Ever – Wann immer du mich berührst
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«Jane, das ist Abbi.» Er räuspert sich. «Ich habe dir von ihr erzählt. Und ihre Freundin Willow.»
«Freut mich, euch kennenzulernen. Moment, ich mach euch nur schnell eure Drinks, dann können wir ein bisschen quatschen.»
Davids Patientin. Das ist es, was er ihr von mir erzählt hat. Jetzt weiß ich Bescheid. Es ist okay, nur habe ich es mir anders gewünscht. Aber vielleicht ist es besser so. Die Sache mit David und mir ist zu frisch, um das gleich an die große Glocke zu hängen. Außerdem weiß ich gar nicht, was genau das überhaupt zwischen uns ist. Trotzdem spüre ich Willows Blick fragend auf mir ruhen.
«Warte, ich nehme dir was ab.» David hält meine linke Gehstütze fest, damit ich das Glas annehmen kann, das seine Schwester mir reicht. Ich spüre seine andere Hand für einen Moment an meinem Rücken. Warm und sanft. Doch als Jane hinter der Theke hervorkommt und sich zu uns stellt, zieht er sie wieder weg.
«Tut mir leid, dass ihr das eben mitbekommen habt. Aber der Typ macht mich rasend. Irgendwann bringt er mich noch dazu, ihm in sein Bier zu pinkeln.»
Ich muss grinsen und spüre Davids Finger an meinem Handrücken. Als ich zu ihm hochsehe, blitzen seine Augen auf.
«Ist dieser Alex ein Stammgast?», fragt Willow.
«Leider ja. Er gibt immer Supertrinkgeld, als würde das sein Verhalten irgendwie wettmachen. Am liebsten würde ich ihm sein Geld an den Kopf werfen, aber wir können jeden Cent gebrauchen.»
Davids Gesicht verfärbt sich leicht. «So schlimm ist es auch wieder nicht.» Er knirscht mit den Zähnen.
«Oh, okay.» Ihr scheint eingefallen zu sein, dass David bei meinem Vater angestellt ist, und jetzt wird auch sie rot. Aber dann hebt sie wieder das Kinn. «Klar, wir können es uns leisten, nur die Jobs anzunehmen, die wir auch wirklich gerne und mit ganzem Herzen machen wollen, nicht wahr, Dave?»
David stöhnt, und ich verkrampfe die Finger um mein Glas.
«Und wie macht sich mein Bruder als Physiotherapeut?», will sie dann von mir wissen. «Bist du zufrieden mit ihm, oder lässt er dich den ganzen Tag mit diesem ekelhaften Gummiband arbeiten?»
Im ersten Moment will ich den Kopf schütteln, aber dann muss ich schmunzeln. «Beides. Das Gummiband ist auch nicht gerade mein Lieblingshilfsmittel.»
«Furchtbar, oder? Das Teil wollte er mir auch mal andrehen. Aber dieser Plastikgeruch.» Sie schüttelt sich demonstrativ. «Den bekommt man ewig nicht von den Händen ab. Was machst du denn sonst so? Studiert ihr beide an der UNH?» Ihr Blick schließt Willow mit ein.
«Ja, Soziologie. Noch ein Jahr bis zu meinem Bachelor», erklärt Will.
«Bei mir dauert es noch etwas länger. Ich setze gerade ein Semester aus. Wegen meines Unfalls.» Ich hebe eine der Krücken an, dann versuche ich, darüber hinwegzulächeln.
Mein Ausdruck muss wohl etwas gequält wirken, denn Jane verzieht mitfühlend das Gesicht. «Tut mir echt leid mit deinem Unfall. Aber hey, das sieht schon ziemlich gut aus, wie du das mit diesen Dingern hinbekommst. Willst du dich vielleicht lieber irgendwo hinsetzen?» Ihr Blick geht vorwurfsvoll zu ihrem Bruder.
Aber bevor David etwas erwidern kann, winke ich ab. «Danke. Es geht schon. Ich muss das sowieso üben.»
«Du hast irgendeinen wichtigen Termin, für den du wieder fit sein musst, oder? David hat so was angedeutet.»
Das «ja, leider» kann ich gerade noch unterdrücken, aber Jane scheint mir das auch so vom Gesicht ablesen zu können. Ich nicke und ergänze: «Mit meinen Eltern.»
«Ist dein Vater irgendein hohes Tier? Ein Promi? Aus meinem Bruder ist wirklich nichts rauszukriegen.»
«Jane.» David wirft ihr einen eindringlichen Blick zu. «Ich glaube, Chase will was von dir.»
