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002 - Someone Else

Page 12

by Laura Kneidl


  Ich wusste es auch nicht.

  Ein, zwei, drei Herzschläge verharrten wir regungslos, als würden wir darauf warten, dass der Moment vorbeizog wie die kleinen bauschigen Wolken über unseren Köpfen. Aber das tat er nicht.

  Auris Lippen teilten sich, als wollte er etwas sagen. Doch er gab keinen Laut von sich. Stattdessen ließ er den Kopf auf meine Schulter sinken, als wollte er sich vor dem verstecken, was sich gerade zwischen uns abspielte.

  Jäh streifte sein Atem meine Haut. Der sanfte Hauch ein Vorbote seiner Lippen. Zart begann er, mein Schlüsselbein zu küssen. Es war eine federleichte Berührung, die ich dennoch bis in die Zehenspitzen spürte.

  Ich seufzte und klammerte mich fester an ihn.

  Träge glitt sein Mund meinen Hals empor. Immer wieder spürte ich seine Zunge, als versuchte er jeden einzelnen Wassertropfen, der meine Haut bedeckte, mit ihr aufzufangen.

  Ich erzitterte vor Lust, und ein drängendes Gefühl begann zwischen meinen Beinen zu pulsieren.

  Mit der freien Hand strich er mir das Haar über die Schulter, wobei seine Finger einen prickelnden Pfad auf meiner Haut zurückließen, dem er kurz darauf mit seiner Zunge folgte.

  Ein erstickter Laut kam über meine Lippen, als er begann, sanft an meinem Ohrläppchen zu knabbern. Er wusste, wie sehr ich das liebte. Ich hatte es ihm in einer betrunkenen Nacht voller Tequila in unserer Wohnung erzählt, nachdem eine seiner Prüfungen ziemlich schlecht ausgefallen war.

  »Auri, bitte«, flehte ich, nicht wissend, um was ich ihn eigentlich bat. Meine Fersen gruben sich fest in seinen Hintern. Ich wollte ihm noch näher sein, und ihm schien es ähnlich zu gehen. Auffordernd drängte seine Hüfte gegen meine Mitte.

  Ich gab einen erstickten Laut von mir, und mir wurde ein wenig schwindelig, als ich spürte, wie hart er war. Schmerzhaft hart. Ich wollte nichts sehnlicher, als meine Hand in seine Badehose schieben und meine Finger um sein Glied schließen, um ihm Erleichterung zu verschaffen. Doch genau dieser Wunsch war es, der mich wieder zur Besinnung brachte.

  Ich blinzelte. Was machten wir hier? Das war das genaue Gegenteil von dem, was wir tun sollten. Wir waren gerade dabei, unsere Freundschaft zu gefährden, und für was? Einen Orgasmus, eine schnelle Nummer in der Öffentlichkeit?

  Nein. Dafür war mir Auri zu viel wert. Wenn wir das hier durchzogen, würden wir es bereuen, vielleicht den Rest unseres Lebens. Und ich brauchte Auris Freundschaft mehr als alles andere, was ich von ihm bekommen konnte. Wir hatten es geschafft, uns von dem Kuss im Wald und dem gescheiterten Date zu erholen, aber das hier war etwas ganz anders. Wenn wir jetzt weitermachten, gab es kein Zurück mehr.

  »Bitte«, sagte ich atemlos, und dieses Mal wusste ich genau, was ich von Auri wollte. »Lass mich los.«

  Er gehorchte. Es gab kein Zögern. Kein Innehalten. Ich wusste nicht, ob es an meiner eindringlichen Bitte lag oder ob er sich unseres Fehlers im selben Augenblick bewusst geworden war. Doch er ließ mich umgehend zurück ins Wasser gleiten.

  Ich machte einen Schwimmzug weg von ihm, um die Distanz zu ihm zu schaffen, die ich brauchte, um mein wild schlagendes Herz und meine kribbelnde Mitte wieder unter Kontrolle zu bringen. »Danke.«

  Er nickte, erwiderte aber nichts. Sein Gesicht, das ich kurz zuvor so deutlich hatte lesen können, war verschlossen wie ein Buch, das er mir vor der Nase zugeklappt hatte. Nun spürte ich nichts mehr von seiner Wärme.

  Ein Ziehen, und keines der guten Sorte, breitete sich in meinem Magen aus.

