001 - Wild like a River
Page 16
Das Erste, was mir auffällt, ist, dass im Atelier trotz Shoppingcenter und Sportgeschäften und unechtem Weinlaub eindeutig elegante Garderobe angesagt ist. An Tischen, die sich unter brokatverzierten weißen Tüchern verbergen, sitzen Männer in Anzügen und Frauen in eleganten Kleidern, und eine Sekunde lang spiele ich mit dem Gedanken, einfach woandershin zu fahren. Ich dachte, der Laden wäre teuer, aber entspannt. Caydens Empfehlung. Hätte ich mir eigentlich denken können.
Ein Kellner tritt auf uns zu. «Guten Abend. Sie haben reserviert?»
«Ja, auf Jackson Levy.»
«Schön, dass Sie heute zu uns gefunden haben, Mr. Levy. Folgen Sie mir bitte.»
Mit einer Handbewegung lasse ich Haven vorangehen, deren Haarmähne im Licht von Kerzen und Lüstern in einem tiefen Dunkelrot schimmert. Scheiß auf den Dresscode. Ich werde der Frau, auf die ich mich gefreut habe, seit ich sie vor einer Woche in einem kleinen Ort namens Jasper zurückgelassen habe, einfach einen schönen Abend bieten.
17
HAVEN
D as Restaurant, das Jackson ausgesucht hat, sieht aus wie das Wohnzimmer meiner Grandma. Dunkle Holzstühle mit hohen Lehnen, getäfelte Wände und cremefarbene Tapeten mit einem barocken Muster. Die Tische hier sind kleiner als der im Esszimmer von Grandma, aber es sind dieselben dicken Tischdecken, und neben den Stoffservietten liegt sogar ganz ähnliches Silberbesteck. Meine Großmutter hätte sich hier wie zu Hause gefühlt, und mir geht es beinahe ähnlich. Nur dass ich mit meiner Kleidung ziemlich aus dem Rahmen falle. Ich besitze nur Jeans. Zwei dunkelblaue und zwei schwarze. Ich habe alle vier eingepackt, und gerade trage ich eine der beiden blauen. Dazu ein T-Shirt – in Edmonton ist es wärmer als bei mir zu Hause – und darüber eine Sommerjacke, die ich seit Jahren besitze. Sie ist grau, mit mehreren Taschen innen und außen. Ich habe sie aus dem General Store in Jasper, der auch Taschenmesser, Wanderstiefel und Angelschnur verkauft, und sie passt perfekt. Nur nicht hierher.
Jackson fällt weniger auf. Zwar trägt er keinen Anzug, nicht einmal ein Hemd, so wie ein Großteil der anwesenden Männer, doch die dunklen Hosen sind unauffällig genug, und sein weißes Shirt hängt bei weitem nicht so schlapp herunter wie meins. Bisher dachte ich immer, es sei völlig egal, wie so ein T-Shirt geschnitten ist, praktischerweise passt es ja immer, doch genau jetzt überdenke ich diese Sichtweise.
Der Kellner führt uns zu einem der Tische an der Wand und rückt mir einen Stuhl zurecht, auf dem ich mich gerade niederlassen will, als er fragt, ob er mir die Jacke abnehmen dürfe.
Sekunden später zupfe ich erfolglos mein unförmiges Shirt zurecht und bin dankbar, dass zumindest meine abgewetzten Jeans unter dem Tischtuch verschwinden. Keine einzige Frau hier trägt ihre Haare offen. Sie alle haben Frisuren, die so aussehen, als müsse man dafür quasi stricken können. Ich ziehe mir das Gummi vom Handgelenk, das ich dort immer trage, und wickele meine Haare zu dem ordentlichsten Knoten zusammen, den ich ohne weitere Hilfsmittel hinbekomme. Er hängt mir schwer im Nacken und wird sich vermutlich aufgelöst haben, bevor ich zu Ende gegessen habe.
«Darf ich Ihnen unsere Weinkarte bringen?»
Jackson sieht zu mir. «Möchtest du?»
Ich schüttele den Kopf, und der dämliche Knoten fällt jetzt schon auseinander. «Danke, nein, ich hätte gern ein Wasser.»
Abgesehen davon, dass ich die Gelegenheiten, bei denen ich Wein getrunken habe, an zwei Händen abzählen kann, schmeckt er mir auch nicht besonders. Und in diesem Moment fange ich außerdem an zu überschlagen, was ich mir von dem Geld, das ich dabeihabe, hier überhaupt leisten kann.
