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Kiss Me Once

Page 3

by Stella Tack


  Immer wieder warf ich einen Blick auf mein Handy, als würde ich auf einen Anruf oder eine Nachricht warten, was natürlich sinnlos war, weil das Ding ja keinen Saft mehr hatte. Meine Laune war inzwischen auf den absoluten Nullpunkt gesunken. Nicht nur, weil ich jetzt nicht mehr zocken konnte, sondern auch, weil ich in solchen Dingen normalerweise sehr zuverlässig war. Das iPhone war ein überteuerter Gimmick aus der Firma meines Vaters und besaß eine extralange Akkulaufzeit. Im Notfall hatte ich eigentlich auch immer eine Powerbank dabei, aber die steckte irgendwo in meinen Umzugskartons.

  Ich stand auf und lief unruhig auf und ab. Vielleicht setzten mir der Wechsel an die UCF und mein bevorstehender Job doch mehr zu, als ich mir zuvor eingestanden hatte. Was überhaupt keinen Sinn machte. Es war vollkommen idiotisch, mir jetzt schon Sorgen über meinen Auftrag zu machen. Ivy Redmond würde erst übermorgen ankommen und es war egal, ob sie mich mochte oder nicht. Sie war nur das Sprungbrett zu meiner Karriere. Ein, höchstens zwei Semester musste ich durchhalten, um meinem Vater zu beweisen, dass es sich gelohnt hatte, für diesen Job das College zu schmeißen. Um ihm zu zeigen, wie verdammt gut ich darin war, Leben zu retten. Viel zu gut, um wie er hinter einem Schreibtisch zu versauern und alles nur noch durch Statistiken, Daten und Berichte zu koordinieren. Wahrscheinlich war ich ein undankbarer Sohn, aber ich wollte diesbezüglich einfach mehr.

  Mist, der leere Akku machte mich immer nervöser. Wenn ich während meiner Ausbildung eins gelernt hatte, dann war es, auf mein Bauchgefühl zu hören. Denn oftmals konnte eine intuitive Reaktion den Unterschied bedeuten, ob eine Kugel in deiner Schulter steckte oder eben nicht. Ohne hinzusehen, schnappte ich mir das Handy und sprang auf die Beine. Ich sollte das Ding wirklich aufladen, bevor …

  Plötzlich krachte etwas hart gegen meinen Rücken.

  »Was zum …?« Fluchend kam ich ins Stolpern. Rosa Haarsträhnen füllten mein Gesichtsfeld und ich hörte einen überraschten Schrei, der mir in den Ohren klingelte.

  Ich reagierte instinktiv. Obwohl ich gerade selbst zu Boden fiel, drehte ich mich blitzschnell herum und schlang schützend die Arme um die Taille des Mädchens, damit es auf mir landen würde. Pfft. Mir schoss die Luft aus den Lungen, während sich ein schlanker, warmer Körper an mich presste. Ein Knie drückte mir ziemlich unangenehm in die Leiste, was mich schmerzerfüllt aufstöhnen ließ. Himmel! Das waren die spitzesten Knie der Weltgeschichte.

  »Fuck! Hast du was mit den Füßen oder findest du mich einfach nur umwerfend?« Schwer atmend starrte ich das Mädchen an – und blickte in die größten blauen Augen, die ich jemals gesehen hatte. Wow.

  Helles Haar mit rosa Spitzen fiel ihr in wirren Wellen um die Schultern und kitzelte meine Brust, während sich schmale Finger in mein schwarzes T-Shirt krallten. Blasse Sommersprossen tanzten auf einer niedlichen Stupsnase, die sich erschrocken kräuselte, als sie sich wie von der Tarantel gestochen aufrichtete.

  »Holy Crap! Tut mir leid! Geht es dir gut?«

  Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, besonders als sie begann, meine Arme nach möglichen oder unmöglichen Brüchen abzutasten. Dabei saß sie breitbeinig auf mir, sodass mein Blick direkt auf ihren Brüsten landete – und ach du Scheiße! Wenn das mal nicht die heißesten Brüste vom ganzen Campus waren. Das konnte selbst das tanzende Einhorn auf ihrem T-Shirt nicht verstecken. Schnell wandte ich mich wieder ihrem Gesicht zu. Doch je länger ich sie betrachtete, desto mehr hatte ich das Gefühl, sie irgendwoher zu kennen …

  »Hey, hast du mich nicht vorhin fast überfahren?«

  Das Mädchen erstarrte. Ihr Mund klappte auf und formte ein entzückendes O, während ihr Blick von meinem Unterlippenpiercing zu den silbernen Steckern in meinen Ohren und dann weiter zu den etwas längeren schwarzen Stirnfransen wanderte, die ich mir wegen der Hitze mit einer kleinen Klammer hochgesteckt hatte. Amüsiert beobachtete ich ihr Mienenspiel, das von Besorgnis zu dezenter Panik wechselte, als sie die schwarzen Tattoos entdeckte, die aus meinem V-Ausschnitt hinausragten.