  »Wir sollten zurück«, sagte ich, und wir beide wussten, dass ich damit nicht nur den Strand meinte. Ich wollte zurück in unsere Wohnung. Zurück in mein Zimmer. Und vor allem zurück in eine Zeit, in der ich nicht gewusst hatte, wie sich Auri anfühlte.

  11. Kapitel

  In den Tagen nach dem Vorfall am Badesee bekam ich Auri nur selten zu Gesicht. Er war schon immer viel beschäftigt gewesen mit seinem Training, dem Studium, seinen anderen Freunden und den Verpflichtungen, die mit seiner Rolle als Footballspieler einhergingen. Bisher hatte er allerdings immer einen Platz für mich in seinem Tagesablauf gefunden, und sei es nur ein kurzes Gespräch im Badezimmer während des Zähneputzens gewesen.

  Seit dem Tag am See war es anders. Er ging mir aus dem Weg, verließ früh das Haus und kam erst spätabends wieder zurück, worauf er sich direkt in sein Zimmer verzog. Zwar tauschten wir leere Phrasen aus, aber das war auch schon alles. Jeder Versuch, ein tieferes Gespräch zu führen, endete in peinlicher Stille. Ich hatte das Gefühl, nicht mehr mit Auri, meinem besten Freund, zusammenzuwohnen, sondern mit Maurice, meinem Kommilitonen, in einer Zweckgemeinschaft zu leben. Und das alles nur, weil ich meinen verdammten Mund nicht hatte halten können. Ich hätte Auri Dutzende von unnützen Fakten über mich aufzählen können, die er noch nicht kannte. Er hatte keine Ahnung von dem Schokoladenvorfall, und er wusste auch nicht, dass ich einmal das Gebiss meiner Großmutter gestohlen und es unter mein Kopfkissen gelegt hatte, weil ich dachte, die Zahnfee würde mir dafür Geld bringen. Aber nein, stattdessen hatte ich diesen verfluchten Kuss während des LARPs aufbringen müssen.

  Ich war wirklich eine Idiotin und konnte es Auri nicht verdenken, dass er mir aus dem Weg ging. Vielleicht war es aber auch besser so. Etwas Abstand tat uns gut, und auf diese Weise konnte ich unsere Freundschaft nicht mit weiteren kopflosen Aussagen sabotieren. Stattdessen würden wir die Zeit getrennt voneinander nutzen, um uns auf die Art unserer Beziehung zu besinnen, die uns guttat, damit wir in ein paar Wochen mit klarem Kopf und geordneten Gefühlen gemeinsam die SciFaCon besuchen konnten.

  Um mich abzulenken, stürzte ich mich in die Arbeit im Crooked Ink und nähte wie eine Besessene an meinem Ciri-Kostüm. Ich kam gut voran, und allmählich fügten sich die Einzelteile so zusammen, dass auch für Außenstehende zu erkennen sein sollte, welche Figur ich darstellte. Meine Hose war bereits fertig, und ich hatte ein günstiges Paar Stiefel erstanden, das ich nur noch nach meinen Wünschen umgestalten musste. Ich verbrachte Stunden vor meiner Nähmaschine und mit der Heißklebepistole, wenn ich nicht gerade Secondhandläden auf der Suche nach Stücken abgraste, die ich in mein Kostüm mit einarbeiten konnte. Ein Shop erwies sich dabei als wahre Goldgrube. Ich fand dort zwei identische Herrenjacken aus dunkelbraunem Leder, die ich zu Hause zerschnitt und zu Schnallen, Gürteln und Umhängetaschen verarbeitete.

  Nebenbei versuchte ich mich mit der Serie Mindhunter anzufreunden, die mir Lucien empfohlen hatte, was dem Inhalt nach nicht verwunderlich war. Allerdings wurde ich mit der Story nicht so wirklich warm, und ich wechselte schnell wieder zu meinem gewohnten Programm.

  Ich unterbreitete Lucien auch meinen Vorschlag, einen Tag mit Amicia zu verbringen. Er reagierte zuerst zögerlich, wobei er sich weniger Sorgen um seine Schwester als um mich zu machen schien. Nachdem ich ihm mehrfach versichert hatte, dass wir gut zurechtkommen würden, stimmte er jedoch schließlich zu.

  Amicia war zuerst alles andere als begeistert von der Idee, einen Tag mit einer Bekannten ihres Bruders zu verbringen, doch ihre Vorbehalte schwanden, als ich ihr von dem Escape Room erzählte und ihr erlaubte, ihre Freundin Brooklyn einzuladen mitzukommen.

