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001 - Wild like a River

Page 17

by Kira Mohn


  Zum ersten Mal küsse ich Haven ohne jegliche Zurückhaltung, und als Haven sich mir daraufhin stärker entgegendrängt, bin ich erleichtert, weil mir in derselben Sekunde klar wird, dass ich hätte aufhören müssen, hätte ich auch nur den Hauch eines Widerstands gespürt.

  So muss es sein. Genau so muss es sein. Ich kann mir nichts vorstellen, das mich mehr ins Chaos stürzen könnte und mich gleichzeitig innerlich stärker ins Gleichgewicht bringt, als Haven zu küssen.

  18

  HAVEN

  J ackson hat mich vorgewarnt, dass ich einen Kater bekommen könnte, doch der bleibt am Sonntagmorgen dankenswerterweise aus. Vielleicht bin ich etwas müder als gewöhnlich, aber das kann auch daran liegen, dass es schon kurz vor zwei war, als wir bei Caroline ankamen, und fast halb drei, als ich dann endlich die Haustür leise geöffnet habe.

  Nach dem Frühstück, bei dem Lucy nicht dabei ist – sie hat bei einer Freundin übernachtet –, packe ich meinen Rucksack für morgen mit den Dingen, die Jackson für meinen ersten Tag an der Universität für notwendig hält: einen Block und einen Kugelschreiber.

  Anschließend stopfe ich noch all die Sachen dazu, die ich vielleicht ebenfalls brauchen könnte. Das Vorlesungsverzeichnis. Einen Stundenplan, den ich mir geschrieben habe, inklusive sorgfältig notierter Raumnummern. Außerdem Zeichenpapier, zwei Bleistifte, einen Radiergummi, ein Lineal, einen Anspitzer und Kaugummi. Das Kaugummi kommt von Caroline, es beruhige die Nerven, hat sie gesagt.

  «Freust du dich auf morgen?», wollte sie wissen, und ich habe das bejaht. Ich freue mich wirklich.

  Ich habe nicht übertrieben, als ich Jackson gegenüber meinte, ich hätte mich zwischen den Kursen kaum entscheiden können: Mein Tag würde viel mehr Stunden brauchen, um alles, was interessant klingt, unterzubringen. Die Auswahl ist weit größer als bei dem Fernstudium, wo die Inhalte von Semester zu Semester weitestgehend vorgegeben werden.

  Jackson und ich sind morgen in der Mensa verabredet. Meine ersten beiden Vorlesungen liegen dann schon hinter mir, ‹Ökotoxikologie› und ‹Klimawandel und Biodiversitätsanpassungen›.

  Heute Nachmittag treffen wir uns ebenfalls, und ich bin deshalb aufgeregter als wegen morgen. Nicht nur, weil mein Herz wie verrückt gegen meine Brust zu trommeln beginnt, sobald ich an Jackson denke. Sondern auch, weil wir einen ersten Blick in das Album werfen wollen, das in diesem Moment hinter mir auf dem breiten Bett liegt.

  Caroline meinte, die weiße Tagesdecke sei nur ein Notbehelf, und hat vorgeschlagen, nächste Woche zusammen einkaufen zu gehen. Aber eigentlich gibt es nichts, das ich wirklich noch brauchen würde. Der Schreibtisch mit seinen vielen Schubladen ist der pure Luxus gegenüber dem winzigen Tisch, der bei mir zu Hause vor dem Fenster steht. Meine mitgebrachten Kleider füllen kaum ein Drittel des Schranks, und abgesehen von einem hohen – bisher leeren – Bücherregal gibt es zusätzlich noch einen moosgrünen Sessel, von dem Caroline wissen wollte, ob sie ihn hinausschaffen solle. Auf keinen Fall. Er erinnert mich an die Abende, die ich mit Dad vor dem Kamin verbracht habe.

  Bisher habe ich Dad nicht angerufen, und ich werfe einen Blick auf die Uhr. Die Zeit würde dafür noch reichen.

  Mit lang ausgestreckten Beinen sitze ich auf dem flauschigen, hellen Teppich, den Rücken gegen das Bett gelehnt. Eine Weile mustere ich das Smartphone in meiner Hand, dann tippe ich ein paar Sätze.

  Hi Dad, ich bin gut angekommen, alles ist okay. Ich melde mich die Tage wieder.

  Senden.

  Noch während ich überlege, ob ich etwas hinzufügen soll, vibriert das Telefon in meiner Hand.

