Ever – Wann immer du mich berührst
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Mein Leben ist immer ein «Pass auf deine kleine Schwester auf» und ein «Ich verlasse mich auf dich» gewesen. Mein Leben ist ein «Fahr mit Jane zum Arzt, ich muss arbeiten» und ein «Hier ist etwas Geld, David, kümmere dich um den Wochenendeinkauf». Mein Leben ist ein «Du bist vier Jahre älter, also musst du vernünftig sein».
Manchmal habe ich Jane zum Teufel gewünscht, weil ich einmal nicht der Vernünftige von uns beiden sein wollte. Weil ich auch mal Scheiße bauen und für nichts die Verantwortung tragen wollte außer für mich selbst. Manchmal habe ich Mom für diese Worte gehasst. Und jetzt wird mir klar, dass ich ihr nicht verzeihen kann. Weil sie sich einfach so davongemacht und mich mit allem zurückgelassen hat. Was ist mit meinem Leben?
Ganz sicher ist es nicht das hier. Nicht dieses Haus und noch viel weniger dieser geheime Garten mit der rätselhaften Frauenstatue, dem kleinen Wasserfall und dem Stück Wiese hinter der Steinbank, auf der Abbi für mich gestöhnt hat. Mein Leben ist nichts davon.
Aber ich wünschte, es wäre so.
Bei Gott, ich wünschte, es wäre genau das hier. Mit Abbi einfach die Treppen hochzugehen und nichts davon bereuen zu müssen.
«David?»
Auf einmal nehme ich wahr, dass Abbi direkt vor mir steht. Sie muss mich schon mehrmals angesprochen haben, denn ihr Blick ist besorgt. Nun fasst sie nach meinem Arm. «Du siehst aus, als würdest du am liebsten weglaufen.»
Langsam schüttele ich den Kopf. «Ich laufe nie vor irgendwas weg.» Augen zu und durch, so habe ich das immer gemacht, egal wie schmerzhaft oder schwierig es war. Weil alles andere sinnlos ist.
«So meinte ich das auch nicht. Was ist los? Du bist so nachdenklich.»
Ich schüttele meine Gedanken ab und bemühe mich, zu lächeln. «Gar nichts, alles okay.»
«Mein Dad hat mir eine Nachricht geschickt.» Sie aktiviert ihr Smartphone, öffnet die Nachrichten-App und tippt ein Bild an, um es mir in voller Bildschirmdiagonale zu zeigen. Auf dem Foto ist zu sehen, wie wir beide vom Auto zur Haustür gehen. Und darunter steht nur eine Frage: Wo warst du?
Also hat Steve echt keine Zeit verloren.
«Was soll ich ihm antworten?»
Fuck, ich habe es so satt, immer alles richtig zu machen. Immer vernünftig zu sein. Immer der nette anständige Junge zu sein, der alles runterschluckt. Ich nehme ihr das Handy ab, tippe eine Antwort, schicke sie aber nicht ab, sondern reiche ihr das Handy mit noch blinkendem Cursor zurück.
Abbi liest die Nachricht. Ihr Kopf schießt wieder hoch zu mir, dann beißt sie sich auf die Lippe. Sie sollte den Text löschen, aber verdammt, sie guckt mich viel zu vertrauensvoll an. So als würde sie mir ihr Herz und ihr Leben, ohne zu zögern, in die Hand legen. Eine Sekunde später tippt ihr Daumen auf Absenden.
Mir fällt alles aus dem Gesicht.
Heilige Scheiße, ich hätte nie gedacht, dass sie das macht.
Abbi: Das geht dich einen Scheißdreck an, Dad. Ich bin erwachsen und kann selbst entscheiden, was ich will. Meine Entscheidungen können niemals so beschissen sein wie deine.
28. Kapitel
David
Abbi hat die Nachricht abgeschickt. Einfach so. Ohne auch nur ein Wort zu ändern oder mich danach zu fragen, was sie überhaupt bedeutet.
Sie hat sie wirklich abgeschickt. An ihren Dad. An William Hayden, unseren zukünftigen Gouverneur. Ich will auflachen und kann gleichzeitig vor Entsetzen keinen Laut mehr rausbringen, aber weil beides zusammen nicht geht, bleibe ich irgendwo dazwischen stecken. «Du hast sie abgeschickt. Abbi», sage ich schwach, weil ich es immer noch nicht in meinen Schädel kriege. «Bist du irre?»
Sie grinst so süß, dass es bis in meinen Magen zieht, und schweigt.