Was ganz offensichtlich nicht stimmt, denn ich kann ihren Chef nirgendwo entdecken. Trotzdem bin ich froh über diese Unterbrechung, weil die Politikkarriere meines Dads nichts ist, worüber ich sprechen möchte. Auch weil David so ein Problem mit ihm hat. Jane rollt mit den Augen, und als sie sich an ihrem Bruder vorbeidrängt, zischt sie ihm noch etwas zu.
Ich beuge mich zu ihm. «Deine Schwester ist toll», flüstere ich ihm ins Ohr, weil er so unglücklich aussieht. «Ich mag sie.»
Seine Brauen gehen fragend in die Höhe. «Weil sie dieselbe Abneigung gegen Therabänder hat wie du?»
«Was denn? Das ist etwas, das einen wirklich sofort verbindet.» Obwohl ich jetzt breit grinsen muss, sieht David immer noch zweifelnd aus. «Deine Schwester ist witzig und unheimlich nett, und ich wünschte, ich hätte nur die Hälfte ihrer Schlagfertigkeit.»
Er schluckt, dann nickt er, und ich merke, wie meine Anspannung sich langsam löst. Und als Noah mit seiner Freundin zu uns kommt, kann ich mich richtig entspannen. Er erzählt uns von seinem Dad und dass einer seiner Hunde vor kurzem gestorben ist. «Wie es aussieht, haben meine Schwester und Dad im Tierheim eben einen älteren Labrador kennengelernt, mit dem Simon sich gut verstanden hat. Ivy hat mich angerufen.»
«Oh, ich dachte, Ivy ist die Freundin deines Bruders. Ich glaube, ich bin durcheinandergekommen», entschuldige ich mich.
«Das … ist auch so. Die Sache ist kompliziert.»
«So kompliziert auch wieder nicht», sagt seine Freundin Aubree. Eine zierliche junge Frau mit dunklen Haaren, die mir sofort sympathisch ist. «Ivy ist seine Stiefschwester und die Freundin seines Bruders und nebenbei bemerkt auch meine beste Freundin.» Sie nickt mir freundlich, aber entschieden zu. Sache geklärt, Thema erledigt. Dann fragt sie Willow und mich nach unserem Studium, und da ich pausiere, lasse ich lieber Willow erzählen.
Ich spüre eine Berührung an meiner Hüfte. Davids Handrücken streift mich ganz leicht, dann nimmt er den Stoff meines Kleides zwischen die Finger und hält ihn für einen Moment fest. Das ist eine so vertraute Geste, dass ich schlucken muss, und obwohl es kaum zu spüren ist, breitet sich Wärme in meinem Brustkorb aus. Ich strecke auch die Hand aus und berühre seine Jeans, fahre mit der Daumenkuppe langsam an der Außennaht entlang. Dass David den Atem anhält, merke ich einige Herzschläge später, als er die Luft wieder ausstößt.
David trinkt etwas und lacht dann über das, was Noah gesagt hat. Kurz darauf beugt er sich herab, um mir etwas ins Ohr zu flüstern, doch er lässt sich Zeit. Seine Lippen berühren meine Wange und streifen kurz mein Ohr. In meinem ganzen Körper fängt es an zu kribbeln. «Jane war eben viel aufmerksamer als ich. Sag mir Bescheid, wenn du dich lieber hinsetzen willst. Dann suche ich uns einen Platz.»
«Schon in Ordnung. Ich kann noch stehen.» Genauer gesagt will ich lieber stehen bleiben, weil ich so näher bei ihm sein kann. Als ich nach meinem auf der Theke abgestellten Glas greife, streicht mein Unterarm an Davids entlang, und das fährt wie Strom durch mich hindurch.
David beantwortet meine Berührung nur einen Moment später, indem seine Hüfte leicht gegen meine stößt. Er dreht sich zur Seite und nickt jemandem zu, dabei gleitet seine Hand an meinem Rücken nach unten, bis seine Finger für eine Sekunde meinen Oberschenkel berühren. Oh Gott, mein Puls jagt, als wären wir beide kurz davor, von einer Klippe zu springen. Er pocht mir bis in den Hals, und ich weiß nicht, wie lange ich das hier aushalten soll, ohne dass für alle sichtbar wird, wie sehr ich auf meinen Therapeuten stehe. Weil es mit den vielen Menschen sowieso viel zu eng ist, fällt es vielleicht nicht sofort auf, aber …
Ich will mit ihm allein sein. Ich habe mich sehr darauf gefreut, seine Schwester kennenzulernen, weil das ein großer Vertrauensbeweis ist, aber jetzt wäre ich lieber mit ihm allein.