  »Ähm, ja«, stotterte sie und sah dabei aus wie ein verschrecktes Kaninchen, das vor dem großen bösen Wolf die Ohren anlegte. »Noch mal sorry deswegen, ich hab nicht aufgepasst.«

  »So wie gerade auch nicht?«, fragte ich verärgert.

  Schuldbewusst zuckte sie zusammen. »Tut mir leid«, murmelte sie leise.

  War ihr bewusst, dass sie immer noch rittlings auf mir saß?

  »Aber das war nicht mit Absicht, ich hab einen Football an den Kopf bekommen«, fügte sie mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu und deutete auf das ovale Ding, das ein Stück neben uns im Gras lag. Was?

  »Hey!« Shane kam grinsend auf uns zugejoggt. »Sorry! Der Pass ging ein bisschen zu weit. Geht es euch gut?« Die Frage war zwar an uns beide gerichtet, doch sein Blick klebte dabei an dem Mädchen, dem er helfend die Hand entgegenstreckte. Amüsiert beobachtete ich, wie sie Shane anstarrte, als hätte er ihr gerade ein unanständiges Angebot gemacht.

  »Alles okay?«, hakte Shane nach, als sie seine Hand immer noch ignorierte.

  Langsam wanderte ihr Blick zu seinem nackten Oberkörper – und blieb dort hängen. Das T-Shirt, das dieses übertriebene Sixpack eigentlich verdecken sollte, musste er wegen der Hitze ausgezogen haben.

  Shane entging ihr Blick natürlich nicht. »Wie wär’s, soll ich dir aufhelfen? Ich lad dich als Entschuldigung gern auf einen Drink ein«, sagte er mit einem Augenzwinkern. »Oder soll ich dich weiter auf Ray hocken lassen? Sieht aus, als hättet ihr es gerade ziemlich gemütlich.«

  »Was?« Verwirrt sah sie auf mich runter.

  Ich versuchte, ein Grinsen zu unterdrücken, und deutete auf ihre Beine, die sich um meine Hüften schlangen. Nicht dass ich was dagegen gehabt hätte, aber normalerweise wusste ich den Namen der Lady, der ich so viel Körperkontakt zu verdanken hatte. Zumindest von den meisten wusste ich ihn.

  »Oh, verdammt!«

  Ihre Wangen liefen knallrot an und sie schoss so schnell in die Höhe, dass sie prompt wieder über meine Beine stolperte. Ihre Augen waren vor Entsetzen weit aufgerissen.

  Gerade wollte ich sie beschwichtigen, dass es Schlimmeres gab, als ein leicht durchgeknalltes Mädchen auf sich sitzen zu haben. Doch dann wurde mir klar, dass sie gar nicht mich ansah. Fast panisch eilte sie zu einer gigantischen Handtasche, aus der eine Flasche Gatorade herausgefallen war. Scheiße, das Zeug gab es immer noch? Ich dachte eigentlich, die Gesundheitsbehörde hätte das Giftgemisch längst aus dem Verkehr gezogen. Aber offensichtlich nicht, denn der neonblaue Inhalt breitete sich ziemlich schnell über dem Rasen und in ihrer Tasche aus.

  »Oh nein, die Unterlagen für das Wohnheim«, jammerte sie und schraubte die Flasche verzweifelt zu. Mit spitzen Fingern hob sie ein paar vollkommen durchnässte Anmeldeformulare hoch.

  Shane starrte peinlich berührt auf die tropfenden Zettel, während er den Football von einer Hand in die andere warf. »Uh, sorry noch mal. Der Ball hat dich bestimmt ganz schön hart am Kopf erwischt. Ist dir schwindlig? Brauchst du ’n Coolpack oder so?«

  Das Mädchen wurde ganz blass um die Nase und schüttelte hektisch den Kopf, dabei taumelte sie ein wenig.

  »Hey, geht’s dir gut?« Besorgt sprang ich auf die Füße und hielt sie am Ellenbogen fest.