«Ich meine, du hättest es auch einfach nur als Vorlage nehmen können, um es mit deinen Worten irgendwie … anzupassen.»
«Ich fand es gut so. Klang ehrlich.»
«Aber du hast mich nicht mal gefragt, warum.» Mit beiden Händen fahre ich mir übers Gesicht, weil sie damit gerade jede Sicherheitsleine durchtrennt hat. Jetzt muss ich es ihr sagen, und damit ist alles aus. Damit verliere ich diesen Job, die Kohle, die ich unbedingt brauche, und ich verliere Abbi.
Sie dreht sich zur Treppe und hebt beide Krücken auf die erste Stufe, um sich hochzubewegen. «Kommst du?», fragt sie über ihre Schulter.
Ihre Frage klingt nach so viel mehr. Sie klingt nach Vertrauen, das ich nicht verdiene. Ich will es. Ich will dich. Ich will dich jetzt. Ich will dich, auch wenn ich nicht alles von dir weiß.
«Halt deine Krücken fest.» Ich hebe sie auf meine Arme und trage sie die Treppe hoch. Nicht damit es schneller geht, ich habe es nicht eilig, mir mein eigenes Grab zu schaufeln, sondern einfach nur, weil ich ihr ein letztes Mal so nah sein will.
Als wir in ihrem Zimmer angekommen sind, fällt die Tür hinter uns ins Schloss, und ich setze sie sanft ab.
«Tu das nicht», sage ich schnell, als sie die Krücken zur Seite legt und Anstalten macht, ihr Kleid aufzuknöpfen.
«Warum nicht?»
Weil ich das nicht kann. Ich kann nicht mit dir schlafen. «Tu es einfach nicht, okay?»
Abbi lässt die Arme sinken, aber sie ballt die Hände zu Fäusten, ist am ganzen Körper angespannt. Ich komme näher. Ihr Kleid ist hochgeschlossen, es hat einen kleinen Stehkragen mit einem einzigen Knopf am Hals. Darunter kommt fast zwanzig Zentimeter nichts, was bedeutet, dass ich von der Seite durch den Spalt ihre nackte Haut sehen kann. Nicht nötig, sich auszuziehen, um das Blut durch meine Adern zu jagen. Verdammt, ich kann nicht widerstehen. Mit dem Zeigefinger fahre ich unterhalb des Knopfes zwischen den Stoff und gleite nach unten. Wobei ich mehr Stoff berühre als Abbi und sie nur mit dem Knöchel streife, trotzdem hält sie die Luft an und lässt sie nur langsam wieder entweichen. Ich liebe es, aber Hölle, ich muss sofort damit aufhören!
Nur dass ich es nicht kann. Aufhören ist genauso unmöglich wie weitermachen. Abbi streckt ihre Hand aus und fährt mit den Fingerspitzen über den Kragen meines Pullovers. Sie kommt mir näher, und weil ich zurückweiche, stoße ich irgendwann an ihr Bett. Ich weiß, dass jede weitere Berührung, die ich zulasse, nur falsch sein kann. Trotzdem setze ich mich auf das Bett und lasse mich fallen, starre zur Wand, wo die Farne über uns hinausragen. Und dabei versuche ich, an nichts zu denken. An nichts, das mich dazu bringen könnte, an dieser Stelle abzubrechen. Aber das funktioniert nicht.
Im nächsten Moment senkt sich die Matratze, als Abbi zu mir aufs Bett klettert. Dann ist sie über mir. Sie schiebt ihre Hände unter meinen Pullover, senkt den Kopf, um ihre Lippen über meinen Bauch wandern zu lassen. Feucht und warm. Und als ihr Atem dann diese nasse Spur trifft, bekomme ich eine brutale Gänsehaut. Sie schiebt meinen Pullover höher, hakt ihre Finger in den Bund meiner Jeans ein, lässt sie ganz langsam an der gesamten Breite entlangstreifen, und ich bin jetzt schon steinhart. Ich stelle mir vor, wie sie ihr Kleid ein Stück hochzieht und sich auf mich setzt, was ich auf keinen Fall zulassen kann.