Es wird langsam immer stickiger und wärmer im Raum, und mit der Zeit wird auch das lange Stehen unangenehm. Durch die vielen Leute, das Lachen und das Bier ist die Stimmung inzwischen ausgelassen. Willow singt mit Chase’ Schwester Harper, die uns eben vorgestellt wurde, leidenschaftlich Hungry Eyes aus Dirty Dancing mit, was im Hintergrund läuft. Ich würde alles dafür geben, ebenso ausgelassen zu sein, aber meine Hüfte schmerzt, weil ich mich die ganze Zeit auf mein linkes Bein stütze. Meine Hand tastet nach Davids.
«Entschuldigt mich für einen Augenblick», sage ich und kann das Stöhnen nur mühsam zurückhalten. «Ich bin gleich wiede
r da.»
Tausend Entschuldigungen murmelnd, kämpfe ich mich durch die Leute bis zur Toilette. Oh Gott, ich werde gleich wegschmelzen, so heiß ist mir. Das Kleid klebt mir geradezu auf der Haut, und zwischen meinen Brüsten spüre ich einen Schweißtropfen hinunterrinnen. In der Kabine setze ich mich nur einen Moment auf den geschlossenen Toilettendeckel, um mein Bein zu entlasten. Nach einer Weile raffe ich mich wieder auf, lasse am Waschbecken Wasser über meine Hände laufen und fahre mir mit den feuchten Fingern über meinen verschwitzten Nacken. Als ich aus der Toilette auf den schwach beleuchteten Flur trete, wartet ein Schatten auf mich. Das Licht ist schummrig, deshalb kann ich Davids Gesichtsausdruck nicht richtig erkennen, aber das ist auch nicht notwendig, weil er mich in der nächsten Sekunde gegen die Wand drängt und mir die Gehstützen aus der Hand rutschen.
Mit den Lippen sucht er meinen Mund. Sein Atem ist heiß, und ich keuche auf, als er mich mit offenem Mund, aber ohne Zunge küsst. «Hölle, Abbi, ich halte das keine Minute länger aus.»
«Weil es so warm ist?» Meine Hände schieben sich wie auf Autopilot unter seinen dünnen Pullover. Er ist genauso verschwitzt wie ich und bekommt sofort eine Gänsehaut. Seine Haut fühlt sich viel zu gut an, ich kann nicht genug davon bekommen. Mit den Fingerspitzen taste ich über die Wölbungen an seinem angespannten Bauch und schlucke trocken.
«Nein, deswegen nicht.» Er umfasst meine Hüfte, hält sie fest. «Sondern wegen dir. Aber du hast Schmerzen, oder? Das war eben nicht zu übersehen. Warum sagst du nichts, wenn es so schlimm ist?»
«Nein, es ist nicht schlimm. Ich bin nur etwas … erschöpft.»
«Dann fahre ich dich nach Hause. Ich will auch nicht länger hierbleiben, und außerdem muss ich dir etwas sagen. In Ruhe und ohne das alles hier.»
Ich nicke. «Meine Tasche ist noch in Willows Auto.»
«Okay.» Er bückt sich nach meinen Gehstützen und hebt sie auf.
«Ich sage Willow nur schnell Bescheid.»
Ich umfasse meine Gehstützen und humple zurück in den Gastraum. Als ich mir meinen Weg zur Theke erkämpft habe, wo Willow mit Aubree spricht, frage ich sie, ob sie etwas dagegen hat, wenn ich mich jetzt schon verabschiede. «David kann mich fahren, dann musst du nicht extra in die falsche Richtung.»
«Ach, hat er das angeboten?» Sie tauscht mit Aubree einen Blick.
«Nur, wenn es dir nichts ausmacht.»
«Nein, gar nicht. Ich hab mir schon gedacht, dass du nicht so lange aushältst.»
«Ja», sagt Aubree mit einem Schmunzeln. «Und wir haben uns auch ausgerechnet, dass David dich bestimmt nach Hause bringen will.»
«Genau», ergänzt Willow. «Falls du unterwegs Hilfe brauchst, ist er der richtige Mann dafür.»
«Wieso sollte ich unterwegs Hilfe brauchen? Seid ihr betrunken?»
«Nur Eistee.» Aubree legt den Kopf schief und nickt dann mitfühlend. «Das ist anstrengend für dich hier mit den Krücken, oder? Vielleicht solltest du dich im Auto direkt hinlegen.»
Mit jedem Satz wird mir heißer. «Verarscht ihr mich gerade?»