  Es war tatsächlich ziemlich cool. Wie von Auri beschrieben, wurden wir in einen Raum gesperrt, der aussah wie das Wohnzimmer einer verlassenen Villa und in dem irgendwo der Schlüssel zum Ausgang versteckt war. Wir bekamen einen Hinweis und mussten uns den Weg nach draußen durch Rätsel erarbeiteten. Immer wieder erklangen dabei schaurige Geräusche, und einmal sprang sogar ein als Geist verkleideter Kerl hinter einer doppelten Wand hervor. Nachdem wir alle vor Panik laut aufgeschrien hatten, brachen wir angesichts unserer angstverzerrten Gesichter in schallendes Gelächter aus. Nach gut zwei Stunden war der Spaß leider schon vorbei, und wir drehten gemeinsam eine Runde durch den Park, bevor ich die beiden Mädels auf eine Pizza einlud.

  Brooklyn war wirklich ein nettes Mädchen und ließ Amicia geradezu aufblühen. Ich hatte sie noch nie so fröhlich und ausgelassen erlebt. Lucien musste sich wegen ihrer Beziehung wirklich keine Sorgen machen. Die beiden waren zuckersüß zusammen und wirklich verknallt ineinander.

  Schließ
lich verabschiedete sich Brooklyn, die noch zur Chorprobe musste, und ich lud Amicia zu mir nach Hause ein, um Horrorfilme zu gucken und Lucien so noch etwas mehr Freizeit zu gönnen. Ich ließ Amicia den Film aussuchen, für den sie eigentlich noch viel zu jung war, aber ich wusste, dass Lucien sich nicht daran stören würde. Er ließ sie alles ansehen, da er davon überzeugt war, dass nichts grausamer sein konnte als der Tod ihrer Eltern.

  »Oh mein Gott, was macht er da!«, rief ich und hielt mir ein Kissen vor die Augen, als auf dem Fernsehbildschirm ein Mann versuchte, mit einem Löffel sein eigenes Auge zu entfernen. Den Geräuschen nach, die ich leider nicht ausblenden konnte, gelang es ihm auch. »Sag mir, wenn es vorbei ist.«

  Amicia lachte mich aus und griff in die Schale Popcorn, von dem ich seit den ersten fünf Minuten des Films nichts mehr gegessen hatte. »Du kannst jetzt gucken.«

  Zögerlich nahm ich das Kissen vom Gesicht, gerade als der Kerl sein eigenes Auge wie ein pochiertes Ei mit einem Messer zum Platzen brachte. »Aaaah«, brüllte ich angewidert und wandte eilig den Blick ab.

  Amicia lachte noch lauter.

  »Du bist ein böser Mensch«, ließ ich sie mit leiser Stimme wissen.

  »Tut mir leid, das musste einfach sein.«

  Ich stieß ein Brummen aus und beschloss, für den Rest des Films einfach nicht mehr hinter dem Kissen hervorzukommen. Ich konnte einiges ab, Psychohorror mochte ich von Zeit zu Zeit sogar ganz gern, aber dieser Ekelhorror war nichts für mich.

  Gerade als ich glaubte, dass es nicht mehr schlimmer werden konnte, hörte ich, wie ein Schlüssel einrastete und kurz darauf die Wohnungstür aufgeschoben wurde. Nun konnte ich nicht anders, als hinter dem Kissen hervorzublinzeln.

  Auri ließ seine Sporttasche auf den Boden fallen. Er trug ein graues Shirt mit dem Logo irgendeiner Eishockeymannschaft und schwarze Jeans, doch was wie magisch meinen Blick auf sich zog, war die Tüte aus Laureens Stoffladen in seiner linken Hand. Auri war noch nie ohne mich bei Laureen gewesen. Er wusste, wie sehr ich den Laden liebte, und hatte mich bisher immer gefragt, ob ich mitkommen wollte. Das hatte sich offenbar geändert.

  »Hey«, grüßte er etwas verklemmt, wobei ich nicht sicher war, ob seine Zurückhaltung unserem Gast oder mir galt. »Wir kennen uns noch nicht, oder? Ich bin Maurice, aber du kannst mich Auri nennen.«

  »Amicia«, stellte sich Luciens Schwester vor und schüttelte Auris Hand. »Willst du mitgucken? Der Film ist in zehn Minuten vorbei. Danach ist ein Klassiker an der Reihe. Texas Chainsaw Massacre .«

  Auri zögerte. Sein Blick zuckte zu mir, als suchte er die Antwort auf Amicias Frage in meinen Augen.