Ich werde nie wieder mit ihr zusammen sein. Ich schlucke, weil Abbi mich so vertrauensvoll anlächelt. Etwas an diesem Lächeln zerstört mich. Aber etwas daran bringt mich auch dazu, alle Gedanken aus meinem Kopf zu zwingen. Und dann strecke ich eine Hand nach ihr aus, schiebe sie in den Schlitz unterhalb des Knopfes an ihrem Kragen, umfasse ihre Brust, reibe über die harte Spitze, richte mich auf, küsse sie durch den Stoff, bevor ich den Knopf löse und mein Blick auf ihre schwarze Unterwäsche fällt. Abbi lässt sich zurückfallen, und wahrscheinlich bin ich das letzte Arschloch, weil ich jetzt sofort mein Gesicht an ihren Schoß dränge und sie damit zum Stöhnen bringe. Mit beiden Händen schiebe ich ihr Kleid hoch, senke meine Lippen auf ihren Slip, atme ihren Duft ein und lasse meine Zunge über den dünnen Stoff gleiten.
Lügner, sagt die Stimme in meinem Kopf. Lügner. Lügner. Lügner.
Ich fasse unter den Bund ihres Slips und ziehe ihn nach unten. Fuck, David, hör sofort auf!
Aber dann gewinnt die Schwerkraft, die mich immer zu Abbi hinzieht, und alles, was durch meinen Kopf rast, alles, was dagegenspricht, ist vergessen. Weil ich mich nicht zurückhalten kann,
weil ich sie für mich will. Ich liebe sie. Ich liebe sie mit dem Mund, mit meiner Zunge, dringe mit zwei Fingern in sie ein. Abbi stöhnt meinen Namen, was mit Abstand die beste Art ist, ihn zu sagen. Sie krallt sich in meinem Haar fest, zieht mich zwischen ihren Beinen nach oben. Gott, wie gern würde ich jetzt in sie sinken. Aber das geht nicht, weil ich nichts zum Schutz dabeihabe. Und noch viel mehr, weil ich sie betrüge. Aber verdammt, ihre Hände fühlen sich so gut an. Ich schließe die Augen, als sie sich über mich beugt, mit ihrem Mund erst meinen Brustkorb und dann meinen Bauch liebkost. Gebe nach, als sie meine Hose runterzieht.
Ich hoffe, sie hört nie wieder damit auf. Scheiße, nein, ich hoffe, sie hört sofort damit auf, berichtige ich mich, als sie plötzlich meinen Penis umfasst und ich ihren Atem spüre. Langsam gleitet ihre Zunge an mir nach oben. Hölle, hat sie heimlich meinen Wunschzettel gelesen? Und noch mal Hölle, wie heiß ist bitte ihr Atem?
Ich halte ihre Schultern fest, als sie die Zunge um meine Eichel kreisen lässt, fasse in ihr Haar, das mich am Oberschenkel kitzelt, und stöhne dunkel auf, weil ich es verdammt noch mal nicht aushalte.
Manchmal ist es gar nicht gut, wenn Santa deine Wünsche erfüllt, weil … fuck, als Abbi ihn das erste Mal ganz in den Mund nimmt, bin ich bereits kurz davor zu kommen. «Abbi», keuche ich auf und versuche, mich zurückzuziehen. Aber weil es sich so unfassbar gut anfühlt, lasse ich zu, dass sie weitermacht, und genieße die Hitze in ihrem Mund. Genieße ihre Zunge, und wie eng sich ihre Lippen um mich schließen und sie gleichzeitig ihre Hände mit genau dem richtigen Druck und mit einer Drehung an mir hoch und runter bewegt. Und als sie dann auch noch diese eine bestimmte Stelle unterhalb meiner Hoden drückt, deren Name mir jetzt wahrscheinlich nie wieder einfallen wird, ist es zu viel. «Abbi … stopp … jetzt …» Ich kann das nicht. Ich kann das einfach nicht.
Mit einem Stöhnen ziehe ich sie an mir hoch, presse meinen Mund auf ihre Schläfe. «Sorry», keuche ich atemlos. «Tut mir leid, dass ich … so ein Idiot bin.» Ich brauche einen Moment, um wieder ruhig atmen zu können, weil ich immer noch ihre Lippen auf mir spüren kann und mich von diesem Gefühl schnellstmöglich verabschieden muss.
«Es ist okay. Ich dachte nur, dass du vielleicht … Nein, es ist okay», verbessert sie sich. Ihre Hand streichelt meine Schulter. Sie fragt nicht, was mit mir los ist oder warum ich sie unterbrochen habe, sondern hält mich nur fest. Keine Ahnung, wie lange wir so daliegen, ohne etwas zu sagen, aber irgendwann muss ich endlich damit anfangen.
«Abbi?»
