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001 - Wild like a River

Page 29

by Kira Mohn


  «Warum hätte ich das tun sollen?»

  «Weil du es mir versprochen hast.»

  «Ich hab versprochen, dir so was zu sagen?»

  «Ja.»

  Die Stimmung, in der Haven sich befindet, ist mir neu. Letzte Nacht war sie völlig fertig und unglücklich, doch während sie jetzt mit verschränkten Armen am Geländer der Wendeltreppe lehnt, wirkt sie eher … kämpferisch.

  «Okay, mal langsam. Du wolltest, dass ich dir sage, wenn ich denke, dass du durch irgendetwas blöd rüberkommst.»

  «Genau.»

  «Ich denke das aber nicht.»

  «Wenn die ganze Welt mich Waldmädchen nennt, dann ist das etwas, was ich gern gewusst hätte. Wenn sie dich hinter deinem Rücken … Feigling nennen würden, und ich wüsste das, würdest du dann nicht auch wollen, dass ich dir das sage?»

  Tiefschlag. Aber berechtigter Tiefschlag.

  «Du hast es mir nicht erzählt, weil du gedacht hast, es würde mich verletzen, oder? Und es verletzt mich ja auch. Vielleicht denkst du, du würdest mich irgendwie schützen, aber ich hätte es trotzdem gern gewusst. Und du hast es mir versprochen.» Bei den letzten Worten zittert ihre Stimme, und sie räuspert sich. «Und wer ist Lynn?»

  «Was?»

  «Lynn. Wer ist Lynn?»

  «Lynn … Lynn und ich … waren befreundet.»

  «Befreundet oder zusammen?»

  «Beides.»

  «Aber es war nichts Ernstes?»

  Die einfachste Antwort ist zugleich die ehrlichste, und deshalb spreche ich sie aus, obwohl ich ahne, was das bedeutet. «Doch.»

  «Mir hast du erzählt, deine bisherigen Beziehungen wären nie etwas Ernstes gewesen.»

  «Ich weiß.»

  «Warum? Dachtest du, ich könnte sauer sein, weil du vor mir andere Beziehungen hattest, die dir etwas bedeutet haben? Das wäre ich nämlich nicht gewesen.»

  «Nein, ich dachte … ich war nicht sicher, ob du mir glauben würdest, dass die Sache mit Lynn wirklich abgeschlossen für mich ist.»

  Daraufhin erwidert Haven nichts. Sie mustert mich nur. Abwartend.

  «Lynn und ich waren Freunde. Seit ich denken kann. Wir haben nebeneinander gewohnt und uns jeden Tag gesehen, sie war der Mensch, dem ich immer alles erzählen konnte, und umgekehrt war das genauso. Dachte ich. Es schien für jeden, der uns kannte, völlig klar, dass wir irgendwann zusammenkommen würden, unsere Eltern haben es geradezu erwartet. Es sich gewünscht. Sie sprachen über uns, als seien wir quasi schon verheiratet. Wir kamen zusammen, weil wir dachten, das, was wir Freundschaft nennen, sei vielleicht schon Liebe. Aber dann hat Lynn sich wirklich verliebt.»

  Ich habe darüber bisher zweimal in meinem Leben geredet. Einmal mit Cayden, kurz nachdem ich bei ihm eingezogen bin. Da war ich betrunken. Er hat es verstanden. Und einmal mit Stella, um mir selbst zu beweisen, dass es zwischen uns nicht nur eine oberflächliche Beziehung ist, obwohl es sich so anfühlte. Stella hat es nicht verstanden. Wie oft habe ich ihr danach versichern müssen, dass Lynn kein Thema mehr ist?

  «Was ist dann passiert?», fragt Haven leise.

  «Sie hat sich nicht getraut, es irgendjemandem zu erzählen. Sie hat sich nicht getraut, es mir zu erzählen. Ich hab’s zufällig rausgefunden, und das Schlimme war nicht, dass sie etwas mit einem anderen angefangen hat. Das Schlimme war, dass sie mir nicht genug vertraut hat, um mit mir darüber zu sprechen.»

  «Ja, so was tut weh», bestätigt Haven, und ich weiß, es ist kein Seitenhieb, obwohl es einer sein könnte. «Du hättest mir von Lynn erzählen sollen, dann hätten Stellas Andeutungen gar keine Wirkung gehabt.»

  Bisher habe ich noch gar nicht darüber nachgedacht, durch wen Haven von Lynn erfahren hat, aber klar. Es war Stella.

