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001 - Wild like a River

Page 30

by Kira Mohn


  Okay. Ich schiebe die Hände in die Hosentaschen und bin noch nicht durch mit meinen Überlegungen, ob ich noch einmal klingeln soll, da wird die Haustür erneut geöffnet. Das Baby ist verschwunden, mit einem Kopfnicken weist Lynn ins Innere. Sie schließt die Tür hinter mir, dann geht sie ein paar Schritte ins Wohnzimmer zu einem Sessel, der neben einem niedrigen Holztisch steht, schlägt die Beine übereinander und lehnt sich zurück. «Also?»

  Ich bleibe direkt vor der Tür stehen, statt mich auf das Sofa zu setzen. Ohne das Baby ist es fast, als hätten wir uns erst gestern voneinander verabschiedet, so vertraut ist alles an ihr, der kleine Leberfleck auf ihrer linken Wange und die jetzt zusammengezogenen Brauen über ihren Augen.

  «Es tut mir leid, dass ich damals einfach gegangen bin.»

  Lynn sieht mich nur weiterhin an.

  «Ich hätte dir zuhören sollen. Ich war …»

  Ich könnte einfach sagen, ich war ein blöder Idiot, und mich noch einmal entschuldigen, aber ich will es richtig machen. Und wenn jemand die ganze Wahrheit verdient hat, dann Lynn. Nachdem ich ihr immer vorgeworfen habe, dass sie mir gegenüber nicht ehrlich war.

  «Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Ich wusste nicht mal so genau, was ich fühlen sollte. Es kam mir so vor, als hättest du unsere Freundschaft zerstört, und ich … bin abgehauen, weil das wohl einfacher war, als sich damit auseinanderzusetzen.»

  «Ich hab eine Million Mal bei dir angerufen.»

  «Ich weiß.»

  «Und ich hab dir Nachrichten geschrieben. Ich saß heulend vor eurem Haus. Du warst mein bester Freund … Ich hab mich so schuldig gefühlt! Und du …»

  «Ich weiß. Es tut mir leid», wiederhole ich.

  «Ich dachte, du würdest mich hassen.»

  «Ich hab dich nie gehasst», erwidere ich bestürzt.

  «Aber das dachte ich. Ich dachte, du verachtest mich. Ich dachte …» Sie räuspert sich. «Und jetzt tauchst du einfach wieder auf und sagst, es tut dir leid. Obwohl du mir nie die Chance gegeben hast, dir zu sagen, dass es mir leidtut.»

  In das Schweigen hinein, das sich zwischen uns auftut, ist ein Quäken zu hören.

  Lynn steht auf, verlässt das Zimmer und kehrt unmittelbar darauf mit dem Baby zurück. «Er heißt Henry.» Sie tritt so nah an mich heran, dass ich ins Blickfeld von Henry rutsche und er mich mit kugelrunden Augen anzustarren beginnt. «Willst du … na ja, willst du zum Abendessen bleiben?»

  «Wenn das für … Ethan in Ordnung ist?»

  «Ethan war damals der Einzige, der kapiert hat, warum ich immer heulen musste, wenn es um dich ging. Er wird sich freuen, dich endlich mal kennenzulernen.»

  Ich nicke. Scheint ein guter Typ zu sein, dieser Ethan. Offenbar nicht halb so eifersüchtig wie ich im Allgemeinen.

  «Du studierst Jura, oder?» Lynn lächelt zum ersten Mal, seit sie die Tür geöffnet hat. «Was muss ich sonst noch über dich wissen?»

  «Zunächst einmal studiere ich nicht mehr Jura.»

  Noch bevor Ethan nach Hause kommt, weiß Lynn alles über mein geplantes neues Studium, und ich, wie es für sie war, so jung ungeplant schwanger zu werden. Wir reden über unsere Eltern und darüber, wie wenig diese mit unseren Entscheidungen anfangen können, wir reden darüber, wie anstrengend und seltsam, aber auch großartig Lynn ihr Leben als Mutter empfindet, und wir reden über Ethan und dass Lynn niemals bereut hat, ihn kennengelernt zu haben.

  Als ich schließlich von Haven erzähle, beginne ich zu hoffen, dass wir wieder an etwas anknüpfen können, an etwas von früher. Es wäre schön.

  31

  HAVEN

  I ch habe Dad eine Nachricht geschrieben. Eine Nachricht, in der stand, dass ich gegen drei in Jasper sein würde. Seine Antwort kam keine zehn Minuten später.