  »Ja … nein … meine Anmeldezettel!« Sie klang tatsächlich verzweifelt, während sie vorsichtig versuchte, den pappigen Haufen trocken zu wedeln. Das Gatorade spritzte dabei in alle Richtungen.

  »Keine Panik«, meinte Shane und ließ den Ball auf seinem Zeigefinger kreiseln.

  Scheiße, langsam ging er mir damit echt auf die Nerven. Konnte der das Ding nicht mal eine Sekunde weglegen?

  Ich warf Shane einen finsteren Blick zu, bevor ich mich wieder an das Mädchen wandte. »Er hat recht, wenn es noch lesbar ist, dann kannst du es noch verwenden. Ansonsten musst du nur zur Verwaltung gehen und dir dort neue Formulare holen. Ist doch für das Wohnheim, oder?«

  »Ich … ja …« Sie sah auf und nickte hektisch, wobei sie leicht zusammenzuckte. Ihr tat also doch der Kopf weh. �
�Ich sollte in einer Stunde mein Zimmer zugeteilt bekommen«, fügte sie leise hinzu.

  »Zeig mal!« Shane rupfte ihr die Anmeldezettel aus der Hand, was das nasse Papier sofort auseinanderreißen ließ.

  Ich fluchte. »Scheiße, Shane! Lass mal stecken. Ich mach das schon.« Ich nahm ihm die durchweichten Zettel ab und versuchte, noch etwas zu entziffern. Alles, was ich genauer lesen konnte, war, dass ihr Name mit I begann. Isa? Iris? Der Rest war absolut hinüber. »Ich befürchte, du musst zur Verwaltung«, teilte ich ihr mit.

  »Shrimp! Und wo ist die Verwaltung? Mein Campusplan ist ja jetzt auch komplett nass.«

  Als ich ihren deprimierten Blick wahrnahm, zog sich etwas in meiner Brust zusammen.

  »Tja also, ich geh dann mal wieder zurück. Nimm dir ein Bier, Süße, geht auf mich«, meinte Shane. »Kommst du mit, Ray?« Er sah mich abwartend an, während er den dämlichen Football wieder von einer Hand in die andere warf. Wenn er nicht bald damit aufhörte, würde ich ihm das Ding noch da reinstecken, wo die Sonne nicht hinkam.

  »Nein, lass mal. Ich helfe …« Ich drehte mich wieder zu dem Mädchen herum. »Wie war noch mal dein Name?«

  Sie biss sich auf die Unterlippe und sah unter ihren hellen Wimpern zu mir hoch.

  »I…, ähm, Haidi.«

  Haidi? Und was war mit dem I? Auf dem Zettel stand eindeutig ein I. Aber was wusste ich schon, vielleicht hatte das Gatorade einfach den Rest vom H weggeätzt. »Cool, also ich begleite Haidi zur Verwaltung«, sagte ich zu Shane, zu Haidi gewandt fügte ich augenzwinkernd hinzu: »Nicht dass du am Ende doch noch jemanden umbringst.« Amüsiert beobachtete ich, wie ihr die Röte in die Wangen schoss. Niedlich.

  »Klar, wie auch immer.« Shane zuckte mit den Schultern. »Wir sehen uns später, Ray.«

  »Klar, bis später.«

  Wir nickten uns zum Abschied kurz zu und ich nahm mir im gleichen Augenblick vor, den Kontakt in Zukunft auf dieses Nicken zu beschränken. Langsam fiel mir wieder ein, warum ich neunundneunzig Prozent der anderen Kids in der Highschool nicht hatte ausstehen können.

  »Es ist wirklich nett, dass du mir helfen willst, aber du musst das nicht tun. Ich komme schon klar. Außerdem fühle ich mich ein wenig komisch dabei, mir von dem Typen helfen zu lassen, dem ich fast meinen ersten Mord samt Fahrerflucht zu verdanken habe«, sagte Haidi neben mir.

  Lachend guckte ich auf sie runter. Verdammt, war sie klein. Wie eine Elfe, nur … heißer. »Fahrerflucht? Wärst du etwa nicht stehen geblieben, um zu schauen, ob ich noch atme?«

  Unweigerlich blieb mein Blick an ihren vollen Lippen hängen. Die Vorstellung, dass Haidi sich über mich beugte, um mich mit einer Mund-zu-Mund-Beatmung wiederzubeleben, ließ mich noch breiter grinsen.