  Er würde sie nicht finden, denn ich wusste selbst nicht, was ich wollte. Einerseits wäre es mir am liebsten gewesen, dass Auri ging. Ich hatte den ganzen Tag kaum an ihn und den Zwischenfall am See gedacht. Amicia war eine super Ablenkung gewesen, und ich hatte diesen Frieden in meinen Gedanken sehr genossen. Andererseits vermisste ich Auri, und mit ihm gemeinsam einen Film zu schauen, würde ein Stück Normalität bedeuten – mit Amicia als Puffer zwischen uns.

  »Klar, warum nicht«, sagte Auri schließlich und quetschte sich neben Amicia auf die Couch, die eigentlich zu klein für drei Personen war.

  Dennoch atmete ich erleichtert auf. Denn der einzige andere freie Sitzplatz war der Sessel, und von dort aus hätten Auri und ich den ganzen Abend einen ungehinderten Blick aufeinander gehabt.

  Kaum dass der erste Film in einem blutigen Finale geendet hatte, startete Amicia Texas Chainsaw Massacre .

  Der Anfang war etwas ruhiger und kam ohne gigantische Mengen an Blut aus. Ich heftete meinen Blick auf den Fernseher, um nicht in Versuchung zu geraten, Auri aus dem Augenwinkel zu beobachten. Doch es war verdammt schwer, ihm keine Beachtung zu schenken. Er war wie ein Unwetter. Ich konnte meine Augen vor den Blitzen verschließen, aber den Donner hörte ich dennoch. Seine Anwesenheit brachte meine Haut zum Kribbeln, und ich war so sehr auf jeden Laut und jede Bewegung von ihm konzentriert, dass ich nach einer Weile feststellen musste, dass ich keine Ahnung hatte, was in dem Film vor sich ging.

  Nicht mit Auri zu sprechen, fühlte sich einfach falsch an. Unnatürlich. Als würde ich den Atem anhalten. Die ersten Sekunden waren erträglich, doch von da an wurde es schwerer und schwerer, bis es schließlich unmöglich erschien, noch einen Moment länger durchzuhalten. Der Film lief eine Stunde, als dieser Punkt für mich erreicht war. Ich konnte nicht mehr anders und löste den Blick vom Bildschirm. Meine Augen waren trocken und brannten, da ich vor Anstrengung, den Fernseher anzuschauen, kaum geblinzelt hatte.

  Ich sah an Amicia vorbei zu Auri.

  Er hatte den Ellbogen auf der Lehne abgestützt und den Kopf in die Handfläche gelegt. Sein Blick war auf den Fernseher gerichtet, aber der Ausdruck in seinen Augen wirkte abwesend. Seine Brust hob sich, als er tief einatmete und leicht den Kopf neigte. Es war nur eine kleine, zufällige Bewegung, doch sie reichte aus, um Auri bemerken zu lassen, dass ich ihn anstarrte. Er wandte sich mir zu, und sein Blick kollidierte mit meinem.

  Ein Ruck ging durch meinen Körper, und mein erster Instinkt war wegzusehen, doch etwas hielt mich davon ab. Ich schluckte. Meine Kehle war staubtrocken. Ein Gefühl so unangenehm wie Auris Blick. Schmerz und Enttäuschung spiegelten sich darin wider. Auf einmal verspürte ich das unbändige Verlangen, mich für meine Dummheit zu entschuldigen. Warum hatte ich ihm das mit den Küssen nur erzählen müssen? Nicht jede Wahrheit war dazu bestimmt, laut ausgesprochen zu werden.

  Ich ballte die Hände zusammen, bis sich meine Fingernägel in die Handflächen gruben. Es war ein zarter und dennoch willkommener Schmerz. Sekunden verstrichen, die sich in meinem Herzen wie Stunden anfühlten. Ich drohte mich in Auris Blick zu verlieren. Ich liebte das Braun seiner Augen, das aus der Ferne so gewöhnlich wirkte wie das einer Baumrinde. Doch je näher man kam, desto klarer konnte man die detaillierte Maserung und die unterschiedlichen Farbnuancen in seinen Iris erkennen.

  Ich öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber mein Verstand war wie leer gefegt. Ich konnte nur daran denken, an was für einer gefährlichen Klippe Auri und ich gerade standen. Früher hatte ich die Mädchen belächelt, die ihre Beziehungen nicht auf die Reihe bekamen, aber nun verstand ich es. Auri und ich waren nicht nur Freunde, wir waren auch Mitbewohner, und ich liebte unsere kleine WG. Jedes falsche Wort konnte aus einer unangenehmen Situation eine untragbare machen.