  Danke für deine Nachricht. Grüß bitte Caroline von mir. Pass auf dich auf. Dad

  So leere Worte zwischen uns. Plötzlich fällt mir das Schlucken schwer.

  «Haven? Jackson ist da!», ruft meine Tante von unten.

  Im nächsten Moment klopft es an der Tür, und ich springe auf, um sie aufzureißen. Jackson lächelt auf eine Art, bei der ich ihn ins Zimmer ziehen und meine Arme um seinen Hals schlingen möchte.

  «Hey», sagt er.

  Ich greife nach seiner Hand, ziehe ihn ins Zimmer und schlinge die Arme um seinen Hals. Ich könnte diesen Mann ständig küssen und kann nur hoffen, dass es ihm genauso geht.

  «Deine Tante will wissen, ob sie uns etwas zu essen hochbringen soll – es ist eine Weile her, dass ich mich erst mit Eltern unterhalten musste, bevor ich meine Freundin sehen kann.»

  «Nur ist Caroline nicht meine Mutter.»

  «Nein, ich weiß.» Das Grinsen verschwindet aus seinem Gesicht, und mir tut das leid – so habe ich es gar nicht gemeint. Ich wollte ihn nicht zurechtweisen.

  «Das ist das Fotoalbum?» Er sieht zum Bett hinüber.

  «Ja», erwidere ich und gleite aus seinen Armen, um es hochzunehmen.

  «Na dann.» Jackson lässt sich auf die Matratze fallen. Sein Blick ist ernst, aber er grinst. «Soll ich noch mal runtergehen und deiner Tante sagen, sie soll uns Sandwiches hochbringen, als seien wir verfressene Teenager, oder schlagen wir die erste Seite auf?»

  «Wir schlagen die erste Seite auf.» Ich setze mich dicht neben Jackson, und bevor mich der Mut verlassen kann, blättere ich das Buch auf. Es sind nur Bilder. Und sollten sie mir überhaupt nichts sagen, ist es ja wohl auch kein Drama.

  Auf dem inneren Einband klebt in der Mitte ein einzelnes Babyfoto. ‹Haven Elena› steht in runder Schrift darunter, und unwillkürlich taste ich mit den Fingerspitzen über die Buchstaben. Das hat Mum geschrieben.

  «Haven Elena», murmelt Jackson.

  «Wie ist dein zweiter Vorname?»

  «Ich habe drei: Jackson Franklin Zachariah Levy. Mein Vater und mein Großvater. Merk sie dir erst gar nicht.»

  Er lacht, dann sieht er von dem Foto auf und greift nach meiner Hand. «Alles okay?», fragt er.

  «Ich glaub schon. Es ist nur … ich weiß auch nicht. Einfach schon lange her, dass ich irgendetwas berühre, was Mum mal berührt hat.»

  Jacksons Finger schließen sich fester um meine. «Ich berühre gerade auch etwas, das deine Mum berührt hat», sagt er und schafft mit seine Worten einen dieser Momente, in denen man sich plötzlich fühlt, als sei man von etwas Großem, etwas Gewaltigem gestreift worden. Das erste Mal habe ich das erlebt, als ich begriff, dass die Erde nur ein unbedeutendes Pünktchen inmitten Myriaden von Welten ist, das zweite Mal, als Dad mir sagte, dass Mum einen Unfall hatte – tot, ausgelöscht, einfach nicht mehr da, etwas, das mir bisher unmöglich erschienen war.

  Und jetzt wird mir auf einmal klar, dass ich nicht Mums Kleider brauche, um ihr nahe zu sein, nicht ihren Ring, und ich muss auch nicht mit den Fingern die von ihr geschriebenen Worte nachzeichnen. Sie hat mich in den Armen gehalten, getragen, gewiegt, hielt meine Hand in ihrer, so wie Jackson das gerade tut – solange ich da bin, ist sie nicht fort.

  Seltsam losgelöst schlage ich die erste Seite auf, und dort sind wir, wir alle drei: Dad, Mum und ich. Zum ersten Mal seit langem sehe ich ein Foto meiner Mutter.

  Ja, Dad hat über sie geredet, wann auch immer ich nach ihr gefragt habe, und er hat mir das einzige Bild von ihr gezeigt, das er noch besitzt, so oft ich es sehen wollte. Zumindest dachte ich lange, es sei das einzig existierende Bild.