  Ich bin da.

  Die ganze Autofahrt über habe ich mir erste Sätze zurechtgelegt. Schon als die flache Ebene die ersten Konturen bekam, hat mein Herz schneller zu schlagen begonnen, und meine Aufregung wuchs, als Hügel auftauchten und zu Bergen wurden, als die endlosen Felder und Grasflächen verschwanden und Bäumen wichen, die erst vereinzelt und dann immer dichter zusammenstanden. Vor einigen Wochen war hier noch alles grün, jetzt jedoch leuchten die Laubbäume am Straßenrand rot, orange, golden vor dem dunklen Tannengrün, und das Farbenschauspiel begleitet mich bis tief in den Jasper National Park hinein.

  In dem Moment, in dem ich die kleine Lichtung vor der Blockhütte erreiche und aus dem Wagen steige, ist der Duft des Waldes, der Duft meines Zuhauses so intensiv, dass ich laut lachen, singen, rennen möchte, alles gleichzeitig. Alles ist so, wie es immer war, wie es die ganze Zeit in meinem Kopf war, und jetzt wieder darin einzutauchen … ich nehme mir nicht mal die Zeit, auch nur die Autotür zuzuschlagen, und laufe zum Garten. Es ist kalt, kälter als in Edmonton, doch das macht mir nichts aus.

  Mr. Strong ist gewachsen. Ganz eindeutig hat Dad nicht vergessen, ihn zu gießen.

  «Hallo, Haven.»

  Gerade habe ich mich über Mr. Strong gebeugt, jetzt richte ich mich auf.

  Dad steht da und sieht einfach aus wie … Dad. Seine Arme öffnen sich, als ich auf ihn zulaufe, und im nächsten Moment umfängt mich der Geruch von Wald, Seife und Kaminholz. Der weiche Flanellstoff seines Hemds fühlt sich warm auf meiner Wange an, als habe die Sonne daraufgeschienen, und ich spüre sein Herz schlagen. Oh Gott, Dad. Lange Augenblicke bin ich einfach nur ein kleines Mädchen, das seinen Vater liebt wie verrückt, und als sich irgendwann der Gedanke wieder durchsetzt, warum ich hierhergefahren bin, schmerzt es beinahe körperlich, ein Stück zurückzutreten, sodass seine Arme mich nicht mehr halten können.

  «Ich hab Kaffee aufgesetzt», sagt er, und ich wende mich wortlos ab, um ins Haus zu gehen.

  Auf dem Tisch steht die Kaffeekanne aus Porzellan, die Dad eigentlich nie benutzt, und auf meinen Platz hat er meine Lieblingstasse gestellt. Ich muss schlucken. Es könnte ein so liebevoller Moment sein, es ist ein so liebevoller Moment und trotzdem … Ich setze mich auf die Eckbank und sehe Dad dabei zu, wie er den Kaffee aus der gläsernen Kanne, die zur Kaffeemaschine gehört, in die Porzellankanne umfüllt.

  «Da drin wird er schneller kalt», sage ich. Das hat Dad früher immer gemeint, wenn ich die hübsche Kanne nehmen wollte.

  «Egal», antwortet Dad. «Ich freue mich sehr, dich zu sehen.»

  Und so ist es. Die Freude strahlt ihm aus jeder Pore, und er muss dazu nicht einmal breiter lächeln als sonst.

  Für einen Moment überlege ich ernsthaft, dieses Wiedersehen nicht zu zerstören. Nicht jetzt.

  «Du willst mir etwas sagen», bringt Dad es schlicht auf den Punkt, nachdem er uns beiden eingeschenkt hat, und ich umfasse meine Tasse mit beiden Händen, senke den Kopf, nur ganz kurz, und hole tief Luft, als ich wieder aufblicke.

  «Ich will mit dir über Mum reden.»

  Dad nickt. «Das dachte ich mir. Wo sollen wir anfangen?»

  «Warum haben wir uns nie gemeinsam das Fotoalbum angesehen, das du mir gegeben hast?»

  Dad lehnt sich auf seinem Stuhl zurück, beide Hände noch immer vor sich auf den Tisch gelegt. «Ich wollte nicht, dass du dich an zu viel erinnerst.»

  «Aber … warum? Warum? Warum sollte ich meine Vergangenheit denn vergessen? Du hast mir doch auch von Mum erzählt.»

  «Das habe ich.»

  «Du hast mir ihr Foto gezeigt, wann auch immer ich es sehen wollte.»

