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Kiss Me Once

Page 4

by Stella Tack


  »Brauchst du Hilfe?«

  Warmer Atem traf meinen Nacken.

  Wenn dir jemand von hinten zu nahe kommt, halte ihn dir vom Leib – nutze alles, was du hast, selbst wenn es nur einer deiner Pumps ist!

  Erschrocken fuhr ich herum und schleuderte der Person hinter mir die durchnässten Zettel ins Gesicht. Es war zwar kein Pump, aber meine Flipflops schienen mir auch nicht unbedingt geeigneter als Waffe. Zumindest schien es einen erblindenden Effekt zu haben, denn der Typ jaulte auf und wischte sich hektisch das Papier aus den Augen.

  »Hölle, brennt das Zeug!«

  Holy Turkey! Es war Ray. Er blinzelte heftig, während er sich immer wieder übers Gesicht wischte und Papierklumpen ausspuckte. Um nicht getroffen zu werden, wich ich ein paar Schritte zurück, bis ich mit dem Rücken gegen Ben Franklins Knie stieß. Kampfbereit hob ich meine Handtasche. Das Ding war so vollgepackt mit Gatorade und anderen Sachen, dass ich ihn damit noch bis übermorgen k.o. schlagen könnte. Irgendwo musste auch noch Pfefferspray und eine Vergewaltigungspfeife sein, aber bis ich die endlich ausgegraben hatte, hatte ich schon längst zugeschlagen.

  »Was willst du von mir?«, rief ich und war unglaublich stolz darauf, wie taff ich klang.

  »Ähm, dir helfen? Zumindest hatte ich das vor, bevor du mich mit Säure beworfen hast.« Ray blinzelte mich anklagend unter seinen nassen schwarzen Wimpern an. »Scheiße!« Ächzend wischte er sich über die Augen. »Wenn das Zeug wegen dem Gatorade so brennt, solltest du wirklich aufhören, es zu trinken. Das kann nicht gesund sein.«

  Das schlechte Gewissen, das sich gerade einschleichen wollte, war sofort wie weggeblasen. Denn niemand beleidigte mein heiliges Getränk. Herausfordernd verengte ich die Augen zu Schlitzen. »Es ist auch nicht gesund, wenn man eine Handtasche zwischen die Beine geschlagen bekommt. Also sag, was du von mir willst, oder hau ab!«

  Ein halb verärgerter, halb belustigter Ausdruck huschte über Rays Gesicht. Einmal mehr wurde mir bewusst, wie sehr mich sein Aussehen verunsicherte. Ray war vielleicht kein Anabolika-Muskelprotz, aber er war trotzdem ziemlich groß und durchtrainiert. Die Tattoos auf seinen Armen leuchteten in der Sonne wie schwarze Schlangen und verliehen ihm eine gefährliche Ausstrahlung. Mein Herz schlug plötzlich schneller, während ich mich Schutz suchend enger an die Statue drückte – genau gegen das spitze Knie von Benjamin Franklin. Autsch!

  Ray knabberte an seinem Unterlippenpiercing, während er mich mit seinen grünen Katzenaugen abschätzend musterte. Keine Ahnung, was er sah. Ich hoffte auf eine wütende Kriegerprinzessin Xena. Aber wahrscheinlich sah er nur ein verängstigtes Häschen mit pinken Fellbüscheln.

  »Was willst du?«, wiederholte ich.

  Ray hörte auf, auf seiner Unterlippe herumzuknabbern, und hob beruhigend die Hände. »Hey, alles gut, Haidi. Ich wollte gerade in mein Wohnheim zurück. Und als ich dich gesehen habe, dachte ich, du willst vielleicht doch meine Hilfe.«

  Haidi? Ach ja, fast hätte ich vergessen, dass ich mich vorhin mit meinem zweiten Vornamen vorgestellt hatte. Meine ehemalige Freundin Chloé hatte mich auch manchmal so genannt. Eigentlich mochte ich den Namen nicht besonders, trotzdem war es mir sicherer erschienen, mich nicht sofort als Ivy vorzustellen.

  »Klar, du wolltest nur ganz zufällig zurück …«, sagte ich skeptisch. »Und was ist mit der Party?«

  Ray zuckte lässig mit den Schultern und ging noch einen weiteren Schritt zurück. Meine Panik ebbte dadurch zwar ein wenig ab, doch das Misstrauen blieb.

