Wir sind der Sturm
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Ich wich Mels Fragen aus, weil ich Angst hatte, dass ich ihr am Ende alles erzählen würde, was sich zwischen Paul und mir abgespielt hatte. Ich wollte ihr gegenüber nicht aussprechen, dass ich Liebeskummer hatte, wollte ihr nicht erzählen, was passiert war. Denn erst in dem Moment, in dem man über die Dinge sprach, gab man ihnen genügend Raum, um endgültig wahr zu werden. In der Sekunde, in der man andere Menschen einweihte, wurden sie zur Realität. Und das würde mein dummes, kaputtes Herz in diesem Augenblick einfach nicht schaffen. Ich litt an Herzschmerz – und ich war selbst schuld daran. Obwohl mir von der ersten Sekunde an bewusst gewesen war, dass sich zu verlieben bedeutete, einen Teil von sich zu verlieren. Und das, wo ich doch schon dieses wirre Puzzle ohne Teile war.
Trish hatte ich nach dem Abend im Heaven zwar in einem ruhigen Moment erzählt, was Paul zu mir gesagt hatte, doch sie tat mir den Gefallen und hatte das Thema die ganze Woche kein einziges Mal angesprochen. Davor hatte sie aber noch die Gelegenheit genutzt, mir ziemlich unschöne Dinge zu schwören, die sie Paul antun würde. Und jedes Mal wenn sie ihn auf dem Campus oder einer Party mit einer anderen Frau sah, musste ich sie davon abhalten, dorthin zu stürmen. Sie daran erinnern, dass sie sich heraushalten wollte.
»Ich hab mir überlegt, Trish in ein paar Literaturkurse zu begleiten«, erzählte ich Mel schließlich. Nur wegen dieses einen Kerls wollte ich nicht aufhören, meine Schwester an meinem Leben teilhaben zu lassen. Und der Gedanke mit den Kursen lag mir am Herzen und nahm immer mehr Form an, seit ich in der Storylines zum ersten Mal meine eigenen Worte abgedruckt gesehen hatte. Für diesen Monat hatte ich einen Text über Klassiker geschrieben, die meiner Meinung nach viel zu wenig Beachtung fanden, und ihn Aiden erst heute Morgen per Mail geschickt .
»Oh Gott, endlich!«, sagte Mel sofort, und der Enthusiasmus in ihrer Stimme und ihren blaugrauen Augen brachte mich zum Lächeln. »Ich habe mich sowieso schon die ganze Zeit gefragt, wieso du das nicht von Anfang an gemacht hast.«
Weil ich Angst hatte , dachte ich. Weil Literatur mein ganz eigener Zufluchtsort war, wenn die Welt um mich herum zu zerbrechen drohte.
»Es gibt eine eher allgemein gehaltene Vorlesung zur Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts, die ich mir anschauen wollte«, erzählte ich. »Und Trish besucht da noch eine, die ziemlich cool klingt: Britische Schauergeschichten des 19. Jahrhunderts . Ich hab mir online die Literaturliste angesehen und viele der Bücher sowieso schon gelesen. Frankenstein, Dracula oder Das Bildnis des Dorian Gray.« Ich hielt inne und spielte gedankenverloren mit einer Locke, die mir in die Augen gefallen war, ehe ich fortfuhr. »Es ist zwar mitten im Term, und ich kann nicht mehr teilnehmen, aber es kann mir bestimmt helfen, mir einen ersten Eindruck zu verschaffen und herauszufinden, ob ich das wirklich möchte.«
»Ich finde, das klingt nach einer wunderbaren Idee, Lou. Du liebst Literatur so sehr, und wenn es einen Menschen gibt, den ich mir ohne Geschichten nicht vorstellen kann, dann bist das du.« Mel lächelte. »Und das ist ja nicht verbindlich. Die wenigsten legen sich gleich am Anfang auf ein Hauptfach fest, du hast also noch genug Zeit, ein paar Sachen auszuprobieren.« Mel ließ sich tiefer in die bunten Kissen sinken und überkreuzte die Beine. Ein nachdenkliches Flackern huschte über ihre Augen, dann grinste sie breit. »Ich hab sowieso nie verstanden, was du an Mathe findest. Ich meine, gibt es etwas Langweiligeres als Zahlen?«
Ich schnaubte. »Zahlen sind cool«, sagte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. »Außerdem hat es etwas echt Befriedigendes, wenn man sich an die Regeln hält und am Ende nach einem langen Lösungsweg auf das richtige Ergebnis kommt. «
»Ich will ja nichts sagen, Schatz«, warf Mel ein, »aber mir würden durchaus effektivere Wege einfallen, um dieses Gefühl der Befriedigung zu erleben. Und das auch noch mit einem viel spaßigeren Lösungsweg!« Sie wackelte mit den Augenbrauen.