  Er nickt wieder. «Es ging nie darum, dass du deine Mutter vergessen solltest.»

  «Wieso dann? Wieso hast du mir nicht das Album gezeigt? Wieso hast du mir nie von Lucy und Caroline erzählt? Ich hatte Lucy versprochen, ihr zu schreiben, aber das habe ich nie getan. Stattdessen habe ich sie vergessen – warum hast du sie nie erwähnt?»

  «Vielleicht hätte ich das getan, wenn du mich jemals nach ihr gefragt hättest.»

  «Das habe ich nicht?» Verwirrt starre ich meinen Vater an. «Aber … ich kann sie doch nicht sofort vergessen haben.»

  Dad beugt sich vor und schiebt dabei seinen bisher unangetasteten Kaffee beiseite. «Was ist das Letzte, woran du dich erinnern kannst, bevor wir hierhergefahre
n sind, Haven?»

  Ich durchwühle mein Hirn nach einer Erinnerung. Da sind die Fotos aus dem Album mitsamt den Bildern, die sie ausgelöst haben. Kurze Sequenzen, verwackelt, teilweise unscharf. «Ich weiß nicht … ich weiß es nicht.» Aber das kann doch nicht sein. Irgendeine Erinnerung muss die letzte gewesen sein, doch es ist, als würde ich versuchen, von einem Traum erzählen zu wollen. Es gab ihn, doch ich bekomme ihn nicht zu fassen.

  «Du bist schuld», sage ich leise. «Du hast all meine Erinnerungen ausgelöscht, indem du einfach nie wieder mit mir darüber geredet hast.» Mit jedem Wort mehr, das ich ausspreche, dringt die Wut in mir durch. «Du wolltest nicht, dass ich etwas außerhalb dieses Waldes vermisse, oder? Du hast dich hier verkrochen, und mich hast du mitgenommen, und damit ich nicht wieder zurückwill, damit ich nicht nach Caroline oder Lucy frage, hast du einfach so getan, als gäbe es kein Leben außerhalb des Waldes.»

  Ich bin immer lauter geworden, und als Dad mich jetzt einfach nur ansieht, ist mir danach, die Porzellankanne gegen die Wand zu werfen. Weil ich ihm das vielleicht nie verzeihen kann. Die größte Schuld, die er trägt, ist die, dass er meine Liebe zu sich beschädigt hat.

  «Denkst du das wirklich?», fragt er. «Denkst du wirklich, ich würde so etwas tun?»

  Meine Verwirrung kehrt zurück. «Warum dann?», frage ich. «Wieso hast du nicht verhindert, dass ich meine Vergangenheit verliere?»

  Dad schließt die Augen, presst die Lippen zusammen, dann sieht er mich wieder an. «Ich habe dir von dem Ring erzählt, weißt du noch?»

  Das zumindest habe ich nicht vergessen. Es ist ja auch noch nicht lange her. «Mum hat ihn dir vor die Füße geworfen. Bei eurem letzten Gespräch. Bevor sie den Unfall hatte.»

  «Bei diesem Gespräch hast du zugehört. Aber das haben deine Mutter und ich nicht gewusst.»

  «Wieso nicht? Wo war ich?»

  «Du hast vor der Tür zu unserem Schlafzimmer gesessen. Wir dachten, du wärst bei Lucy, aber du bist nach Hause gekommen. Ich weiß nicht, warum. Du warst danach nicht mehr in der Lage, uns das zu erzählen.»

  «Aber … ich verstehe nicht …»

  Er atmet einmal tief durch. «Du willst die Wahrheit wissen, oder?»

  «Ja.»

  «Wenn man sie einmal weiß, kann man es nicht ungeschehen machen.»

  «Dad!»

  Jetzt lässt er sich schwer zurückfallen, und ich bekomme eine schwache Ahnung davon, was es ihn kostet weiterzusprechen. «Ich nehme an, deine Mutter und ich haben uns schon gestritten, als du nach Hause gekommen bist. Deshalb haben wir dich auch nicht gehört. Du warst direkt vor der Tür, und du hast jedes Wort mitbekommen. Ich habe dir erzählt, sie wollte mich verlassen, weil sie jemanden kennengelernt hatte.»

  Ich nicke.

  «Und sie meinte, man müsse einfach jeden Moment nutzen, jeden kostbaren Moment.»