  Haidi musterte mich skeptisch. Ihre Augen verengten sich und sie kräuselte die Nase, als wüsste sie ganz genau, welch schmutzige Fantasien mein Hirn gerade produzierte. »Weiß nicht, meine Barbie-Karre ist nicht zu unterschätzen. Wenn ich mal wen platt walze, steht er für gewöhnlich nicht wieder auf«, stichelte sie und verschränkte die Arme vor ihrer Oberweite, die …

  Räuspernd zwang ich meinen Blick nach oben. »Tja, wenn du mit dem Ding in Pink angekommen wärst, hätte ich mich wahrscheinlich freiwillig überfahren lassen«, zog ich sie auf.

  Haidi funkelte mich böse an. »Okay, klar, wie auch immer. Ich muss dann mal die Verwaltung suchen. Du musst wirklich nicht mitkommen. Sorry noch mal wegen dem Beinaheunfall und … ähm … dem Umrennen.« Damit warf sie ihre Tasche über die Schulter, machte auf dem Absatz kehrt und lief los.

  Verdutzt blickte ich ihr nach, den fliegenden blonden Haaren mit den pinken Spitzen und einem Paar schlanker blasser Beine hinterher, die sich schnell von mir entfernten. Rannte sie gerade vor mir davon?

  Ivy

  Aaaaah. Peinlich. Peinlich. Peinlich. Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen schoss. Bestimmt war ich knallrot im Gesicht – wie ein Hummer, der in der unerträglichen Hitze zu kochen anfängt. Ich verpasste mir innerlich einen Tritt für den peinlichsten Auftritt meines gesamten Lebens. Ohne mich noch einmal umzudrehen, flüchtete ich über das kurze Rasenstück der Verbindung und versuchte dabei, möglichst nicht auf den herumliegenden Bierdosen auszurutschen und mir den Hals zu brechen.

  Warum musste so was auch immer mir passieren? Konnte ich nicht einmal in meinem Leben cool sein? Oder zumindest so viel Glück haben, nicht ausgerechnet den Typen über den Haufen zu rennen, den ich davor schon fast überfahren hatte? Einen total einschüchternden Kerl noch dazu! Dieser Ray sah aus, als könnte er auf dem Cover für Sexy Ink posieren. Meine Mutter hätte mich gar nicht erst in die Nähe von jemandem gelassen, der so aussah wie … wie … na ja, eben wie Ray. Nicht dass er schlecht aussah. Wenn ich ehrlich war, sah Mr Beinaheunfall sogar richtig gut aus. Holy Moly! Wie ein tätowierter Panther. Schlank, groß, geschmeidig und sein Lächeln brachte mich einem halben Herzinfarkt nahe. Ich schauderte und rannte gleichzeitig schneller. Meiner lebhaften Fantasie davon, die schamlos schnurrend in Rays Armen zurückgeblieben war. Irgendwie hatte mich diese Begegnung verstört. Seine grünen Augen ließen mich nicht mehr los. Als würde man in zwei funkelnde Smaragde blicken, in denen eine Persönlichkeit schimmerte, bei der sich mir sämtliche Nackenhaare aufstellten. Ich konnte seinen Blick immer noch auf mir spüren.

  Prompt meldete sich auch mein Verfolgungswahn. Um mich selbst zu beruhigen – und um sicherzugehen, dass Ray mir nicht doch folgte –, drehte ich mich noch mal um und stellte fest, dass ich bereits ein ganzes Stück die Straße runtergelaufen war. Doch ohne meine Brille sah ich ein wenig verschwommen – meine Kontaktlinsen hatte ich in Miami vergessen –, weshalb ich die Studenten, die vor einer blau gestrichenen Veranda herumstanden und aus roten Plastikbechern tranken, nur undeutlich erkennen konnte. Kein Ray in verschwommener Sicht.

  Er könnte sich aber auch hinter einem Baum verstecken. Ich schüttelte den Kopf, um den unsinnigen Gedanken zu vertreiben. Warum sollte er so etwas tun? Nicht mal ich hatte so viel Pech, mir gleich in den ersten zehn Minuten am College einen Stalker anzulachen. Aber … nun ja … Was, wenn er dich erkannt hat und nur auf eine Gelegenheit wartet, dir zu folgen?, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf, die verdächtig nach Harry, dem Security meines Vaters, klang. Automatisch straffte ich meine Schultern, nahm eine gerade Haltung ein und kniff die Pobacken zusammen. Selbst als imaginäre Stimme hatte Harry diese Wirkung. Zu tief saß der Drill, den er mir seit meiner Kindheit eingeimpft hatte. Immer wachsam bleiben. Körperkontakt vermeiden. Nichts annehmen. Mit niemandem mitgehen. Unter keinen Umständen die Handynummer hergeben. Und falls mich jemand bedrängte, sollte ich so schnell wie möglich eine geschützte Ecke suchen und sofort Harry oder einem der anderen Securitys Bescheid geben, damit sie mich mit dem SUV abholen kommen konnten.