»Manchmal frage ich mich wirklich, wer von uns beiden die Ältere ist«, murmelte ich genau in dem Moment, in dem Robbie mit einer Tüte vom Asiaten das Wohnzimmer betrat.
»Ha!«, begrüßte Mel ihn. »Wie aufs Stichwort.«
Und dieses Mal musste ich mitlachen, als das helle Lachen meiner Schwester ertönte.
Robbie setzte sich zu uns, das Essen stellte er auf den Tisch. Mit einem belustigten Ausdruck in den Augen wollte er wissen, wovon wir gesprochen hatten, doch Mel grinste nur in sich hinein und schob sich eine Frühlingsrolle in den Mund. Robbie sah zwischen uns hin und her und lachte dann: »Okay, vielleicht will ich es lieber gar nicht wissen!«
Die beiden erzählten mir von der alten, umgebauten Ranch ein paar Meilen von Redstone entfernt, die sie vor wenigen Tagen als Location für ihre Hochzeit im Sommer zugesagt bekommen hatten. Mel holte extra ihr Handy, um mir Fotos zu zeigen, und Robbie schüttelte belustigt den Kopf, weil sie das scheinbar alle zehn Minuten tat. Ich versprach Mel, ihren Junggesellinnenabschied zu planen, und boxte ihr lachend in die Seite, als sie mit den Lippen lautlos irgendetwas in die Richtung dein heißer Mitbewohner und Striptease formte. Robbie erzählte, dass einer seiner besten Freunde seinen Junggesellenabschied planen würde und er schon ein mulmiges Gefühl dabei hatte. Mels und mein Mitleid hielten sich jedoch in Grenzen, weil die Jungs einen Trip nach Seattle planten und es allein deshalb grandios werden würde.
»Wie geht es Paul eigentlich? Haben sie ihn entlassen?«, wollte Robbie wissen, als wir mit dem Essen fertig waren und die Sachen in die Küche geräumt hatten. Ich zuckte zusammen. Und als ich nichts erwiderte, fuhr er mit seiner Großer-Bruder-Stimme fort: »Bring ihn das nächste Mal doch einfach mit. Ich muss ja schließlich wissen, wie der Kerl so drauf ist, mit dem du so viel Zeit verbringst, Kleines.«
»Er ist heiß!«, warf Mel grinsend ein, als wäre das alles, was Robbie über ihn wissen musste, und in mir verkrampfte sich alles. »Natürlich bei Weitem nicht so heiß wie du«, ergänzte sie.
Ich bekam noch mit, wie Robbie mit einem tiefen Lachen die Augen verdrehte und ein Kissen nach meiner Schwester schmiss. Wie sie sich kreischend wegduckte, um anschließend zurückzufeuern. Dann verschwamm alles, und ich sah wieder Pauls emotionslosen Gesichtsausdruck vor mir, der mir auch als Erinnerung einen eiskalten Schauer über den Rücken jagte.
Ich liebe dich nicht, Louisa!
Den Paul, dem ich in den vergangenen Wochen begegnet war, brachte ich nicht mit dem Mann zusammen, in den ich mich letztes Jahr Stück für Stück und gleichzeitig Hals über Kopf verliebt hatte. Der Mann, der mir morgens Frühstück machte und mir aus Die unendliche Geschichte vorlas, der mit mir zusammen laufen gegangen war, obwohl er ständig auf mich hatte warten müssen, der nicht meine Worte hörte, sondern das, was ich wirklich sagte. Paul mit den bernsteinfarbenen Augen, deren Wärme der größte Kontrast zu all dem Düsteren an ihm gewesen war. Paul mit seinem Grübchenlächeln, hinter dem eine ganze Welt verborgen zu sein schien. Doch inzwischen behandelte er mich, als wäre ich eine Fremde, nicht mehr als die Mitbewohnerin seines besten Freundes. Als wären wir nur zwei Menschen, zufällig gestrandet am gleichen College.