  Auf dem Bild, das Dad mir immer gezeigt hat, sitzt Mum auf einer Wiese, ihre Augen sind geschlossen, und sie hat ihr Gesicht dem Himmel entgegengestreckt. Ich habe mir dieses Foto immer wieder angesehen, bis es sich unauslöschlich in mein Gedächtnis gegraben hat.

  Das Foto in dem Album kenne ich allerdings nicht, und es löst auch keine Erinnerungen aus. Wie auch, auf dem Bild bin ich noch ein Baby, und während Mum und Dad links und rechts von mir in die Kamera lachen, gucke ich auf etwas, das sich irgendwo vor mir auf dem Boden befinden muss.

  «Ich habe noch nie ein Baby mit so vielen roten Haaren gesehen», sagt Jackson. «Wobei ich überhaupt noch nicht sehr viele Babys gesehen habe», schränkt er seine Aussage ein.

  Ich blättere weiter. Auf den nächsten Seiten finden sich weitere Babyfotos, und meistens ist Mum mit auf dem Bild. Sie hat mich gestillt. Darüber habe ich mir bisher nie Gedanken gemacht, doch es ber�
�hrt mich, es nun zu wissen.

  Es gibt ein Foto, auf dem ich nach einem Schnuller greife, den sie mir hinhält, und sie ist es, die den Kinderwagen schiebt, aus dem heraus ich denjenigen anstrahle, der das Bild gemacht hat. Unwillkürlich frage ich mich, ob Mum zu diesem Zeitpunkt vielleicht schon unzufrieden war und ob sie mit Dad drüber gesprochen hat. Wollte sie in Edmonton bleiben? Oder wären wir irgendwann in einer anderen Stadt gelandet? Mit oder ohne Dad?

  Im Laufe der Seiten werde ich älter. Klein Haven in einem aufblasbaren Planschbecken oder unter Schaumbergen begraben in der Badewanne, und dann ist da ein Foto, das mich zeigt, wie ich konzentriert vor einem Puzzle sitze.

  «Das kenne ich», sage ich.

  «Das Bild?», fragt Jackson.

  «Nein, das Puzzle – ich kenne es. Ich hatte vier davon, sie waren alle in einer Schachtel, und die Puzzleteilchen hatten unterschiedliche Rückseiten, damit man sie auseinanderhalten konnte, Streifen und Punkte und Kreuzchen und so was.» Auf dem Foto setze ich gerade den Hasen zusammen, doch es gab auch noch einen Fuchs, eine Maus und ein Reh. «Waldtiere», murmele ich. «Das Waldtiere-Puzzle.»

  Manchmal habe ich alle Puzzles gemacht, die ich besaß, und das waren viele. Sie lagen dann in einer Reihe nebeneinander in unserer langen Diele. Die lange Diele – an ihrem Ende war die Küche, und einmal bin ich zu schnell gerannt und über die offene Spülmaschinentür gefallen. Ich habe noch heute davon eine Narbe am rechten Auge.

  «Haven? Weinst du?»

  Meine Hand, mit der ich die Narbe an meinem Auge berührt habe, sinkt wieder herunter. Ganz kurz nur fällt es mir schwer, einen Anfang zu finden, doch dann erzähle ich Jackson von der langen Diele und den Puzzles und der Spülmaschine und dem vielen Blut und meiner Mutter, die mich so lange in ihren Armen hielt, einen in ein Handtuch gewickelten Kühlpack gegen mein Auge gedrückt, bis ich aufhörte zu weinen.

  «Und es standen Kräutertöpfe auf der Fensterbank», füge ich noch hinzu. «Ich habe mir manchmal ein Minzblättchen abgezupft und darauf herumgekaut, Lucy und ich taten so, als sei es Zauberminze und …»

  Lucy. Ob sie sich daran auch noch erinnern kann? Sie war mein Schatten, meine kleine Bewunderin, die alles gut fand, solange es nur von mir kam.

  «Wir könnten deine Tante fragen, in welchem Haus ihr gelebt habt, und es uns ansehen.»

  «Das … ja!» Wieso bin ich nicht selbst darauf gekommen? «Lass uns das gleich machen!»

  «Okay.»

  Jackson hat meine Hand nicht losgelassen, wird mir in dem Moment bewusst, in dem wir gemeinsam aufstehen, und weil er das plötzlich in mir aufbrandende warme Gefühl nicht spüren kann, umfasse ich ihn mit beiden Armen, so fest ich eben kann.

  «Was war das denn?», fragt er grinsend, als ich ihn irgendwann wieder loslasse.