  Dieser Satz. Genau das hat sie an diesem Tag gesagt, als wir auf der Blumenwiese waren. Plötzlich rollen sich die Erinnerungen schneller vor meinem inneren Auge ab, als Dad ihnen mit Worten folgen kann.

  «Aber sie wollte … nicht nur mich verlassen. Sie wollte auch dich verlassen. Sie wollte alles zurücklassen und nichts mitnehmen, gar nichts.»

  Etwas steigt in mir auf, ein Gefühl, das ich nicht kenne. Es nimmt mir Raum, es nimmt mir Luft. Ich möchte den Kopf schütteln und kann nicht.

  «Sie sagte, ihr Leben mit uns sei eine Qual, sie sei nicht dafür geeignet, Mutter zu sein. Du würdest … du würdest sie an etwas ketten, das sie hassen würde und … und …» Er reibt sich die Stirn und streicht dann mit der Hand über seinen Bart. «Das war ungefähr der Moment, in dem wir dich schreien hörten. Du hast vor der Tür gestanden, und du hast so geschrien … du wolltest, dass sie dich auf den Arm nimmt, aber sie ist vor dir zurückgewichen und … du … du bist mit ausgestreckten Armen hinter ihr hergerannt und hast nach ihr gerufen, und sie schrie, ich solle dich endlich nehmen, und genau das sei der Grund, warum sie ihr Leben mit uns hassen würde. Und dann ist sie gegangen. Und sie kam nie zurück.»

  Über Dads Gesicht laufen Tränen. Ich wünschte, ich könnte auch weinen, ich will weinen, aber es geht nicht.

  «Du hast erst das erleben müssen, und am selben Tag hast du erfahren, dass deine Mutter gestorben ist. Du hast nicht einmal geweint, als ich es dir sagte, hast keinen Ton gesagt. Wir saßen die ganze Nacht zusammen, und irgendwann hast du geflüstert … dass … dass …»

  Dad schluchzt jetzt so heftig, dass ich aufstehe und zu ihm gehe. Ich weiß, was ich gesagt habe. Ich erinnere mich wieder. Ich habe gesagt: Sie soll mich noch mal in den Arm nehmen.

  Eine Weile stehe ich einfach da, doch irgendwann drücke ich Dads Schulter, gehe an unseren beiden Sesseln vorbei, nehme meine Jacke vom Haken und trete zur Tür hinaus, weiter, über die Lichtung. Ich will in den Wald. Wenn ich über irgendetwas gerade froh bin, dann darüber, dass ich hier bin und nicht in Edmonton. Hier, an diesem Ort, der mir so viel bedeutet.

  Mein ganzes Leben lang war meine Liebe zu meiner Mutter leuchtend hell und strahlend, und ich habe immer angenommen, dass es umgekehrt genauso war.

  Dad hat mir meine Vergangenheit vorenthalten, weil ich sie verdrängt habe, um diese Liebe bewahren zu dürfen.

  War das richtig?

  Ich weiß es nicht.

  Kann ich es verstehen?

  Ja.

  Die alte Tanne steht da und scheint darauf zu warten, dass ich mich zu ihr setze. Ich lausche aufmerksam, doch von Gisbert ist nichts zu hören. Es ist noch zu früh.

  Noch nie, noch kein einziges Mal habe ich mich an diesem Ort nicht irgendwann ruhiger gefühlt. Die Geräusche des Waldes, sein ganzes Wesen, er ist so viel mehr als ich, so viel größer, mächtiger, weiser …

  Doch der innere Friede bleibt aus.

  Ich wollte so unbedingt einen Zugang zu meiner Vergangenheit finden, aber jetzt ist jeder Erinnerungsfetzen eine Qual und mein Innerstes ein Eisblock, mit kalten, scharfen Kanten. Jede Bewegung schmerzt, sogar das Atmen tut weh.

  Mit steifen Fingern ziehe ich das Telefon aus meiner Hosentasche und tippe die eine wichtige Nummer an.

  «Hi.» Seine Stimme. So zärtlich, als seien nicht mehrere Wochen vergangen, seit ich sie zuletzt gehört habe.

  «Jackson? Kannst … kannst du kommen?»

  «Wohin?»

  «Ich bin bei meinem Vater.»

  «Ich fahr los.»

  JACKSON

  E s ist fast acht, und die Sonne ist schon vor einer Weile untergegangen, als ich vom Yellowhead Highway auf den Icefields Parkway biege. Noch etwa zwanzig Minuten. Nur noch zwanzig Minuten, bis ich Haven wiedersehe. In den letzten Stunden hatte ich Zeit genug, mir zu überlegen, warum sie mich wohl angerufen hat. Da sie sich von Jasper aus meldet, muss es wohl mit ihrem Vater zusammenhängen. Ich schätze, er hat ihr endlich mehr über ihre Vergangenheit erzählt.