Ohne es jemals ausgesprochen zu haben, wusste ich, dass Aiden Paul aus Rücksicht auf mich nicht mehr mit zu uns in die WG nahm und sich mit ihm entweder außerhalb oder bei Paul in der Wohnung traf. Doch da wir beide mit ihm und Trish befreundet waren, konnte ich ihm nicht ewig aus dem Weg gehen – so sehr ich es mir für den Moment auch gewünscht hätte. Als er sich zu Beginn der Woche einen Kaffee im Firefly geholt hatte, hatte er zwar Hallo gesagt, ansonsten aber durch mich hindurchgesehen. Am Mittwoch hatte ich ihn auf dem Weg zur philosophischen Fakultät mit einem Mädchen an seiner Seite gesehen, die ich aus einer meiner Vorlesungen kannte und eigentlich sympathisch fand. Sie hatte an seinen Lippen gehangen. Am Tag zuvor hatten in Elementary Linear Algebra zwei Mädchen hinter mir gesessen, die sich lang und ausführlich über ein Gerücht unterhalten hatten, in dem es um Paul und einen Dreier ging – wahrscheinlich stimmte es nicht einmal, doch trotzdem steckte in allem, was man sich am RSC erzählte, am Ende ein Körnchen Wahrheit. Ich hatte meine Sachen gepackt und mich in eine andere Reihe gesetzt.
Mein Herz sagte mir, dass irgendetwas nicht
stimmte, dass Paul mich angelogen hatte. Aber alles andere in mir schrie danach, dass ich wie wahrscheinlich Tausende Frauen vor mir einfach nur auf einen Frauenhelden hereingefallen war. Dass es eben war, wie Paul mir selbst gesagt hatte: Er hatte mich einfach nur ficken , mich letztendlich von der ersten Sekunde an einfach nur rumkriegen wollen.
»Lou?« Mel und Robbie sahen mich besorgt an. »Ist alles in Ordnung?«, wollte Robbie wissen und beugte sich ein Stück zu mir nach vorn.
Ich knetete meine Finger unruhig im Schoß, bevor ich tief Luft holte. Schließlich musste ich etwas sagen, bevor die Fragen am Ende noch ins Schwarze trafen. Irgendetwas. »Ich …« In einer fahrigen Bewegung strich ich mir eine vereinzelte Locke aus dem Gesicht. »Ich will gerade wirklich nicht drüber sprechen!«
Ein Blickwechsel zwischen den beiden, so kurz, dass er mir fast schon entgangen wäre. Und für diese wenigen Sekunden sah ich die Eltern in Mel und Robbie. Hatte ein Bild in meinem Kopf, wie Mary den beiden als Teenager so wie ich gerade gegenübersitzen würde, nur dass sie wild und laut diskutieren würde, weil sie deren Entscheidungen nicht nachvollziehen konnte und sich ungerecht behandelt fühlte .
Mel zögerte, nickte schließlich aber und wechselte das Thema. Doch ich sah all die Fragen in ihren blaugrauen Augen, die denen von Dad so ähnlich waren. Und ich wusste, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie sie mir stellen würde.
Die Sonne war gerade untergegangen, als ich die Tür zur WG aufsperrte und mir mit einem Seufzen die Schuhe von den Füßen streifte. Aus Aidens Zimmer hörte ich die abgehackten, rhythmischen Klänge des Intros von You von Brothers Moving , eines Songs, der es ihm in den letzten Tagen angetan und aus dem Aiden eine ganz eigene Version gemacht hatte.
Seine Tür stand offen, also schnappte ich mir eine Cola für mich und eine Dose Dr. Pepper für ihn aus dem Kühlschrank und ging zu ihm – ich brauchte dringend einen unserer Game-of-Thrones -Abende mit Unmengen an Essen und Popcorn. Oder die Extended Version von einem der Herr-der-Ringe -Filme, auch wenn Aiden mir immer noch etwas schuldete, weil er Trish verraten hatte, dass ich immer noch auf Aragorn stand und Viggo Mortensen scheinbar wahnsinnig offensichtlich anschmachtete. Ich brauchte einfach meinen besten Freund.
»I said you«, fing Aiden gerade zu singen an, als ich das Zimmer betrat, »tell me what’s on your mind, things that you feel, things that are real. You gotta show me.« Und gegen meinen Willen musste ich darüber lachen, wie er mich dabei trotz des belustigten Funkelns in seinen blauen Augen versuchte, ernst anzusehen, mitten in seinem Zimmer und mit der Gitarre, deren Gurt über seiner linken Schulter spannte.