  «Einfach nur so. Weil es dich gibt.»

  JACKSON

  D ie Adresse, die Caroline uns gegeben hat, führt uns nur zwei Straßen weiter. Es ist ein hellgraues Holzhaus mit einer breiten Veranda und einem ebenso großen Balkon direkt darüber. Das weiße Geländer und die weißen Fensterrahmen wirken, als seien sie vor kurzem erst frisch gestrichen worden. Haven ist direkt vor dem Pflasterweg stehen geblieben, flache Natursteinplatten, die bei grauen Holzstufen enden, über die man die Veranda erreicht. Der frisch gemähte Rasen leuchtet im Sonnenlicht.

  «An die Zinnien kann ich mich nicht erinnern.» Sie zeigt auf ein kreisrundes Beet mit dunkelroten Blumen, das um einen kurzen weißen Mast herum angelegt wurde. Drei gusseiserne Metalllampen sind daran angebracht. «Und an die Laternen auch nicht.» Sie verschränkt ihre Oberarme, als sei ihr kalt. «Aber die Bäume waren schon damals da … nur kleiner.»

  Eine silbergraue Tanne fächert ihre Zweige auf der rechten Seite des Vorgartens zu einer akkuraten Pyramide – bestimmt wird aus ihr in einigen Monaten ein lichtgeschmückter Weihnachtsbaum. Zwei Birken stehen links und rechts neben dem Haus, und über dem Dachfirst ist die Krone eines weiteren Baumes zu sehen.

  «Hinten steht ein Zuckerahorn. Dad hat im Herbst immer wegen der Blätter herumgemeckert, aber Mum fand den Baum wunderschön. Und es gab eine überdachte Terrasse. Wir haben da das Planschbecken aufgebaut, und Lucy und ich, wir haben …» Sie zögert. «Wir haben dort mit anderen Mädchen gespielt, aber ich weiß nicht mehr, wie sie hießen.»

  «Sollen wir klingeln und fragen, ob wir uns das Haus mal von innen anschauen dürfen?», schlage ich vor.

  «Nein, lieber nicht. Vielleicht ein andermal. Ich will nicht irgendwelche Leute stören, die mich gar nicht kennen.»

  Sie hat bisher kein einziges Mal den Blick vom Haus abgewandt. «Mein Zimmer war da oben, siehst du? Auf der linken Balkonseite. Es gab da drin keine Tür direkt nach draußen, aber vom Schlafzimmer meiner Eltern aus kam man auf den Balkon.»

  Vor meinen Augen sehe ich ein kleines Mädchen mit langen roten Haaren aus der Tür dort oben treten und sich über das Geländer lehnen.

  «Die Haustür sah anders aus, sie war auch weiß, aber sie hatte oben diese Glasfenster … Mum wusste immer sofort, wer auf der Veranda stand. Ich war dafür nicht groß genug, aber ich konnte zumindest sehen, ob der Himmel blau war oder ob es regnete.» Sie lächelt, während sie das sagt, dann wird sie plötzlich wieder ernst. «Sie wollte meinen Vater verlassen.»

  «Deine Mutter? Woher …?»

  «Dad hat es mir erzählt. Als ich ihm sagte, dass ich nach Edmonton gehen will. Ich frage mich, ob wir weiterhin hier gewohnt hätten, meine Mutter und ich. Und ob Dad trotzdem nach Jasper gezogen wäre.»

  Was für eine großartige Idee, seiner Tochter ein schlechtes Gewissen zu machen: Deine Mutter wollte mich verlassen, und jetzt auch noch du. Ich verkneife mir alles, was mir dazu auf der Zunge liegt.

  «Was für ein Mensch wäre ich heute, wenn meine Mutter nicht diesen Unfall gehabt hätte? Mit Sicherheit wäre ich einfach … normaler, oder?»

  «Ich finde dich perfekt, genau so, wie du bist», erwidere ich. «Wer entscheidet denn, was normal ist und was nicht?»

  «Ich weiß nicht.» Obwohl bei meinen Worten für den Bruchteil einer Sekunde ein Lächeln über ihr Gesicht fliegt, wirkt Haven alles andere als überzeugt. «Die ganze Zeit denke ich, ich wäre heute vielleicht glücklicher. Hätte Freunde und so und all die Erfahrungen gemacht, die andere in meinem Alter schon viel früher gemacht haben.»

  «Vielleicht hätten wir uns dann nie kennengelernt.»