  »Ich bin selbst erst heute angekommen und muss noch auspacken«, fuhr er fort. »Außerdem sind mir die Typen auf die Nerven gegangen. Keine Ahnung, wie die das warme Bier literweise trinken können – das schmeckt wie Pisse.«

  Ein freches Grinsen breitete sich auf Rays Gesicht aus, sodass ich ein Zungenpiercing zwischen seinen weißen Zähnen aufblitzen sehen konnte. Jeese!

  Angestrengt versuchte ich, meine Angst hinunterzuschlucken. Zumindest glaubte ich, dass es Angst war, die mein Herz wie verrückt schlagen ließ.

  »Okay, also, kannst du bitte aufhören, mich zu stalken?«, presste ich hervor. »Das macht mich dezent nervös.« Vielleicht half es ja, wenn ich ehrlich zu ihm war.

  Ray lachte, trat jedoch einen weiteren Schritt zurück. Dabei fiel ihm das dunkle Haar in die Stirn. »Kein Problem. Stalken war ohnehin nie meine Stärke. Aber ich mach dir einen Vorschlag: Ich könnte ja mal ganz zufällig in Richtung Wohnheimverwaltung gehen und du könnest mir ebenso zufällig die paar Meter folgen. Danach kann ich beruhigt in mein Zimmer gehen und du musst heute Nacht nicht neben Benny schlafen.«

  Er deutete kurz auf die Statue, gegen die ich mich immer noch presste, und steckte sich dann die herabgefallenen Haare wieder mit einer kleinen Klammer hoch. Ein paar Strähnen standen danach wirr von seinem Kopf ab, was irgendwie niedlich aussah und eine erstaunlich beruhigende Wirkung auf meinen Puls hatte.

  Okay, es gab keinen Grund, Angst vor Ray zu haben. Er war – von seinem wilden Äußeren einmal abgesehen – wahrscheinlich ein ganz netter Kerl. Ich reagierte gerade nur ein wenig über. »Klingt gut«, gab ich schließlich zu.

  Ray lächelte. Dabei bildete sich ein kleines Grübchen in seiner linken Wange. Und zum ersten Mal sah ich auch die leichte Einkerbung in seinem Kinn.

  Ohne auf eine Antwort von mir zu warten, schob er die Hände in seine Hosentaschen und ging einfach los. In eine komplett andere Richtung als die, in die ich eigentlich hatte gehen wollen. Irritiert blinzelte ich ihm hinterher. Also, entweder wollte er mich in die Irre führen, k.o. schlagen und mich dann an einem finsteren Ort gefangen halten und Lösegeld erpressen … oder ich hatte absolut keinen Orientierungssinn. Wahrscheinlich letzteres. Schnaufend trottete ich ihm hinterher, hielt jedoch ein gewisses Maß an Sicherheitsabstand. Falls er etwas Dummes versuchte, könnte ich ihm immer noch Gatorade ins Gesicht spritzen.

  Unauffällig ließ ich mich noch ein wenig weiter zurückfallen, um meinen Retter in der Not genauer betrachten zu können. Dabei konnte ich vor allem seine Kehrseite bewundern. Bisher hatte ich diese bei Jungs in meinem Alter hauptsächlich in Anzügen oder verdeckt von teuren Jacketts zu sehen bekommen. Höchstens noch in Golfhosen, die jede Schwärmerei für einen etwaigen knackigen Hintern sofort im Keim erstickten. Ray trug jedoch eine einfache Jeans, die wenig Spielraum für Interpretationen ließ. Dabei bewegte er sich so unglaublich geschmeidig, dass mir meine eigenen Schritte unverhältnismäßig laut vorkamen. Meine Flipflops waren das einzige Geräusch, das die Stille zwischen uns füllte. Nur hin und wieder begegneten wir auf dem Weg durch die grüne Campusanlage anderen Studenten. Ray ließ sich währenddessen durch nichts aus der Ruhe bringen. Er schien zu spüren, dass ich ihm nicht ganz traute, denn er sah kein einziges Mal zu mir zurück. Offenbar überließ er es mir, wie nah ich ihm sein wollte.

  Nach ein paar Minuten entspannte ich mich endlich etwas und musterte neugierig den Campus, der für die nächsten Semester mein Zuhause sein würde. Die UCF schien im Großen und Ganzen eine riesige Parkanlage zu sein, in der sich die Fakultäten, Wohnheime und andere Gebäude verteilten. Das meiste war offenbar zu Fuß erreichbar und von den Bildern aus dem Internet wusste ich auch, dass es hier ein paar Cafés, einen Supermarkt und sogar einen Drugstore gab, der für die Studenten zur Verfügung stand. Ich würde also nicht mal den Campus verlassen müssen, wenn ich Klopapier kaufen musste.