«Und für Sie?» Der Kellner hat sich an Jackson gewendet.
«Danke, für mich ebenfalls ein Wasser.»
Mit einem Nicken zieht sich der Ober zurück, ist aber, noch bevor Jackson und ich uns zurechtgesetzt und auch nur ein Wort miteinander gewechselt hätten, wieder da. Er legt uns zwei in Leder gebundene Menükarten vor die Nase, und ich bin noch auf der ersten Seite, da hat er uns auch schon das Wasser gebracht. Ein Grandma-würdiges Glas aus Kristall steht nun vor mir, und ich beuge mich zu Jackson. «Stehen bei dir auch keine Preise?»
In hauchzarter Schreibschrift lässt mich die Karte zwar wissen, was es hier an Vor- und Hauptspeisen gibt, wie viel es allerdings jeweils kostet, steht dort nicht. Und eine besonders große Auswahl scheint es auch nicht zu geben.
Jackson sieht verwirrt auf. «Doch», sagt er und lacht dann auf. «Von so etwas habe ich bisher nur gehört, es aber noch nie selbst erlebt. Du sollst dir einfach etwas aussuchen, ohne dir Gedanken über die Kosten zu machen.»
Wie bescheuert ist das denn? «Na ja, ich werde mir beim Essen ziemlich viele Gedanken machen, wenn ich nicht weiß, ob ich mir das überhaupt leisten kann.»
«Aber ich lade dich ein», erklärt Jackson überrascht.
«Warum das denn?», frage ich genauso überrascht zurück. Wieso sollte Jackson das tun? Ich habe nicht mal Geburtstag.
«Na ja … einfach so. Weil ich dich an diesem Abend gern einladen würde, und weil … also, ich will jetzt nicht unbedingt sagen, dass es üblich ist, aber unüblich ist es auch nicht.»
Wie kann man sich guten Gewissens etwas aussuchen, wenn man sich darüber Gedanken machen muss, ob der Mann, mit dem man ausgeht, überhaupt so viel Geld dabeihat? Wie viel genau ich ausgeben kann, weiß ich wenigstens. Ich blättere in meiner Karte. Entenbrust. Steak. Gedämpfter Lachs.
«Was kosten die Gnocchi Mushroom Parisienne?»
Jackson räuspert sich. «Zweiunddreißig Dollar.»
«Was?» Das kann nicht stimmen. «Ein Scherz?», frage ich hoffnungsvoll, und kann nicht fassen, dass Jackson den Kopf schüttelt. «So viel habe ich nicht mal dabei.»
Ich komme mir unendlich dämlich vor. Wieso habe ich Caroline nicht gefragt, was ein Restaurantbesuch in Edmonton kostet? Ich bin davon ausgegangen, dass ich heute Abend nicht über fünfundzwanzig Dollar kommen würde, und dachte sogar, ich hätte großzügig gerechnet.
«Lass mich dich einfach einladen. Ausnahmsweise. Das nächste Mal bezahlst du», fügt Jackson hinzu.
«Ja, aber … willst du echt zweiunddreißig Dollar für einen Teller Gnocchi ausgeben? Mit Pilzen?»
Jackson lässt sich in seinem Stuhl zurückfallen. Im ersten Moment denke ich, ich hätte ihn mit meiner Frage gekränkt, doch dann sehe ich ihn grinsen. «Vielleicht sind es superseltene Pilze», sagt er. «Aber jetzt sind wir schon mal hier – Vorschlag: Du denkst nicht mehr über die Preise nach, ich übernehme heute die Rechnung, und wir genießen jetzt einfach das Essen, okay?»
Zweiunddreißig Dollar. Für Pilz-Gnocchi. In einer Umgebung, in der Grandma jeden Moment mit einer Schüssel Soup aux pois hereinkommen könnte, die sie extra für mich mit Gemüsebrühe statt mit Rinderbrühe zubereitet hat, und dazu gäbe es Salat und zum Nachtisch Vanilleeis. Und alles zusammen würde nicht so viel kosten wie ein Teller Gnocchi in diesem Restaurant.