  Haven sieht mich an, und jetzt findet sie wirklich zu ihrem Lächeln zurück. «Wir wären uns bestimmt während des Studiums begegnet.»

  «Unwahrscheinlich. Die Rechtswissenschaftler und die Klimawandel-Studenten haben nicht sehr viele Kurse gemeinsam.»

  «Es muss doch kein gemeinsamer Kurs sein … wir wären uns einfach so mal über den Weg gelaufen.»

  Sie wäre mir mit Sicherheit aufgefallen. Aber ob das umgekehrt auch der Fall gewesen wäre? Wahrscheinlich wäre sie längst in einer Beziehung mit irgendeinem anderen Typen gewesen.

  «Lass uns zurückgehen.» Sie verschränkt ihre Finger mit meinen.

  «Sicher, dass wir nicht doch kurz klopfen sollen? Du könntest dir dein ehemaliges Kinderzimmer ansehen. Oder wenigstens einen Blick in den Garten hinten werfen.»

  Sie sieht noch einmal zum Haus, nur für einen Moment, dann zieht sie mich mit sich. «Irgendwann mache ich das. Aber nicht heute.»

  Kurz bevor wir die Straße erreichen, in der Caroline wohnt, wird Haven plötzlich langsamer. Drei Mädchen kommen auf uns zu. Sie haben sich beieinander untergehakt und scheinen alle auf einmal zu reden.

  «Das ist Lucy.»

  «Welche von ihnen?»

  «Die in der Mitte. Das Mädchen mit den blonden Haaren.»

  Lucy ist schlank und nicht sehr groß. In diesem Moment entdeckt sie uns ebenfalls, und während ihre beiden Freundinnen weiterplappern, klappt sie abrupt den Mund zu. Sekunden später haben sie uns erreicht.

  «Hallo, Lucy», sagt Haven.

  Nicht nur Lucy, sondern auch die beiden anderen Mädchen mustern uns, im Falle von Lucys Freundinnen überrascht, Lucy selbst dagegen mit einem ziemlich unangenehmen Ausdruck im Gesicht. Statt H
avens Gruß zu erwidern, verzieht sie ihre Lippen lediglich zu einem abfälligen Grinsen, dann packt sie ihre Freundinnen fester und läuft einfach wortlos an uns vorbei. Sekunden später hören wir sie lachen, und als ich mich zu ihnen umdrehe, begegne ich Lucys Blick. Hastig wendet sie sich ab, während die beiden anderen Mädchen immer wieder kichernd über ihre Schultern sehen. Guck mal an. Drei kleine Mistgören.

  Haven wirkt plötzlich noch etwas blasser als üblich. Sie läuft weiter, ohne etwas zu dem Vorfall zu sagen, doch ich überlege nur kurz, ob ich dieses Schweigen einfach hinnehmen soll.

  «Das ist also deine Cousine, die beim Abendessen Textnachrichten versendet.»

  «Ja.» Haven lacht nicht besonders fröhlich. «Sie mag mich nicht.»

  «Irgendeine Idee, warum?»

  Sie zuckt mit den Schultern. «Wir haben uns noch kein einziges Mal unterhalten – sie findet es offenbar einfach blöd, dass ich bei ihnen wohne.»

  «Könnte sie eifersüchtig sein?»

  «Worauf denn?»

  «Na ja, vielleicht nimmt Caroline sich gerade viel Zeit für dich.»

  «Meine Tante würde sich genauso viel Zeit für Lucy nehmen, doch sie scheint nicht häufig zu Hause zu sein.»

  Okay, wenn es das nicht ist … Vermutlich ist der Grund viel simpler. Havens Cousine ist sechzehn, albern und stört sich an Havens Kleidung. Ich hoffe nur, dass die Leute in meinem Umfeld sich nicht so oberflächlich verhalten werden. Wenn ich allerdings an Stella, Kaylee und Diane denke, die Tag für Tag aussehen, als seien sie einem der Magazine entstiegen, die sie lesen … oder nehmen wir Cayden: Seine Outfits sind üblicherweise ein einziges, sorgfältig aufeinander abgestimmtes Statement, so etwas wie Jeans besitzt er erst gar nicht. Jedes Anwaltsbüro würde ihn vermutlich aufgrund seines perfekten Äußeren und natürlich wegen seines Namens einstellen. Eigentlich könnte er sich das Studium sparen. Ausgehend vom Enthusiasmus, den Cayden dabei an den Tag legt, sieht er das ähnlich.

 

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