  Zwischen dem künstlichen Grün zogen sich breite Schotterwege hindurch, die teils von hohen, knorrigen Bäumen gesäumt waren. Die meisten davon waren mit dicht herabhängenden Flechten versehen und spendeten ein wenig Schatten. In regelmäßigen Abständen standen braune Parkbänke, auf denen es sich ein paar Studenten gemütlich gemacht hatten und in ihren Büchern schmökerten oder Kaffee schlürften. Die Gespräche und das sorglose Lachen hallten wie eine faszinierende Musik in meinen Ohren wider. Eine angenehme Gänsehaut überzog meine Arme und ich merkte, wie sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf meine Lippen stahl. Freiheit. So sah also Freiheit aus und bald, nein, ab heute würde die UCF auch meine Karte in die Freiheit sein.
Nicht mehr lange und ich würde mich endlich nicht mehr die ganze Zeit nervös umblicken, würde nicht mehr die ganze Zeit das Gefühl haben, schutzlos im Regen zu stehen. Solange ich hier war, würde ich den Notfall-Pager nicht mehr mit mir herumtragen müssen. Endlich konnte ich die Person sein, die ich schon immer sein wollte. Es brauchte nur eine Weile, bis mein Kopf das auch kapiert hatte. Entschlossen ging ich etwas schneller, sodass ich nun fast auf gleicher Höhe mit Ray war.

  »Noch nicht viel los auf dem Campus«, brach er schließlich das Schweigen zwischen uns.

  »Ja.« Ich lächelte ihn an und bemerkte mit pochendem Herzen, wie er die Geste erwiderte. Unauffällig wischte ich mir die nassen Hände an der Hose ab.

  »Aber ich glaube, das wird sich bald ändern. Spätestens wenn die Anmeldungsphase für die Kurse, Clubs und Verbindungen beginnt«, redete Ray munter weiter. Er neigte den Kopf. »Hast du dich schon für eine Verbindung beworben?«

  »Nein, ich habe mir zwar ein paar angesehen, aber ich bin weder katholisch noch sportlich genug, um infrage zu kommen«, erklärte ich ihm.

  Er nickte. »Ganz unter uns: Ist vermutlich auch besser so. Sonst musst du am Ende noch auf die Heilige Schwesternschaft schwören, deine tugendhafte Jungfräulichkeit bis ans Ende der Collegezeit zu bewahren. Ich kann mir nichts Grauenhafteres vorstellen.«

  Amüsiert sah ich zu ihm hoch. »Höre ich da etwa Verbitterung heraus? Sprichst du aus persönlicher Erfahrung?«

  Getroffen fasste er sich an die Brust und stöhnte. »Du hast mich erwischt. Ich musste einen Keuschheitsschwur ablegen und bereue es seit fünf Minuten zutiefst. Aber immerhin bekomme ich gratis Essenscoupons.«

  Wir lachten. Es war beinahe etwas schüchtern, ein Herantasten an den jeweils anderen. Aber ich musste zugeben, dass Ray einen tollen Humor hatte. Das ließ mich etwas mutiger werden.

  »Ich habe mich bereits für ein paar Kurse angemeldet, auf die ich mich schon sehr freue«, sagte ich nach einer Weile.

  »Cool. Welche Kurse hast du denn belegt?«

  »Fix sind eigentlich nur die Pflichtvorlesungen fürs erste Semester. Aber ich habe auch noch genug Freizeit eingeplant für andere Kurse, die ich einfach so besuchen möchte.«

  »Ah.« Ein Grübchen blitzte auf. »Und welche willst du abgesehen von den Basiskursen noch besuchen?«

  »Alle!«

  Er lachte und ein warmes Gefühl breitete sich in meinem Bauch aus. Verstohlen musterte ich ihn aus dem Augenwinkel. Meine Mutter beherrschte es perfekt, jemanden zu beobachten, ohne dass derjenige etwas davon mitbekam. Manchmal schien es fast so, als hätte sie Augen im Hinterkopf, vor allem dann, wenn sie sich mit jemandem unterhielt und dabei gleichzeitig verächtlich die Louis Vuittons aus der letzten Saison von der Person schräg hinter sich musterte und kommentierte. Sie schielte dabei nicht mal. Ich leider schon.