Sie räuspert sich und berührt mit den Fingerspitzen mein Ohr. «Wirst du mir jetzt erzählen, wie es passiert ist?»
Es ist klar, was sie meint. Und nein, auf keinen Fall, will ich sofort sagen, aber das ist nicht richtig. Vielleicht kann sie mich besser verstehen, wenn sie alles weiß. Wenn sie genau weiß, was damals passiert ist.
Während ich immer noch nach Worten suche, fragt sie: «War das dein Dad? Hat er dich geschlagen?»
«Nein.» Am liebsten würde ich die Augen schließen, aber weil es ziemlich dunkel ist und sowieso nur wenig Licht von der Einfahrt zu uns hochdringt, kann ich das auch gleich lassen. «Meine Mom.»
Keine Ahnung, ob sie das schockiert, aber sie hält für einen Moment den Atem an. Würde es das Ganze besser machen, wenn es mein Vater gewesen wäre? Nein. Wäre es weniger schockierend, weil wir daran eher gewöhnt sind? Wahrscheinlich. Und wie scheiße ist das eigentlich, dass wir das fast achselzuckend hinnehmen, wenn es ein Mann macht? Wie scheiße ist es, dass man das eher von einem Mann erwartet? Man sollte das von niemandem erwarten.
«Aber du warst erst neun.»
Ja. Ein Neunjähriger, der etwas sehr Dummes gesagt hat.
«Ich schätze, meine Mutter war einfach überfordert», erwidere ich. Was stimmt, es aber nicht rechtfertigt, das weiß ich selbst. «Jane hatte als Kind Leukämie.»
«Oh Gott …»
«Jetzt ist alles okay. Sie ist vollkommen gesund, du hast sie ja erlebt.» Ich ziehe unwillkürlich einen Mundwinkel nach oben. «Aber mit fünf war sie wirklich krank. Sie hätte einen Knochenmarkspender gebrauchen können, aber weder meine Mutter noch mein Vater waren kompatibel. Dabei ist rausgekommen, dass mein Vater nicht Janes Vater ist.» Wie nah ich jetzt schon der Wahrheit komme, zwängt mir direkt die Kehle zusammen. Wie soll ich es ihr sagen? Wie?
«Dein Dad … er hat das vorher nicht gewusst?»
«Er hatte keine Ahnung, dass meine Mom fremdgegangen war. Sie hat ihn in dem Glauben gelassen, Jane wäre von ihm. Wahrscheinlich wüsste er es bis heute nicht, wenn sie nicht krank geworden wäre.»
Abbi sagt darauf nichts, aber sie schlingt den Arm fester um mich, was ich kaum ertragen kann. Scheiße, Scheiße, Scheiße. Konzentrier dich, David! Sag einfach, wie es war!
Ich schlucke meine Angst runter und zwinge mich dazu weiterzureden. «Mein Vater kam damit nicht klar. Er hat es versucht, aber er und Mom haben sich nur noch gestritten. Am Anfang hat er uns noch finanziell unterstützt, aber mit der Zeit … Er hat uns immer seltener besucht, und Jane wollte er gar nicht mehr um sich haben. Dann hat er eine neue Frau kennengelernt, die geschieden war und auch schon zwei Kinder hatte. Es ist bescheuert, aber offensichtlich war es leichter für ihn, sich um diese zwei Kinder zu kümmern, als um seine eigenen.»
«Das tut mir leid, David.»
«Es ist okay. Ich habe inzwischen kapiert, dass er damit sich selbst gegenüber nicht eingestehen musste, als Vater gescheitert zu sein. Wahrscheinlich redet er sich sogar ein, dass es besser für uns gewesen ist, und hält sich für einen Helden, der großzügig auf seine Kinder verzichtet hat. Oder er wollte nur meine Mutter bestrafen und hat nicht gemerkt, dass er eigentlich uns bestraft. Ich habe keine Ahnung. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie die beiden miteinander umgegangen sind, aber meine Mom hat eigentlich nie schlecht über ihn geredet.»
«Hast du noch Kontakt zu ihm?»
Ich verziehe den Mund. «Er schickt mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte.»
Ihre Finger kreisen langsam über meinem Rücken. «Ich weiß gar nicht, wie deine Mom heißt.»
«Rachel. Sie hieß Rachel.» Ich kämpfe gegen den Reflex an, einfach aus dem Bett zu springen. Jetzt würde ich doch am liebsten weglaufen, aber Abbi verdient mehr als einen Feigling und Lügner. «Willst du ein Foto von ihr sehen?»