«Wenn du meinst», sage ich zögernd. Vielleicht ist es Jackson nur unangenehm, aufzustehen und wieder zu gehen. Obwohl der Ober sich bei meinem Outfit vermutlich ohnehin fragt, woher wir das Geld für das teure Essen nehmen. Wie viel wohl das Wasser kostet?
«Ja, meine ich», unterbricht Jackson meine Gedanken. «Du nimmst also die Gnocchi? Ich bestelle das Ribeye Steak mit Trüffel Aioli und Gemüse. Frag erst gar nicht», sagt er, als ich schon den Mund öffne. «Ich werde den restlichen Monat von Nudeln mit Ketchup und den Gedanken an dieses Essen hier leben. Ein Scherz», fügt er hinzu, und ich schließe den Mund wieder.
Immerhin sind es wirklich ausgesprochen leckere Gnocchi, und ich versuche herauszuschmecken, welche Gewürze zwischen die Pilze gemischt wurden. Auf jeden Fall Rosmarin. Und Muskatnuss?
«Welche Pläne hast du für die nächsten Tage?» Jackson schiebt Erbsen und grüne Bohnen mit der Gabel zusammen. «Hast du dir schon deine Vorlesungen und Seminare zusammengestellt?»
«Ja, das habe ich schon zu Hause gemacht. Es war gar nicht so einfach, sich zu entscheiden.»
Während wir essen, lässt Jackson sich alles über meine gewählten Schwerpunkte erzählen.
«Und was kann m
an als Einzelner tun, um den Klimawandel zu stoppen?», fragt er und säbelt dabei an seinem Steak herum.
«Das wird dir nicht gefallen.»
«Wieso nicht? Ah.» Er mustert das Fleischstück, das er gerade auf die Gabel gespießt hat. «Weniger Fleisch, oder?»
«Am besten gar kein Fleisch. Noch besser so wenig tierische Produkte wie möglich.»
Der Bissen auf Jacksons Gabel verschwindet in seinem Mund. Langsam kaut er darauf herum. «Was ist mit Bio-Fleisch?»
«Na ja, auch Biokühe produzieren Methan. Und Wälder werden vernichtet und Moore trockengelegt, um Weideland zu schaffen und Futtermittel zu produzieren.»
«Man merkt, dass du Umweltwissenschaften studierst.»
«Das wusste ich alles schon vorher», rutscht es mir heraus, bevor ich mich frage, ob das vielleicht arrogant rüberkam. «Weniger Fleisch hilft auch schon», schiebe ich versöhnlich hinterher.
«Isst du deshalb vegetarisch?»
«Ja, auch deshalb.»
«Vermutlich will ich gerade nicht wissen, was auch deshalb bedeutet, oder?»
«Vermutlich nicht.»
«Okay, erzähl’s mir ein andermal. Möchtest du noch einen Nachtisch?»
Zweiunddreißig Dollar für einen Teller mit Gnocchi. Darüber werde ich niemals hinwegkommen. «Nein, danke.»
«Dann suchen wir uns jetzt eine Bar, in der du mit gutem Gewissen etwas trinken kannst, weil wir deshalb nicht für den Rest des Monats pleite sein werden, okay? Vielleicht finden wir sogar gleich hier in der Mall etwas.»
Eine Bar. Das hört sich nicht so an, als ließe sich das mit den Kneipen in Jasper vergleichen. Und vielleicht sollte ich Jackson gegenüber erwähnen, dass ich in meinem Leben bisher nicht nur selten Wein getrunken habe, sondern sogar noch seltener Härteres. Ich mag nicht mal Bier.
«Okay», sage ich stattdessen. Nachdem ich mich erst wegen der Preise aufgeregt und Jackson dann auch noch sein Abendessen verleidet habe, will ich nicht schon wieder alles verkomplizieren. «Suchen wir eine Bar. Und diesmal lade ich dich ein.»
JACKSON
A uf der Informationstafel in der Mall stehen gleich vier Bars, und ich merke mir den Weg zu zweien. Gleich die erste ist ein Treffer. Im Gegensatz zum Atelier befindet sie sich direkt unter dem Glasdach. Mittlerweile ist es dunkel geworden, und unzählige LED -Lichter simulieren einen Sternenhimmel, der mit echten Sternen beinahe mithalten kann. Sämtliche Barhocker vor dem Tresen sind besetzt, doch Haven dürfte sich auf diesen Plätzen ohnehin nicht sehr wohl fühlen. Hier stehen jede Menge Sessel vor winzigen Tischen, und keine zwei von ihnen sehen gleich aus.