«Nein, überhaupt nicht» und «Wie kommst du denn darauf» flöten die beiden, und spätestens jetzt ist die Sache klar.
«Ich muss noch meine Tasche aus deinem Auto holen. Gibst du mir den Schlüssel?»
Willow hält ihn mir zwar unschuldig lächelnd hin, aber ich wette, die beiden werden gleich in haltloses Gelächter ausbrechen, sobald ich ihnen den Rücken zukehre.
Na, herzlichen Dank auch.
Aber schon eine Sekunde später denke ich nicht mehr darüber nach. Weil ich gleich mit David allein sein werde und weil er mit mir reden will. Ich weiß nicht, was von beidem meinen Puls mehr beschleunigt.
27. Kapitel
David
Der Typ leuchtet mir echt ins Auto, ich fass es nicht. Vor fünf Minuten hat Abbi dem Personenschützer Bescheid gegeben, dass ich heute Abend noch mal komme, um ihr etwas vorbeizubringen, trotzdem steht Steve jetzt neben meinem Auto und leuchtet mir mit einer Taschenlampe ins Gesicht und über den Beifahrersitz. Er kennt mich, sieht mich jeden gottverdammten Tag. Das hier ist einfach nur beschissenes Machtgehabe. Völlig überflüssig, würde ich meinen. Und wenn Abbi nicht auf der Rückbank läge, wäre es mir völlig egal.
Sie hat sich eine Decke über den Kopf gezogen, die Krücken sind unauffällig im Fußraum verstaut. Es ist lächerlich, dass sie sich als erwachsene Frau verstecken muss. Ein Grund mehr, warum ich niemals einen Job haben möchte, bei dem man in der Öffentlichkeit steht. Ein Grund mehr, Hayden zu verfluchen, weil er seiner Tochter so was zumutet. «Alles okay?», flüstere ich, als Steve endlich die Taschenlampe sinken lässt und zurücktritt.
«Ja», kommt es dumpf unter der Decke hervor. «Abgesehen davon, dass ich mich fühle, als würde ich irgendwas Illegales machen.» Als ich einen raschen Blick in den Rückspiegel werfe, der auf die Rückbank ausgerichtet ist, zieht sie die Decke ein Stück von ihrem Gesicht. «Oh David, können wir bitte etwas Verbotenes machen, damit sich das Ganze auch lohnt?» Mit einem Seufzen zieht sie sich die Decke wieder über das Gesicht.
Steve macht keine Anstalten, das Tor für mich zu öffnen, deshalb lasse ich den Motor laufen und steige aus, um es selbst zu tun. «Ich schätze, Steve kann mich nicht leiden», sage ich, als ich wieder im Auto sitze.
«Na ja, er war früher bei den Marines», erklärt Abbi. «Mein Dad hat mir erzählt, dass er in Afghanistan und Bahrain gekämpft hat. Jetzt den Babysitter für die Tochter eines Kongressabgeordneten zu spielen, muss ihm ziemlich lächerlich vorkommen.»
«Möglich. Er könnte aber auch froh sein, dass er jetzt einen weniger gefährlichen Job hat.» Ich fahre bis vor das Haus und am Eingang vorbei, um den Wagen auf dem Fleckchen Kies zu parken, das nicht beleuchtet wird. «Wie machen wir das jetzt? Ich gehe ins Haus und sperre die Terrassentür für dich auf, damit du dich von hinten reinschleichen kannst? Und nachher inszenieren wir einen Abschied an der offenen Haustür?»
Garantiert kann Abbi an meiner Stimme hören, wie absurd und scheiße ich das alles finde. Dabei würde ich viel lieber diesen Moment genießen. Denn das macht mir wirklich zu schaffen. Das hier ist der letzte Moment, den wir haben. Der letzte Moment, in dem sie noch nicht weiß, dass Jane ihre Halbschwester ist. Der letzte Moment, bevor ich ihr die Wahrheit über ihren Dad sagen werde. Womöglich auch der letzte Moment, in dem sie mich noch nicht hassen wird.
Oder ich könnte einfach so tun, als wäre das alles hier normal, und sie die ganze Nacht lieben. Das würde ich deutlich dem anderen Szenario vorziehen, in dem ich hoffen muss, dass die Handgranate doch nicht explodiert, obwohl ich sie schon fallen gelassen habe.
«Du könntest auch einfach ganz normal aus dem Auto steigen», sage ich schroff. «Scheiß auf Steve, scheiß auf die beschissenen Anweisungen deiner Eltern, Abbi.»