  Die letzte Maßnahme hatte ich erst zweimal in Anspruch nehmen müssen. Einmal, als ein paar Paparazzi mich beim Shoppen erkannt und zu aufdringliche Fragen zum Crash der RedEnergies-Aktien im letzten September gestellt hatten. Und einmal, weil meine ehemalige Freundin Chloé felsenfest davon überzeugt gewesen war, dass ein fremder Typ ihre neue Valentino klauen wollte. Im Nachhinein betrachtet, hatte er uns eher wegen Chloés Sonnenstudiounfalls so angeglotzt. Beide Male hatte ich nur meinen Notfall-Pager drücken müssen, und Harry hatte innerhalb von wenigen Minuten auf der Matte gestanden. Nur konnte ich das jetzt gerade leider nicht tun. Mein neuer Security würde erst später eintreffen. Meinen Pager hatte ich zwar in meiner Handtasche, aber Harry war zweihundertfünfzig Meilen weit weg. Also musste ich die Situation selbst in die Hand nehmen und verflucht noch mal aufhören, herumzulaufen wie ein kopfloses Huhn.

  Ich zwang mich dazu, langsamer zu gehen und die stickige Luft einzuatmen. Meine Lungen brannten vom Laufen, aber zumindest half der Sauerstoff ein wenig, mein rasendes Herz zu beruhigen. Ich atmete tief ein und aus, versuchte, die antrainierte Vorsicht gegenüber anderen Menschen – insbesondere bei fremden Menschen – meditativ wegzuatmen, bis mir von dem ganzen Sauerstoff schwindlig wurde. Ein Stück weiter vorn zweigte die Straße bereits zu den P
arkplätzen ab. Kurz überlegte ich, zurück in mein Auto zu steigen und meinen Vater um sofortigen Geleitschutz zu bitten. Es waren nur knappe drei Stunden bis zum Campus. Harry könnte eventuell Steve schicken, bis … nein! Ich war kein Angsthase. Ich würde das hinbekommen! Ich musste das alleine schaffen. Demonstrativ ging ich in die andere Richtung, weg vom Parkplatz.

  Vor mir breitete sich eine große Parkanlage aus. Das satte Grün half mir dabei, meine Angst unter Kontrolle zu kriegen. Meine Knie zitterten zwar immer noch, aber ich blickte nicht zurück. Stattdessen strebte ich entschlossen ein rotes Backsteingebäude an, das wie eine Fakultät oder ein Wohnheim aussah. Obwohl ich mir natürlich vorher den Campusplan angesehen und eingeprägt hatte, musste ich nun doch feststellen, dass ich absolut keine Ahnung hatte, wo ich mich gerade befand. Seufzend blieb ich stehen und suchte in den durchnässten Unterlagen nach dem Campusplan. Es musste doch möglich sein herauszufinden, wo um alles in der Welt ich war. Oder wo sich die Verwaltung versteckte. Angestrengt studierte ich die feuchten Linien. Dabei versuchte ich penibel, das bereits eingerissene Papier nicht noch weiter zu beschädigen. Mit der Fingerkuppe fuhr ich über ein paar Balken, die wohl den Parkplatz markierten. Und daneben … Verwirrt legte ich den Kopf schief. Diese Striche und Kreise halfen mir nicht wirklich, mich zu orientieren. Laut Campusplan lag die Verwaltung bei einem Wohnheimkomplex, der wie ein Y aussah. Direkt neben einem Gebäude, das wie ein X aussah. Aber als ich mich umschaute, konnte ich weder ein X noch ein Y entdecken. Das Haus vor mir ähnelte eher einem verzogenen, schiefen L. Frustriert schnaubte ich. So würde ich nicht weiterkommen. Also musste ich auf dem Plan nach Dingen suchen, die in meiner unmittelbaren Umgebung waren. Das auffälligste in meiner Nähe war eine Statue von Ben Franklin, der jemand eine Harry-Potter-Narbe verpasst hatte. Ich starrte wieder auf den Plan und nach nur wenigen Sekunden hatte ich sie gefunden. Direkt neben … Gebäude T. Argh!

 

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