Haven lässt sich auf einen rot-gold-weiß gestreiften Armlehnensessel nieder, während ich meine Jacke auf dunkelblauen Samt fallen lasse.
«Weißt du schon, was du trinken möchtest?»
«Nein … vielleicht … einen Cocktail oder so?»
Ich halte in der Bewegung inne. Caydens Stimme tönt spöttisch in meinem Kopf: Die hat garantiert noch nie Alkohol getrunken. Ich Idiot.
«Das wäre nicht dein erster Cocktail, oder?»
«Quatsch.»
Täusche ich mich, oder hat Haven gerade gezögert?
«Was für einen Cocktail möchtest du?»
«Einen Cosmopolitan.»
Das kam schnell. Ein wenig zu schnell.
Schon wieder muss ich an Cayden denken, und diesmal hält er mir vor, dass ich mich wie Havens Beschützer aufführe, ohne überhaupt zu wissen, ob sie einen braucht. Oder will. Wenn ich sie jetzt frage, ob sie tatsächlich schon einmal einen Cosmo getrunken hat, höre ich mich an wie ihr Babysitter.
«In Ordnung», sage ich daher und schwenke ab zum Tresen.
Der Barkeeper wirft mir einen erstaunten Blick zu, als ich einen Old Fashioned bestelle und dazu einen Cosmopolitan mit der halben Menge Wodka. Sollte Haven das herausschmecken, werde ich es auf den Barkeeper schieben.
Einen grinsenden Cayden vor Augen, stelle ich Haven kurz darauf ihr Glas vor die Nase. Haven nippt so vorsichtig an dem rosa Getränk, dass sofort deutlich wird, dass auch dieser Drink eine Premiere für sie darstellt. Von wegen, es sei nicht ihr erster – ich muss an Samuel denken, der lässig einwirft, dass er auch lange aufbleibt, und frage mich, ob Haven ähnliche Gründe hat wie ihr Cousin, mich glauben machen zu wollen, sie kenne sich mit Cocktails aus. Denkt sie, ich würde sie weniger ernst nehmen, nur weil sie bisher kaum Erfahrungen mit Alkohol gesammelt hat?
Darauf werde ich sie ansprechen, aber nicht heute. Nicht, wenn es ihr wichtig zu sein scheint, nicht so unerfahren zu wirken. Was muss ich Depp sie auch in eine Bar schleppen? Hätte ich mir mal mehr Gedanken gemacht und wäre nicht einfach blind dem klassischen Ablauf eines solchen Abends gefolgt …
«Was hast du für einen?», fragt Haven.
«Bitte?»
«Dein Cocktail – wie heißt er?»
«Old Fashioned.»
«Du trinkst ihn gar nicht.»
Das stimmt. Im Gegensatz zu Haven, die ihr Glas bereits zur Hälfte geleert hat, habe ich meinen Drink noch nicht einmal angerührt. Sicherheitshalber ziehe ich den Tumbler näher zu mir, bevor Haven als Nächstes auf die Idee kommt, probieren zu wollen.
«Meiner schmeckt lecker», teilt sie mir jetzt mit. «Fruchtig. Ist da Cranberrysaft drin?»
«Unter anderem. Man muss diesen Drink ganz langsam trinken.»
«Warum?»
«Weil … die Aromen darin eine Weile brauchen, um sich zu entfalten», improvisiere ich.
«Ah.» Sie nippt erneut. «Erzähl noch mal, warum du dein Studium nicht magst.»
«Was?»
«Warum studierst du Jura? Nur weil dein Vater Anwalt ist?»
Das hat sie sich gemerkt? Ausgerechnet? «Weil …» Diesmal bin ich es, der zu hastig aus seinem Glas trinkt. «Ich glaube, bei mir zu Hause stand einfach nie eine andere Option im Raum.»
Haven nickt langsam, dann lacht sie leise.
Sie kichert jetzt schon. Dabei ist ihr Glas noch nicht mal leer.
«Was würde passieren, wenn du einfach etwas anderes studierst?»
«Keine Ahnung. Als Erstes würden meine Eltern vermutlich die finanzielle Unterstützung einstellen.»
«Ach – du bekommst noch Geld von ihnen?»