  Der aufgehende Mond wirft seinen blassen Schein über die Lichtung vor Havens Haus. Ich setze meinen Wagen neben den von Haven, steige aus und gehe auf die Veranda zu. Was auch immer dort drin auf mich wartet – ich hoffe einfach, ich kann für sie da sein.

  Auf mein Klopfen hin öffnet ihr Vater die Tür. Erst als er mit einer einladenden Handbewegung zur Seite tritt und das Licht von drinnen auf sein Gesicht fällt, kann ich erkennen, wie mitgenommen er aussieht. Haben sie gestritten? Hat er geweint?

  «Hallo», sagt er. «Haven ist in ihrem Zimmer.»

  «Danke … und hallo», erwidere ich, nicht ganz sicher, ob ich einfach nach oben gehen soll. In Havens Zimmer war ich noch nie. Doch als er sich ohne ein weiteres Wort in einen der Sessel vor dem Kamin sinken lässt, in dem heute ein kleines Feuer knistert, wende ich mich der Treppe zu.

  Oben finde ich drei Türen vor, zwei davon sind geschlossen. Hinter der offenen Tür sind nur ein leerer Stuhl und ein Schreibtisch zu sehen, und ich atme einmal tief durch, bevor ich an die Tür daneben klopfe.

  «Komm rein.»

  Haven sitzt vor ihrem Bett auf dem Boden. Es ist ein schlichter Raum, der zu einem Haus wie diesem passt. Ein Bett, eine Kommode, ein kleiner Tisch vor dem einzigen Fenster.

  Weil Haven
keine Anstalten macht aufzustehen, setze ich mich neben sie, und in dem Moment, in dem ich das tue, sinkt ihr Kopf gegen meine Schulter. Ich vergrabe mein Gesicht in ihrem Haar, genieße den süß-herben Zimtduft, und noch während ich denke, dass alles Weitere nach all den Wochen, in denen wir uns nicht gesehen haben, wohl unangemessen wäre, dreht Haven den Kopf und küsst mich.

  Verflucht, ich hab das vermisst. Ich habe ihre Lippen vermisst, den Blick ihrer grauen Augen und das Gefühl ihrer Haut unter meinen Händen.

  Haven küsst mich, als hätten wir uns noch nie geküsst und gleichzeitig so, als wäre dieser Kuss die Fortsetzung von etwas, das bereits vor langem begonnen hat. Sie legt ihre Arme um meinen Hals, und ich bin nur zu bereit mitzumachen, weiterzumachen. Trotzdem halte ich nach einigen Minuten inne. «Okay, was ist los?», frage ich leise. «Warum hast du mich angerufen?»

  «Weißt du noch, das Bild? Im Strawberry Kiss ? Meine Mum und ich auf dieser Wiese mit den vielen Blumen?», flüstert sie zurück.

  Ich nicke, und Haven beginnt zu weinen.

  Viel später, sehr viel später, Äonen später liegen wir gemeinsam auf dem Bett, Havens Kopf unter meinem Kinn, ihre Stirn gegen meinen Hals gedrückt. Unsere Beine sind miteinander verschlungen, und noch immer halte ich ihre Hände in meinen. Dieser Tag, von dem sie mir erzählt hat … wie kann man so etwas aushalten? Erst die Liebe ihrer Mutter zu verlieren und dann die Mutter selbst? Jedes Mal, wenn ich daran denke, möchte ich irgendetwas sagen, irgendetwas tun, um es ein Stück weit wiedergutzumachen. Aber wer bin ich, um das zu können? Ich kann nur für sie da sein. Und das auch nur, wenn sie mich lässt.

  «Lass uns rausgehen, ja?» Haven richtet sich auf.

  Kühle Nachtluft schlägt uns entgegen, als Haven kurz darauf die Haustür öffnet. Das Feuer im Kamin war erloschen, die Wärme, die es verbreitet hat, bleibt zurück, als wir jetzt über die mondbeschienene Lichtung laufen. Die Bäume bilden eine schwarze Wand, und befände sich nicht Haven neben mir, würde mich wohl nichts auf der Welt dazu bringen, um diese Uhrzeit in die Schatten des Waldes einzutauchen.

 

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