  «Und ich hätte es verstanden», redet Haven weiter. «Aber du hast mir das nicht zugetraut. Oder vielleicht war es auch nur einfacher für dich. Der leichtere Weg.» Sie stößt sich vom Geländer ab, ihre Arme fallen herunter. «Wir sollten uns eine Weile nicht sehen. Ich glaube, ich muss ein paar Dinge allein klarkriegen.» Die ersten Stufen der Wendeltreppe ist sie schon heruntergegangen, da dreht sie sich noch mal um. «Irgendwie glaube ich übrigens auch, dass die Sache mit Lynn für dich noch nicht beendet ist. Und … ich mag das Bild von dem Elefanten in deinem Zimmer.»

  Das Bild vom Elefanten.

  Haven ist fort, und ich denke über das Bild vom Elefanten nach, der einzige Gegenstand in meinem Zimmer, den ich selbst ausgesucht habe. Alles andere war bereits vorhanden, und ich mochte das ganze Zeug nie, aber es war nun mal einfacher, es zu behalten. Warum auch nicht. Der leichtere Weg. Ich nenne Leute meine Freunde, weil die sich eben als meine Freunde betrachten, und ich beginne Beziehungen, weil andere mir erklären, das würde doch gut passen, und ich studiere Rechtswissenschaften, weil meine Eltern das erwarten, und alles, was ich in meinem Leben wirklich will, ist das Bild vom Elefanten.

  Und ich wollte Haven.

  Wir sollten uns mal eine Weile nicht sehen.

  Ich trete mit solcher Wucht gegen den Glastisch, dass ein scharfer Ton erklingt und ein langer Riss sich auf der glatten Oberfläche zeigt.

  Keine Ahnung, wie lang ich auf dem Sofa sitze, bevor Cayden nach Hause kommt und entsetzt auf den zerstörten Glastisch starrt. «Scheiße, was ist denn hier passiert?»

  Es gibt ein paar Dinge, die müssen sich ändern.

  Sofort.

  Abrupt richte ich mich auf. «Willst du das wirklich wissen?» Ich gehe an ihm vorbei in mein Zimmer, mustere das Bild mit dem Elefanten.

  «Klar», sagt Cayden, der mir gefolgt ist.

  «Dann hör zu.»

  30

  HAVEN

  E s wundert mich nicht, dass Jon plötzlich in keiner meiner Vorlesungen oder Seminare mehr auftaucht. Und wenn ich mir vage blöd vorkomme, jemals angenommen zu haben, er sei da gewesen, weil er sich für die Inhalte interessiert, dann geht das in Ordnung. Ich bin eben ein Waldmädchen.

  An einem Donnerstagnachmittag begegnen wir uns zufällig in der Bibliothek, stoßen fast zusammen, weil ich mit zwei Büchern, die ich mir für das gleich anstehende Seminar besorgt habe, zu schnell um die Ecke biege. Hastig tritt er einige Schritte zurück, blickt dann zur Seite und wäre vermutlich einfach wortlos an mir vorbeigegangen, würde ich ihn nicht grüßen.

  «Hi, Jon.»

  «Hi. Hi, Haven.» Er knipst ein Grinsen an. «Und, wie geht’s dir so?»

  Bei dem Gedanken, ihn geküsst zu haben – von ihm geküsst worden zu sein –, wird mir immer noch übel.

  «Es würde mir besser gehen, würde ich dich gar nicht kennen», sage ich und registriere die Röte, die ihm ins Gesicht steigt. Vielleicht auch deshalb, weil ich sehr laut gesprochen habe und in unserer Nähe Leute aufblicken, die an den langen Lesetischen sitzen. Was ich Jon jetzt mitzuteilen habe, habe ich in meinem Zimmer mehrfach geprobt. «Ich hätte mich niemals von dir küssen lassen, wäre ich nicht betrunken gewesen. Und ich nehme mal an, das hast du auch gewusst. Du Arsch», füge ich freundlich hinzu, plötzlich inspiriert durch Jacksons Ausdrucksweise.

  Dann gehe ich weiter, und das Kichern, das hinter mir zu hören ist, interessiert mich einen Dreck.

  In dem Seminar eine Dreiviertelstunde später setzt sich eine Studentin zu mir an den Tisch. Sie ist mir schon mehrere Male aufgefallen, weil ich ihre Beiträge immer um einiges durchdachter finde als die der meisten hier im Kurs.