  Ray schien davon allerdings wenig zu halten, denn sobald er meinen Blick auf sich spürte, drehte er sich zu mir und zog fragend eine Augenbraue nach oben. »Habe ich was im Gesicht?«

  »Ähm … nein, nicht direkt«, nuschelte ich und spürte, wie mir die Hitze in die Wangen schoss. »Wie viele Piercings hast du?« Die Frage war raus, bevor ich mich zurückhalten konnte. Schnell biss ich mir auf die Unterlippe.

  Ray grinste jedoch nur. »Zuzüglich der Stecker in den Ohren?«

  Sag Nein! Es interessiert dich nicht! Doch anstatt auf meine innere Stimme zu hören, nickte ich.

  »Lass mich mal überlegen.« Nachdenklich leckte er sich über die Unterlippe. Dabei musste er wohl mit dem Zungenpiercing gegen die Zähne gestoßen sein, denn ich hörte ein leises metallisches Klacken.

  »Acht … nein, sieben. Das in der Augenbraue hat sich immer entzündet, darum habe ich es zuwachsen lassen.«

  Fasziniert schielte ich auf seine schwarze Braue. Als er meinen Blick bemerkte, lehnte er sich zu mir herunter. Plötzlich war er mir so nahe, dass mir sein Geruch entgegenschlug, der so … na ja, nach Seife, Pfefferminz und etwas Aromatischem roch, das ich nicht benennen konnte, was aber eindeutig kein Parfum war. Es erinnerte mich ein wenig an Räucherstäbchen.

  »Hier war es!« Er deutete auf eine winzige, kaum sichtbare Narbe am Rande seiner linken Augenbraue. Die – nebenbei bemerkt – ziemlich sexy aussah. Kräftig und elegant geschwungen. Mein Blick huschte zu dem silbernen Ring, der an seiner Unterlippe aufblitzte.

  »Hat das nicht wehgetan?«, fragte ich und tippte an meine Unterlippe. Seine traute ich mich nicht anzufassen, auch wenn ich es vielleicht gewollt hätte. Ein Funkeln stahl sich in seine Augen. Er schien sich offenbar Mühe zu geben, mich nicht auszulachen.

  »Gar nicht. Allerdings war ich an dem Tag, an dem ich es mir stechen ließ, auch nicht ganz nüchtern. Willst du es mal anfassen?«, bot er mir prompt an.

  Hektisch schüttelte ich den Kopf. »N…nein danke!«

  Ray sog grinsend den Ring in seinen Mund ein. Als er wieder herauskam, glänzte er in der Sonne.

  Okay, das in der Lippe mochte ich. Ein bisschen zumindest. Aber hatte er nicht von sieben Stück gesprochen? Neugierig suchte ich nach weiteren Metallsteckern. Das in seiner Zunge musste Piercing Nummer zwei sein. Im linken Ohr zählte ich zwei Stecker und einen Ring, und im anderen Ohr einen Stecker. Nach meiner Rechnung fehlte demnach noch eines.

  »Das letzte kann man nicht sehen.« Er zwinkerte mir verschwörerisch zu.

  Sofort schoss mein Blick nach unten und mein Mund klappte auf. Hatte er etwa …? Jeese! Ich hatte zwar schon davon gehört, dass man sich den Genitalbereich durchstechen lassen konnte, aber diese Vorstellung war einfach nur verstörend.

  Als Ray meinen entsetzten Gesichtsausdruck sah, prustete er los. »Du müsstest dich gerade selbst sehen.« Er versuchte, ernst zu bleiben, doch es gelang ihm nicht wirklich. »Wenn du es sehen willst, musst du mir nur mein Shirt ausziehen.«

  Ray betrachtete mich mit einem verschmitzten Lächeln, während ich meinen Blick erleichtert wieder etwas höher wandern ließ. Also doch nicht Eier am Spieß, sondern nur die Brustwarze! Ich suchte nach dem verräterischen Ringabdruck unter seinem T-Shirt, doch ich sah nichts. Verwirrt sah ich ihn an.

  »Wirklich? Du verarschst mich doch, oder?«, fragte ich skeptisch.

  Rays Antwort bestand aus einem Augenzwinkern und einem wissenden Lächeln, das mir die Röte in die Wangen trieb. Seine Augen funkelten amüsiert.