»Babe, I said you«, sang er und drehte sich mit der Gitarre einmal um die eigene Achse, »Show me what’s on your heart. Things that you hide deep down inside, keep us apart.«
»Du bist manchmal so bescheuert, Aiden!«, sagte ich und rollte mit den Augen, während ich mich auf das Sofa fallen ließ.
Lachend verbeugte er sich vor mir, legte die Gitarre auf sein Bett und setzte sich neben mich auf das Sofa. Dankbar griff er nach der Dose und nahm einen Schluck. Dann zuckte er mit den Achseln. »Aber ich hab dich zum Lachen gebracht!« Er stellte die Dose auf den kleinen Tisch und musterte mich abwartend. »Also, was ist los, Lou?«
»Es ist …« Nichts wollte ich sagen, doch das wäre eine Lüge gewesen, und Aiden wusste das. Aber was brachte es, wenn ich ihm sagte, wie sehr ich Paul vermisste, wie weh es tat, dass er so offensichtlich weitermachen konnte, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen – es würde absolut nichts ändern. Also schwieg ich und trank einen Schluck von meiner Cola.
Aiden und Paul waren sich in vielen Dingen so ähnlich und schienen doch das Negativ des jeweils anderen zu sein. Wie hell und dunkel, zwei Schachfiguren auf gegenüberliegenden Seiten. Aiden war wie Sonnenlicht, und in diesem Moment kam ich nicht umhin festzustellen, dass ein Mensch wie er wohl besser für mein kaputtes Herz wäre. Dass Aiden vielleicht besser für mich gewesen wäre. Mit seiner Geduld und seiner sanften Art, mit der Beständigkeit, mit der er immer für mich da war, wenn es darauf ankam.
Und plötzlich wurde die Stille in seinem Zimmer laut. Mein Blick fiel auf diesen Mund, der nicht Pauls war. Ohne Grübchen in den Wangen, ohne den dunklen Bart. Lippen, die sich mit Sicherheit anders anfühlen würden. Langsam stellte ich die Cola ebenfalls auf den Tisch. Mein Herz schlug schneller.
»Lou«, sagte Aiden leise und mit einer Stimme, die dunkel und kratzig zugleich klang. Langsam hob ich den Blick, und ich sah, wie er mich nachdenklich musterte. Tiefes, sanftes Blau. Goldenes Türkis, welches nur sichtbar wurde, wenn ich so nah vor ihm saß.
Dann fiel Aidens Blick auf meinen Mund. Ich schluckte, er tat es auch. Und innerhalb der nächsten Sekunde waren meine Lippen auf seinen, die mich fest und zugleich sanft zurückküssten. Doch ich brauchte mehr. Ich musste etwas spüren. Irgendetwas .
Aidens Hand schob sich in meinen Nacken, zog mich näher an ihn, während ich mich mit meinen Händen in sein Shirt krallte und meine Lippen öffnete. Ein Seufzen. Seine Zunge, die meine traf. Warm und heiß. Seine Finger tief in meinen Locken. So wie Paul es immer getan hatte, seine Hände immer und immer wieder in ihnen vergraben hatte. Feuerlocken hatte er sie genannt und mich sein Feuermädchen . Das leise, raue Stöhnen, wenn er mich geküsst hatte. Der Hunger in seinen Bernsteinaugen. Das Grübchen, sobald dieses rätselhafte Lächeln seine Lippen umspielt hatte. Die sichelförmige Narbe an seiner Schläfe. Wie er es jedes Mal geschafft hatte, mich mit einem einzelnen Blick und der Berührung seiner Lippen so sehr um den Verstand zu bringen wie mit seinen Worten und Gedanken zu dieser Welt.
Ich rutschte noch näher an Aiden heran, schlang meine Arme um seinen Hals und presste mich gegen ihn. Ich wollte mehr, nein, ich brauchte mehr, um diese Gedanken in mir auszulöschen. Er berührte mich so viel vorsichtiger als Paul – doch genau diese wilde Art war das, was ich brauchte, um zu vergessen!
Und erst in diesem Moment brachen alle Gefühle über mich herein, ungefiltert und auf einmal. Ich stand in Flammen und mein Herz brannte. Wie hatte ich zulassen können, dass ich mich in diesen Kerl mit dem Sturm in den Augen, der mir von Anfang Warnung genug hätte sein sollen, verliebt hatte? Wie hatte ich zulassen können, dass ich begonnen hatte, ihm erst mein Herz zu schenken und ihn dann zu lieben?