  »Ich …«, setzte ich an, aber der Feigling in mir riss das Ruder herum. »Ich hol mir was zu trinken. Braucht noch jemand was aus der Küche? Cola? Wasser? Chips?« Mut?

  Amicia schüttelte den Kopf, ohne vom Fernseher aufzusehen. »Nope.«

  »Für mich auch nichts«, antwortete Auri mit gepresster Stimme.

  Ich wagte es nicht, ihn noch einmal anzusehen. Wie betäubt stand ich von der Couch auf und lief in die Küche, während ich mich innerlich selbst verfluchte. Das Schlimmste war nicht meine Feigheit, sondern mein verräterisches Herz. Es trommelte wild und versuchte mich mit jedem Schlag davon zu überzeugen, dass der falsche Weg, den Auri und ich eingeschlagen hatten, womöglich doch der richtige war. Dass wir am See keinen Fehler begangen hatten.

  12. Kapitel

  »Adrian und Keith bringen Pizza mit«, verkündete Micah und stellte eine Schale mit Erdnüssen vor uns auf den Couchtisch.

  Sie trug ein breites Lächeln zur Schau, das ich nur müde erwidern konnte. Dieser Abend war dazu verurteilt, in einer Katastrophe zu enden. Als Micah mir am Vormittag geschrieben hatte, ob ich am Abend Zeit hätte, war ich davon ausgegangen, dass sie mit mir an der Albtraumlady arbeiten wollte.

  Ich hatte mich geirrt.

  Als ich fünf Minuten vorher zu ihr rübergegangen war, hatte Auri bereits bei ihr auf der Couch gesessen. Micah hatte ihn ebenfalls eingeladen – für einen gemeinsamen Spieleabend. Sie beklagte sich immer darüber, dass Julian im Praktikum zu viel arbeitete und zu wenig Spaß hatte, daher saßen wir nun zu viert in ihrem Wohnzimmer und warteten auf ihren Bruder und dessen Freund. Allerdings bezweifelte ich, dass mir der Abend viel Freude bringen würde. Auri und ich hatten noch immer nicht geredet, und ich wusste einfach
nicht, wie ich mich verhalten sollte. Das erste Mal seit Jahren fühlte ich mich in seiner Gegenwart unwohl.

  »Wie kommt ihr mit euren Kostümen voran?«, fragte Micah und setzte sich auf Julians Schoß.

  Wie von selbst wanderte seine Hand an ihre Taille, und er zog sie ein kleines Stück dichter an sich.

  »Sehr gut. Ich muss nur noch ein paar Kleinigkeiten anpassen.« Seit ich nicht mehr mit Auri redete und wir unsere Abende nicht mehr gemeinsam vor dem Fernseher verbrachten, hatte ich viel freie Zeit zur Verfügung. »Mir fehlt nur noch eine weiße Perücke, aber Lucien will mir damit helfen. Er weiß, wo man günstig die beste Qualität bekommt. Er kann dir sicherlich auch mit deiner Gamora-Perücke helfen, wenn du noch keine hast.«

  »Das wäre klasse! Ich bin auch schon fast fertig.«

  Überrascht sah ich auf. Micah hatte mich noch kein einziges Mal um Hilfe gebeten, und ich wusste aus sicherer Quelle, dass sie keine Ahnung hatte, wie eine Nähmaschine funktionierte. Bis vor einigen Monaten hatte sie nicht mal gewusst, wie man eine Waschmaschine bediente.

  »Lässt du dir das Kostüm schneidern?«

  »Sozusagen. Keith hilft mir.« Sie begann abwesend an einer von Julians Locken herumzuzupfen. »Er studiert doch Theater-Zeugs und hat irgendwann mal einen Kostümbildnerkurs belegt. Wir haben einen Deal: Er hilft mir mit meinem Cosplay, und ich bringe ihm dafür etwas Japanisch bei.«

  »Du sprichst Japanisch?«, fragte Auri überrascht.

  »Hai, mukashi wa anime daisuki datta kara saa.«

  Beeindruckt starrte ich Micah an. »Das klang so cool.«

  Sie grinste. »Wenn du willst, kann ich es dir auch beibringen.«

  »Danke, aber eine Sache nach der anderen. Lass uns erst mal an der Albtraumlady arbeiten.«

 

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