«Ja, gerne.»
Über den Bettrand hangle ich nach meinen Jeans. In meine Geldbörse habe ich die drei Fotos gepackt, die sonst in meinem Spind in der Klinik kleben, und jetzt ziehe ich das eine heraus, auf dem nur meine Mom zu sehen ist. Es ist ein knappes Jahr alt, sie trägt das T-Shirt von Chase’ Diner und hat sich ein paar Menükarten unter den Arm geklemmt.
Abbi schluckt. «Deine Schwester sieht ihr so ähnlich. Sie war wirklich hübsch. Man schaut ihr gern in die Augen.» Sie gibt mir das Foto zurück. «Ist dein Vater zur Beerdigung gekommen?»
«Er war da, ja. Aber er hat damit nur eine moralische Pflicht erfüllt, schätze ich. Ich glaube nicht, dass er denkt, einer von uns würde ihn jetzt noch brauchen.»
«Brauchst du ihn denn?»
«Ich habe damit abgeschlossen.»
Sie seufzt leise. Wahrscheinlich glaubt sie mir kein Wort. Kann ich ihr nicht mal verübeln, ich glaube mir das selbst auch nicht. «Nach der Trennung war ich verdammt wütend auf meine Mom. Ich habe ihr die Schuld an allem gegeben. Daran, dass Jane krank geworden ist und dass mein Vater uns verlassen hat. Irgendwann bei Janes viertem, oder vielleicht war es auch der fünfte, Krankenhausaufenthalt bin ich ausgeflippt und habe im Wartezimmer einen Stuhl umgeworfen und sie angebrüllt, dass mir Jane egal ist, dass ich mir sogar wünschte, sie wäre tot, weil ich dann endlich wieder mit meinen Kumpels spielen könnte und nicht mehr im Krankenhaus rumhängen müsste. Da hat sie mir eine geknallt, ich habe angefangen zu heulen und sie gleich mit mir. Dabei hat sie sich ungefähr eine Million Mal entschuldigt.»
«Aber dein Trommelfell ist geplatzt, du musst doch Schmerzen gehabt haben. Vor allem, als es sich entzündet hat. Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie schlimm das gewesen sein muss. Hat sie dich nicht untersuchen lassen?»
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sp; «Wenn sie es gewusst hätte, hätte sie das natürlich gemacht. Aber ich habe ihr nie gesagt, dass es immer noch weh tut. Tagsüber habe ich das ganz gut ausgehalten, nur nachts war es schlimm. Nachts ist alles schlimmer. Ich habe so gut wie nie durchgeschlafen, war am nächsten Tag aggressiv und habe meine Lehrer provoziert. Erst als meine Mutter mit mir zur Schulpsychologin gegangen ist, hat die herausgefunden, dass ich auf meinem linken Ohr kaum noch was höre, weil es total vernarbt ist.»
«Aber warum nicht? Warum hast du nichts gesagt?»
«Weil ich mich so geschämt habe, Abbi. Weil ich das alles bereut habe. Wie selbstsüchtig ist es, dass ich meine kleine Schwester am liebsten weghaben wollte, wenn auch nur für einen Moment?»
Ich hasse es, wie mitleidig sie mich jetzt ansieht. «Du warst neun, David! Da ist es doch verständlich, dass man auch mal böse Gedanken hat, wenn man immer zurückstecken muss.»
Darauf antworte ich nicht. «Meine Mom hatte damals nicht mal Freunde, die ihr hätten helfen können. Sie hatte echt genug um die Ohren mit einem schwerkranken Kind und dem Drama, dass ihre Ehe darüber in die Brüche gegangen ist, da konnte sie den Scheiß mit mir wirklich nicht gebrauchen.»
«Ich wünschte, sie wäre mit dir zum Arzt gegangen. Sie hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmt.»
«Abbi», sage ich schwer atmend und rücke von ihr ab. «Sie hat es jeden gottverdammten Tag bereut, nachdem sie es herausgefunden hat. Genauso, wie ich jeden gottverdammten Tag bereut habe, was ich über Jane gesagt habe. Was glaubst du, woher ich dieses superteure Hörgerät habe? Das hat meine Mutter gekauft, und das war nicht das erste. Sie hat sich den Arsch für uns aufgerissen. Für Jane und auch für mich. Es sind nicht alle so privilegiert wie in deiner Familie.» Klasse, David, du bist ein echter Held. Die Bemerkung kann sie jetzt bestimmt gut gebrauchen.