Du willst es einfach nicht kapieren, oder? Das mit uns ist vorbei!
Aidens fester Griff in meinen Haaren.
Du rennst mir hinterher wie all die anderen Tussen auch.
Meine Zunge, die sich um seine bewegte.
Lass mich verdammt nochmal endlich in Ruhe!
Warme Haut und Muskeln unter Aidens Shirt, aber nicht Paul. Keine Unebenheit von schwarzer Tinte unter meinen Händen. Das war nicht Paul, ganz egal, welche Kreise meine Finger auch zogen, egal wie tief sie wanderten.
Ich liebe dich nicht, Louisa.
Ein Rascheln, ein dumpfer Laut und plötzlich lag ich unter Aiden, hatte ihn mit mir gezogen, doch die Funken waren nicht da.
Fuck, ich habe dich nie geliebt!
Meine Hände irgendwo im Blond seiner Haare, seine Arme links und rechts neben meinem Kopf abgestützt. Das Gewicht seines Körpers drückte mich tiefer in die Polster hinein, und für einen Augenblick und schnell atmend lösten wir uns voneinander. Helles Blau statt dunkles Braun. Ein verwirrter Blick, den ich ignorierte. Und im nächsten Moment zog ich Aiden wieder an mich, legte ein Bein um seine Hüften. Verzweifelter, drängender. Ich wollte vergessen, es gab so viel zu vergessen.
Fuck, ich habe dich nie geliebt!
Ich.
Habe.
Dich.
Nie.
Geliebt.
»Hey, Lou!« Von weit weg drang Aidens Stimme zu mir durch, doch ich ignorierte die Sorge, die darin mitschwang. Es war, als wäre ich sehenden Auges und bei vollem Bewusstsein ertrunken, würde am Grund eines Ozeans liegen, mit Wasser, das mich kalt und schwer nach unten drückte, irgendwo vergessen inmitten tosender Wellen.
»Lou!« Bestimmt legten sich Aidens Hände um mein Gesicht, und langsam schlug ich die Augen auf.
»Lou, du weinst ja!« Er setzte sich au
f, zog mich nach oben. Seine Hände waren wieder an meinen Wangen, zogen sanfte und beruhigende Kreise. Und da erst bemerkte ich, wie mir tatsächlich Tränen über das Gesicht liefen. Völlig lautlos und doch unaufhaltsam .
Und dann drang langsam zu mir durch, was ich getan hatte: Aiden geküsst, mich förmlich auf ihn gestürzt. Dabei empfand ich gar nichts für ihn, zumindest nicht das, was ich fühlen sollte, wenn ich ihn küsste. Aiden war mein sicherer Ort, aber eben nicht auf diese Art.
Langsam hob ich den Blick, und in seinen blauen Augen war einfach nur Verständnis. »Komm her«, murmelte er und zog mich in seine Arme, sein Kinn auf meinen Locken, meine Wange an seiner Brust. Erneut krallte ich meine Hände in sein Shirt. Dieses Mal, weil ich mich irgendwo festhalten musste, nicht weil er mich berühren und vergessen lassen sollte. Ich weinte und weinte. Nicht mehr still und leise, sondern laut und unendlich. Und in sanften Bewegungen begann Aiden, mir über meine Haare zu streichen, ließ mich einfach weinen, obwohl meine Wimperntusche dunkle Flecken auf seinem Shirt hinterließ.
Ich wusste nicht, wie lange wir so dasaßen, doch irgendwann brannten meine Augen nicht mehr.
»Es ist okay, ihn zu vermissen«, sagte er leise. »Und es ist okay, dass das alles verdammt wehtut und man denkt, dass es niemals besser wird. Glaub mir, ich kenne dieses Gefühl gut. Leider.«
»Ist es auch okay, so bescheuerte Dinge zu tun, wie seinen besten Freund zu küssen?«, sagte ich noch leiser.
»Es kratzt zwar an meinem Ego, dass ich dich beim Rumknutschen zum Weinen bringe, aber ansonsten ist auch das völlig okay. Sowas passiert eben«, sagte Aiden und zuckte mit den Schultern, eines dieser für ihn typischen verschmitzten Lächeln auf den Lippen.
»Okay«, flüsterte ich.
»Okay«, wiederholte er und hielt mich weiter fest. »Außerdem kann ich damit jetzt vor Landon angeben, weißt du! Also mit dem Teil, der vor dem Weinen passiert ist, den anderen lasse ich lieber weg.«