  «Hi», sagt sie und lächelt mich an. «Ich hab dich … also, ich war gerade in der Bibliothek. Das war echt cool.»

  «Okay», erwidere ich überrascht, ein wenig unschlüssig, ob ich mehr dazu sagen sollte.

  «Ich bin Allison.» Sie nickt mir zu.

  «Ich heiße Haven.»

  Daraufhin entgegnet Allison nichts, denn in diesem Moment beginnt die Dozentin vorne zu sprechen, und Allison greift nach ihrem Stift.

  Allison ist ein Anfang. Sie ist jemand, den ich gern am allerersten Tag im Rutherford getroffen hätte. Mit ihr ist es ganz einfach, sich über alles Mögliche zu unterhalten, und als sie mich irgendwann fragt, ob ich nach unserem gemeinsamen Seminar am Donnerstag noch Lust auf einen Kaffee hätte,
stimme ich so überschwänglich zu, dass Allison lacht. Dass sie sich auch noch mit Rae versteht, ist ein Bonus, der es leichter macht, damit umzugehen, dass Kaylee, Diane und Stella mich seit der Party übersehen. Genau genommen übersieht mich nur Diane. Kaylee nickt mir zumindest zu, und Stella lächelt – aber eigentlich war mir ihr Lächeln von Anfang an nicht geheuer. Ihre Freude darüber, dass Jackson und ich nicht mehr zusammen sind, ist offensichtlich.

  Jackson habe ich seit dem Tag bei ihm zu Hause kein einziges Mal mehr gesehen. Fast drei Wochen ist das jetzt her. Und ich vermisse ihn.

  Und es gibt noch einen Menschen, den ich vermisse, und das ist mein Vater. Verrückterweise nehme ich ihm das Gleiche übel wie Jackson: Beide haben mir nicht genug zugetraut. Beide haben mir Dinge verschwiegen, die wichtig für mich gewesen wären. Vielleicht fällt es mir deshalb auch so schwer, Jackson zu verzeihen, weil es mir einfach nicht gelingen will, meinem Vater zu verzeihen.

  Es tut weh.

  Und es ist nicht einmal die Tatsache, dass seine Welt eben aus einem Wald besteht, denn ich liebe diesen Wald. Aber er hätte mir früher mehr von Mum, mehr von meiner Vergangenheit erzählen sollen, er hätte mir die Möglichkeit geben müssen, auch ihre Welt kennenzulernen.

  Ob Mum das umgekehrt getan hätte, wäre sie nicht gestorben? Wäre ich in den Schulferien bei meinem Vater in Jasper gewesen? Ich weiß es nicht. Ich weiß so wenig.

  Ich weiß, dass es Dad gegenüber ungerecht ist, mir wieder und wieder das Leben auszumalen, das ich vielleicht mit meiner Mutter geführt hätte, aber ich kann einfach nicht damit aufhören.

  Caroline hat nur ein einziges Mal nach Jackson gefragt und nicht weiter nachgehakt, als ich meinte, wir würden uns nicht mehr so oft sehen – und das war’s.

  Ich habe hier mittlerweile zwei Freundinnen.

  Ich vermisse meinen Vater.

  Und ich erwache manchmal aus einem Traum, in dem ich Jackson küsse, und jedes Mal möchte ich beides festhalten, den Traum und Jackson.

  Zum Beispiel heute. Im Zimmer ist es bereits hell, vor dem Fenster zwitschern Vögel, und Jacksons Kuss war so nah, so echt gewesen … irgendwann werde ich ihn allein deshalb anrufen, weil ich mich danach sehne, ihn zu küssen. Ihn zu berühren. Seinen Duft zu riechen, mit den Fingern durch seine Haare zu fahren …

  Dass es in diesem Moment an meine Tür klopft, kommt mir ganz gelegen. Alles, was mich aus meinen Gedanken an Jackson reißt, kommt mir gelegen.

  «Ja?»

  Lucy steckt die Nase herein. Ist heute gar keine Schule? Ach nein, es ist ja Samstag.

  «Hab ich dich geweckt?»

  «Nein, ich war schon wach.» Ich richte mich auf und streiche mir dabei ein paar zerzauste Haarsträhnen aus dem Gesicht. Seit einiger Zeit habe ich mich um Lucy gar nicht mehr bemüht. Andere Dinge waren wichtiger.

  «Was ist?», frage ich, weil sie nur im Türrahmen steht und nicht so recht zu wissen scheint, wieso eigentlich.

