden Radius gezogen und alles darin ausgeklammert. Das war ein Fehler gewesen. »Troy hat mich in die FlightUnit gesetzt und sie dann im Kreis fliegen lassen, um mich zu verwirren. Diese Berg-Silhouette habe ich schon mal von oben gesehen, als mich Dufort aus Maraisville hierher gebracht hat.«
»Das bedeutet, es ist ganz in der Nähe?«
Ich nickte. »Erinnerst du dich an die Stelle, wo Jye angeschossen wurde? Das Gebäude, der Bunker oder was auch immer kann höchstens eine halbe Stunde von dort entfernt sein.«
Lucien schien nachzudenken.
»Gut. Dann machen wir es jetzt.«
»Jetzt? Wir holen sie? Allein?« Ich starrte ihn an.
»Ja, das auch.« Er nickte, dann wandte er sich ab und schien nachzudenken. Seine Finger klopften in einem stetigen Rhythmus an seinen Oberschenkel.
»Was denn noch?«
Er antwortete nicht.
»Luc?«, fragte ich unsicher.
Er schien mit sich zu ringen, dann drehte er sich zu mir um.
»Wir sollten abhauen, Stunt-Girl.«
Ich öffnete den Mund, aber es kam kein sinnvoller Satz heraus. »Was?«, hauchte ich.
»Lass uns abhauen«, wiederholte er.
»Aber … die OmnI … dein Bruder … was meinst du mit abhauen?« Mein Stammeln passte zu dem Gefühl in meinem Bauch: Angst und Unglaube, dazu so etwas wie Hoffnung. Mein Hals wurde eng.
»Du weißt schon, was das Wort bedeutet, oder?« Es klang belustigt, aber Luciens Gesicht glühte vor Entschlossenheit. »Sind wir doch mal ehrlich: Phoenix hat mich in der Hand. Er wird mich so lange benutzen, bis irgendein feindlicher Agent es schafft, mich zu erledigen. Ein Einsatz nach dem nächsten, eine Mission nach der anderen, kein Leben, kein Zuhause. Das war einige Jahre okay, ich wusste, wofür ich das mache. Aber jetzt gibt es etwas, für das ich nicht nur meinen Hals riskieren würde, sondern alles.« Er sah mir in die Augen. »Und das sind wir. Ich will dich nicht verlieren. Ich kann dich nicht verlieren.«
Der Kloß in meinem Hals wurde größer.
»Aber du kannst nicht weggehen. Was ist mit deiner Familie?«
»Meine Familie?« Er schüttelte traurig den Kopf. »Die gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Wir drei sind herumgelaufen wie Zombies, haben funktioniert und Entscheidungen getroffen, um zu überleben. Und wofür? Amelie ist uns in den Rücken gefallen, Leopolds Gedanken drehen sich nur noch um die Abkehr. Du hast selbst zu ihm gesagt, dass wir nicht leben, sondern nur existieren.«
»Ja, aber das …« Ich senkte unwillkürlich den Kopf, als Lucien erwähnte, was ich Leopold entgegengeschleudert hatte. Er kam zu mir und hob mein Kinn an.