  Okay, es wurde mir hier eindeutig zu zweideutig. Mein prüdes Herz verkraftete das einfach nicht. Schnell rückte ich wieder etwas von ihm ab und wich seinem Blick aus.

  »So, hier sind wir auch schon«, verkündete Ray nach einer Weile. Just in dem Moment, in dem ich mich unauffällig davonschleichen wollte. Erleichtert blieb ich stehen und betrachtete die vierstöckige Wohnheimanlage, die sich vor uns erstreckte. Viel schien auch hier noch nicht los zu sein. Nur ein paar wenige Fenster standen offen und aus einem der Zimmer weiter oben drang leise Musik zu uns herunter. Irgendwo lachten ein paar Mädchen. Der sauer vergorene Geruch nach abgestandenem Bier lag in der Luft und ich hätte lügen müssen, wenn ich behauptet hätte, begeistert von der Wohnheimanlage zu sein. Skeptisch sah ich zu Ray hinüber, der gerade ebenfalls das Gesicht verzog.

  »So kurz vor dem Semester lassen alle, die schon hier sind, die Sau raus, bevor die Verwaltungsaufsicht die Zimmer kontrolliert. Deshalb findet hier morgen auch noch eine Party statt. Sehen wir uns da?«

  »Ähm … vielleicht. Ich weiß ja noch gar nicht, in welches Wohnheim ich eingeteilt werde«, druckste ich herum, weil mir bei der Vorstellung, mit Ray eventuell das gleiche Wohnheim zu teilen, das Herz in die Hose rutschte. Holy Moly! Jetzt, wo unser Geplänkel vorbei war, wurde ich plötzlich wieder nervös. Ich räusperte mich. »Ich sollte dann mal gehen. Danke fürs Begleiten!«

  Unsicher betrachtete ich wieder das Backsteingebäude, an das ein schmaler Anbau grenzte. Der Haupteingang des Wohnheims schien allerdings weiter vorn zu liegen.

  »Die Verwaltung ist übrigens da hinten«, sagte Ray, als er meinen Blick bemerkte, und deutete auf den Anbau. »Und kein Ding. Wir sehen
uns bestimmt bald wieder.« Er zwinkerte mir zu und zupfte neckisch an einer pinken Haarspitze, bevor er in Richtung des Haupteingangs verschwand. Mit offenem Mund starrte ich ihm hinterher.

  Ivy

  Ich zwang mich weiterzugehen, korrigierte nervös den Griff um meine Tasche und klopfte schließlich vorsichtig an die Tür der Verwaltung. Drinnen konnte ich gedämpftes Papierrascheln hören, gefolgt vom Piepen eines Druckers. Jemand fluchte leise. Zögernd drückte ich die Klinke nach unten.

  »Hallo?« Ich streckte den Kopf in den Raum und sah ein schmales Büro, dessen Innenarchitekt irgendwann in den Siebzigern beschlossen haben musste, dass Matschbraun kombiniert mit Grellorange die Farbkombination schlechthin war. Der Geruch nach Filterkaffee und Mottenkugeln stieg mir in die Nase.

  Hinter dem wuchtigen Tresen, der beinahe die Hälfte des Raums einnahm, stand eine füllige Frau mit dem Rücken zu mir und verpasste dem Ungetüm von Drucker gerade einen wütenden Schlag. »Verfluchtes Ding«, fauchte sie. Der Drucker stotterte hilflos vor sich hin.

  »Hallo? Kann ich kurz stören?« Zögerlich schob ich mich in den Raum und schloss die Tür hinter mir.

  Erst als sie das metallene Klicken der einrastenden Türklinke hörte, drehte sich die Frau mit einem frustrierten Schnauben zu mir herum. Ihre Wangen waren knallrot, Schweiß glänzte auf ihrer Stirn, und sie sah aus, als würde sie vor Hitze und Wut gleich umkippen. Was ich nachvollziehen konnte. Hier drinnen hatte es gefühlte zweihundert Grad. Offensichtlich hatte man in den Siebzigern auch die Aircondition vergessen und stattdessen in braune Vorhänge mit Paisleymuster investiert.

  »Was kann ich für dich tun, Mäuschen?«, fragte die Verwaltungsangestellte. Ihre blonden Locken standen in alle Richtungen ab, während sie dem Drucker einen weiteren Schlag verpasste.

  »Hi. Ich bin Ivy Bennet.« Unsicher, was ich jetzt tun sollte, beließ ich es bei einem freundlichen Lächeln.

 

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