Havens Überraschung ist echt, und es liegt keinerlei Spott in ihrer Stimme, trotzdem presse ich kurz die Lippen zusammen. Wunder Punkt. Treffer.
«Ich wollte meinen Vater auch fragen, ob er mir finanziell helfen würde, aber dann hatten wir diese Diskussionen wegen Mum, und deshalb habe ich es nicht getan. Und jetzt, wo Tante Caroline – nein, nur Caroline – auf keinen Fall auch nur einen Dollar von mir annehmen will, dafür, dass ich bei ihr wohne …» Sie schließt für einen Moment die Augen und schüttelt leicht den Kopf. «Es fühlt sich komisch an.»
«Was?»
«Alles. Wie schnell wirkt so ein Cocktail?»
«Schnell, wenn man Alkohol nicht gewohnt ist. Das bist du nicht, oder?»
Erneut schüttelt Haven den Kopf, hört aber unmittelbar wieder damit auf. «Ich glaube, hier mixen sie die Cocktails mit mehr Alkohol», sagt sie, und ich blicke hinunter auf mein Glas, um das Lächeln zu verbergen. «Ja, kann sein».
«Jedenfalls … was würdest du denn studieren wollen?»
«Keine Ahnung», wiederhole ich. «Irgendwas mit Sprachen vielleicht.»
«Willst du Übersetzer werden?»
«Nein … vielleicht Lehrer.»
«Lehrer. Du könntest … ein Sprachlehrer werden», sagt sie und kichert schon wieder. «Welche Sprachen denn?»
«Ich finde viele Sprachen schön … Italienisch. Oder Französisch. Norwegisch finde ich auch interessant.»
«Norwegisch? Du sprichst Norwegisch?»
«Nein, nicht wirklich, aber ich hatte an der Highschool mal einen Kurs.»
«Sag etwas auf Norwegisch», bittet Haven und mustert mich mit schiefgelegtem Kopf. Ich bin ein Arsch, so etwas überhaupt zu denken, aber … im angetrunkenen Zustand ist Haven ziemlich niedlich. Weniger beherrscht. Man könnte ihren Zustand garantiert verflucht leicht ausnutzen. Sollten wir jemals auf eine Party gehen, werde
ich sie nicht aus den Augen lassen.
«Jackson? Überlegst du?»
«Ja, ich … du er veldig søt .»
Haven lacht entzückt auf. «Was heißt das?»
«Du bist sehr süß.»
«Oh.»
Ich habe noch nie erlebt, dass Haven errötet, und wahrscheinlich hat es momentan auch mehr mit dem Wodka zu tun, doch ihre normalerweise so helle Haut färbt sich dunkler.
«Du auch», sagt sie und beugt sich über den Tisch.
Ein zart dahingetupfter Kuss auf meinen geschlossenen Mund, dann spüre ich Havens Zungenspitze über meine Unterlippe streichen.
«Ich mag das», flüstert sie.
«Was?», tue ich ahnungslos und erwidere ihren Kuss. Keine Ahnung, warum ich es in dieser Sekunde so gern von ihr hören möchte.
«Dich zu küssen.»
Ich wollte es hören, weil dieser Satz wie ein elektrischer Impuls durch meinen Körper fährt, und irgendwie habe ich das wohl gewusst.
Ihre Hände umfassen mein Gesicht, als sie sich noch ein Stück weiter in meine Richtung lehnt, und es ist ein sehr zaghaftes Ausprobieren, ein vorsichtiges Vorantasten, ähnlich wie vor einiger Zeit am Silent Lake .
«Weißt du», flüstert sie, «ich finde dich wunderschön.»
Das hat noch nie eine Frau zu mir gesagt. Also jedenfalls nicht mit diesen Worten. Vielleicht würde ich in diesem Moment verlegen grinsen, hätte ich nicht Besseres zu tun.
Haven schmeckt nach ihrem Drink, fruchtig-herb, und nach Haven. Das Gefühl, das in mir aufsteigt, katapultiert mich zurück zu den Athabasca Falls, schäumende Strudel und hauchzarter Nebel, der sich auf unsere Gesichter legt. Ich erinnere mich an das ehrfürchtige Staunen, das mich ergriff, als dieser riesige Wapitibulle aus dem Unterholz getreten ist. Das kristallklare Wasser des Sees. Haven, die in der Luft zu schweben scheint, das rote Haar eine schimmernde Aureole.