  Sie drückt die Tür in ihrem Rücken zu. «Erzählst du mir von deiner Zeit in Jasper?»

  «Wie bitte?»

  Deutlich verlegen lässt sie sich im Schneidersitz auf dem Teppich vor meinem Bett nieder. «Ich würde gern mehr darüber wissen … eigentlich hast du mir das sogar versprochen.»

  «Was hab ich dir versprochen?»

  «Dass du mir davon erzählst.»

  «Wann habe ich das bitte gesagt?»

  «Damals, bevor ihr gegangen seid. Du hast gesagt, du würdest mir schreiben. Erinnerst du dich?»

  Stumm schüttele ich den Kopf.

  «Hast du aber.» Lucy seufzt. «Ich hätte nicht gedacht, dass du das vergisst.»

  Ich zermartere mir das Hirn, aber es gibt nichts, gar keine Erinnerung aus dieser Zeit. Irgendwann muss ich mich von Lucy verabschiedet haben. Von meiner kleinen Cousine, die mich so bewundert hat, und ich muss ihr versprochen haben, mich bei ihr zu melden, aber das habe ich nie getan.

  «Du warst erst vier.»

  Lucy nickt. «Aber ich weiß es trotzdem noch. Ich hab sogar Mum gefragt, warum du dich nicht meldest, und sie wollte deinem Dad schreiben, aber es kam nie eine Antwort.»

  In dieser Sekunde bin ich wütender auf meinen Vater als jemals zuvor.

  «Das hat er mir nie erzählt.»

  «Denk ich mir», sagt Lucy. «Also, inzwischen. Damals dachte ich, du magst mich nicht mehr. Ich dachte, du hast mich vergessen.»

  Und das stimmt sogar. Ich habe Lucy vergessen. Wie ich so vieles vergessen habe. Weil ich das alles vergessen sollte. Und Caroline hat recht – ich muss mit Dad darüber sprechen. Sofort.

  Lucys Augen weiten sich, als ich die Decke heftig zurückschlage und die Beine aus dem Bett schwinge.

  «Ich erzähle dir alles über Jasper, was du wissen willst», sage ich. «Absolut alles, okay? Ich bin froh, dass du mich danach fragst und … es tut mir leid, dass ich dir nie geschrieben habe. Ich bin absolut sicher, dass ich es getan hätte, wenn mein Vater … mir dabei geholfen hätte.»

  Ich stehe auf und beginne damit, wahllos einige Kleidungsstücke zusammenzusuchen.

  «Was willst du denn jetzt machen?», fragt Lucy.

  «Ich werde meinen Vater fragen, warum er mir nicht geholfen hat.»

  JACKSON

  M ehr als einmal bin ich kurz davor, mich bei Haven zu melden. Noch warte ich darauf, dass sie den ersten Schritt geht, doch spätestens, wenn ich meine To-do-Liste abgearbeitet habe, werde ich das tun, was ich bei Lynn versäumt habe: um das kämpfen, was Haven und ich hatten. Wie auch immer ich das anstellen werde. Das überlege ich mir dann.

  Bisher habe ich mein Zimmer neu eingerichtet – das war leicht – und meinen Eltern mitgeteilt, dass ich das Studium hinwerfe. Das war schon schwerer. Meine Mutter brach am Telefon in Tränen aus, mein Vater kündigte mir ein paar Stunden später einen Herzinfarkt an, doch in den Tagen darauf wurden aus den Tränen Anfeindungen, und statt Infarktdrohungen stellten meine Eltern die regelmäßigen Zahlungen auf mein Konto ein.

  Scheiß drauf. Ich arbeite jetzt dreimal in der Woche in der Küche eines Restaurants, und wenn meine Eltern irgendwann ihren Schock überwunden haben, sind sie vielleicht in der Lage, ihre Enttäuschung und ihren Ärger beiseitezuschieben und sich zu melden.

  Davon abgesehen wohne ich noch bei Cayden, und ich treffe mich weiterhin mit Dylan, doch mit den anderen habe ich kaum mehr etwas zu tun. Nachdem Cayden mir erzählt hat, dass es Stella war, die dafür sorgte, dass Jon auf der Party aufkreuzte, fällt mir das ziemlich leicht. Damit wäre der Punkt Freunde? auf meiner Liste auch abgehakt.

  Glücklicherweise nimmt es Cayden nicht sehr mit, dass Kaylee stinksauer auf ihn ist, weil er das, was er von ihr über Stella erfahren hat, an mich weitergegeben hat.