Sie richtet sich auf. «Aber ich will nicht, dass du deswegen Probleme bekommst.»
Morgen wird eh alles anders sein, da spielt so eine Kleinigkeit jetzt wirklich keine Rolle mehr. «Tu, was für dich richtig ist», erwidere ich. «Nicht für deine Eltern. Oder für mich.» Denk nicht an mich, denk nicht an den Typen, der dich seit Wochen belügt.
Für einen Moment sieht sie mich unschlüssig an, dann nickt sie. Sie tastet im Fußraum nach ihren Krücken und stößt die Tür auf. Ich steige sofort aus, um ihr zu helfen, aber sie ist schneller. Mit dem Ellbogen drückt sie die Autotür zu und geht zur Haustür. Ich kann das Fernglas förmlich in meinem Nacken spüren und frage mich, wie schnell ihr Dad den Anruf von seinem Sicherheitsdienst bekommen wird.
«Du hast das Licht angelassen», sage ich, als Abbi aufschließt.
«Weil ich es nie lösche, wenn ich allein bin. Es wäre auffällig gewesen, wenn ich es heute gemacht hätte.»
«Hast du Angst im Dunkeln?»
Abbi lässt mich vorgehen und schließt die Tür hinter uns. «Nein.» Sie zieht eine Grimasse. «Na ja, vielleicht ein bisschen. Meine Eltern sind ständig über Nacht weg. Es ist ein altes Haus, und es knarzt wirklich überall. Ich weiß nicht warum, aber im Dunkeln ist es noch viel lauter.»
«Macht es dir eigentlich gar nicht
s aus, so viel allein zu sein?»
«Ich verstehe, dass es nötig ist. Als Politiker braucht mein Vater eine gute Infrastruktur und eine solide Spendenbasis. Die Partei investiert in ihn, also muss er auch in sich investieren. Das ist mit viel Zeit verbunden. Und damit man ihn auch außerhalb von New Hampshire kennt, knüpft er überall Kontakte und muss eben … na ja, überall sein.»
«Man kennt deinen Dad außerhalb von New Hampshire schon ziemlich gut, würde ich meinen.» Ich sollte einfach die Klappe halten. «Aber du hast meine Frage nicht beantwortet. Macht es dir nichts aus?»
«Doch. Natürlich. Es ist manchmal einsam.»
Sie stützt sich auf ihre Krücken und geht durch die Halle, und mich macht es fertig, dass sie das einfach so sagt, als würde es nichts bedeuten. Denn das tut es. Es bedeutet alles.
Was mache ich hier eigentlich? Habe ich wirklich gedacht, ich bringe Abbi nach Hause, sag ihr die Wahrheit, gucke zu, wie sie zusammenbricht, und dann fahre ich in unsere kleine Wohnung zurück und mache mit meiner Schwester weiter? Oder wollte ich es doch noch vor mir herschieben? Einfach mit Abbi hoch in ihr Zimmer gehen, um sie auf ihrem Riesenbett unter den gezeichneten Palmen zu lieben, als gäb’s kein Morgen?
Dieser Job, die ganzen Lügen, ihr Dad – das ist alles ein Albtraum. Aber diese Zeit allein mit Abbi ist das genaue Gegenteil. Abbi ist ein Traum, der nie wahr werden wird. Und ich bringe es einfach nicht fertig, das jetzt schon aufzugeben. Doch was ist mit Mom? Auch sie hatte vielleicht irgendwann mal solche Träume, nur weiß ich nichts darüber. Weil sie nie darüber gesprochen hat. Sie hat immer nur an uns gedacht, und als wir beide, Jane und ich, so weit erwachsen waren, dass sie sich um uns nicht mehr sorgen musste, und sie endlich die letzte Rate von diesem verfluchten Kredit abbezahlt hatte, da war sie plötzlich tot. Sie hätte jetzt endlich leben können, und damit komme ich nicht klar.
Ich kann diesen Moment mit Abbi nicht genießen, weil er nur eine Illusion ist. Das ist nicht das reale Leben. Das reale Leben der Familie Rivers waren Rechnungen, ein leerer Kühlschrank und ein heulendes, krankes Kleinkind, das nicht das verfickte Spielzeug bekommt, das es haben will, und stattdessen mit ein paar Papiertieren bei Laune gehalten wird. Das reale Leben ist eine Ohrfeige, die man bekommt, weil man es verdient hat. Das reale Leben ist ein geplatztes Trommelfell und geplatzte Träume. Es sind Schmerzen und Taubheit. Und Verantwortung. Für die eigenen Kinder oder die kleine Schwester.