  «Sorry», meinte ich, als ich das mitbekommen habe. «Ich dachte echt, aus euch würde irgendwann noch was Ernstes werden.»

  Cayden hat daraufhin nur mit den Schultern gezuckt. «Vergiss es. Feste Beziehungen sind sowieso nichts für mich.»

  Ich habe mich bereits für mein neues Studium eingeschrieben, als ich noch einmal zu dem Punkt zurückkehre, den ich direkt als Erstes angegangen bin. Fast drei Wochen ist es jetzt her, dass ich Lynn eine Nachricht geschrieben habe. Sie hat sie gelesen, aber nicht darauf reagiert. Ich könnte ihr natürlich noch zehn weitere Nachrichten schicken, aber das, was ich ihr zu sagen habe, sollte ich ohnehin lieber persönlich tun. Und deshalb befinde ich mich in diesem Moment auf dem Weg nach Saskatoon.

  Ihre Handynummer hat sich nicht verändert, doch es ist wohl unwahrscheinlich, dass sie noch bei ihren Eltern wohnt. Trotzdem parke ich den Wagen am frühen Nachmittag vor dem Haus, das mehrere Jahre lang so etwas wie mein zweites Zuhause war. Es ist ein seltsames Gefühl, den Vorgarten zu durchqueren und das vertraute Geräusch der Türklingel zu hören. Noch seltsamer ist es, Sekunden später Lynns Mutter gegenüberzustehen.

  «Jackson!» Im ersten Moment hebt sie beide Hände, als wolle sie mich umarmen. Dann scheint ihr etwas in den Sinn zu kommen, und sie lässt sie wieder sinken. «Aber … wie geht es dir? Und was machst du hier? Du lebst doch in Edmonton, oder?»

  «Genau. Hallo, Sarah. Mir geht’s
gut, danke. Ich wollte zu Lynn.»

  Ihr Lächeln ist so eindeutig aufgesetzt, dass sie mir leidtut. Von allen Beteiligten damals hat sie fast am meisten gelitten. Sie mochte mich wirklich, und als sie mir jetzt doch eine Hand auf den Arm legt, fühle ich mich einen Moment lang schuldig, weil ich das kurze Aufflammen von Hoffnung in ihren Augen sehe. Nach all den Jahren. Immer noch.

  «Lynn ist ausgezogen.»

  «Das dachte ich mir fast. Wo wohnt sie denn jetzt?»

  «Sie wohnt … also, sie wohnt in der Osborne Street 22. Mit ihrem … Mann.»

  Wow. Mit ihrem Mann. Ich schiebe meine Überraschung beiseite.

  Osborne Street. Mit dem Auto sind es keine zehn Minuten, und als ich kurz darauf ein weiteres Mal den Wagen am Straßenrand absetze, vermischt sich in mir Nervosität mit Neugier.

  Drei Jahre. Über drei Jahre haben wir uns nicht gesehen und davor fast zehn Jahre lang so gut wie jeden Tag. Ich war neun, als Lynn in meine Klasse kam, und Lynn acht.

  Das Haus, in dem sie lebt, sieht nett aus, gepflegt. Für ein paar Minuten bleibe ich einfach hinter dem Lenkrad sitzen. Sarah meinte, Lynn sei vermutlich zu Hause, und auf meine Frage, ob Lynn in Saskatoon studiere, hat sie nur mit einem schmalen Lächeln den Kopf geschüttelt. «Sie hat ja geheiratet», hat sie gesagt, als erkläre das alles. Sonderlich glücklich klang sie nicht.

  Ob Lynn den Typen von damals geheiratet hat?

  Ich fühle mich beobachtet, als ich schließlich aussteige und auf die Haustür zugehe, doch nachdem sich auf mein Klingeln hin die Tür geöffnet hat, reicht ein Blick in Lynns Gesicht, um deutlich zu machen, dass ich so ungefähr der Letzte gewesen bin, mit dem sie gerechnet hat. Fast schon entsetzt sieht sie mich an, dann presst sie für einen Moment die Lippen zusammen. «Jackson. Was willst du denn hier?»

  «Hi.»

  Ihre Haare sind kürzer, aber das ist fast das Einzige, was sich an ihr verändert hat. Das, und das Baby auf ihrem Arm.

  «Lässt du mich rein?»

  «Wieso sollte ich?»

  «Wir können auch hier reden.»

  «Ich hab gar keine Lust, mit dir zu reden.» Sie tritt zurück und wirft mir die Tür vor der Nase zu.

 

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